Das Bettzeug war stärker

Witwentröster Marc Wortmann erobert die Herzen der stolzesten Frauen

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sie sind doch sonst immer ein Familienmensch gewesen", sagt Jan zur Witwe Stockhusen, "Ihr Sohn sagt, sie waren immer von Familie umgeben. Er sagt, Sie haben Ihre Eltern bis zum Tod bei sich gehabt. Und dann Ihren Bruder. Und dann hat Ihr Sohn Sie zu sich geholt."

Witwen leben länger, und während sie früher in der Familie gut aufgehoben waren, bei den Kindern und Kindeskindern, während sie mit durchgefüttert wurden und oft auch noch Sinnvolles zum Auskommen beisteuern konnten, leben sie heute abgeschoben im Altersheim und verdämmern ihren Lebensabend.

Jan Oltrogge, der Ich-Erzähler von Marc Wortmanns Debüt-Roman, ist für 20 Monate Zivildienstleistender in einem Altenheim und mit seinen Aufgaben ziemlich überfordert. Von Sabine (der mit dem Kasernenhofton) angelernt zu werden, ist wie ein Sprung ins kalte Wasser. Das größte Übel aber ist der Gestank, der von den Witwen ausgeht, ein Odeur aus dunklen, verschmierten Laken, nassen Nachthemden und "verborgener Lust", das den Witwentröster schon morgens erwartet. Dann sind im Akkord die Witwen zum Klo zu führen und zu waschen, die Betten neu zu überziehen, dann ist das Frühstück zu bereiten und die Medikamentation zu überwachen.

Zuviel für einen Abiturienten, der vor allem der Bundeswehr entkommen wollte, und der jetzt seine "Grundausbildung" von Schwester Sabine bekommt, die im wesentlichen aus dem Einüben und Optimieren standardisierter Handlungen besteht: "Der junge Mann hat gekämpft wie ein Löwe. Aber das Bettzeug war stärker." Im Wörterbuch muss er erst einmal nachschlagen, wen er da eigentlich betreut: "Witwe", lateinisch "Vidua", "die ihres Mannes Beraubte", indogeranisch "uidheua", zu "uidh", "leer werden", "Mangel haben". Folglich ist der Witwentröster einer, der versucht, den Mangel zu beheben und den frei gewordenen Platz einzunehmen. Eine anspruchsvolle Aufgabe, wenn man eine ganze Batterie von Witwen zu versorgen hat und seine Aufgabe ernst nimmt. Es überrascht nicht, dass Jan anfangs überfordert ist, dass er mit seinen Aufgaben nicht zeitgerecht klar kommt und die anderen Pflegekräfte ihm unter die Arme greifen müssen.

"Witwentröster ist ein Beruf, in dem man immer ein Anfänger bleibt", weil jede Witwe andere Anforderungen stellt. Anfangs erfährt es Jan als großes Übel, dass er mit den Witwen nichts reden kann: Sie erinnern sich an nichts oder wollen sich an nichts erinnern, sondern spulen Tag für Tag dasselbe Programm ab. Es sind - scheinbar - Frauen ohne Geschichte, deren Leben sich auf ein dürftiges Aufnehmen und Ausscheiden reduziert. Manche kommandieren den Witwentröster herum, so wie sie mutmaßlich ihren Mann und ihre Kinder herumkommandiert haben. Dreht man den Spieß um, so verschließen sie sich in ihren Erinnerungen.

Erst allmählich lernt Jan, wie man Witwentröster wird, wie mit Frauen umzugehen ist, die sich gegen das "Getröstetwerden" wehren, die sich hinter ihrem Alter, ihrer Einsamkeit und ihren Gebrechen verschanzt und längst alle Hoffnungen auf einen würdigen Tod begraben haben. Jan will die Witwen sprechen machen, will sie beschäftigen und "zur Wahrheit" führen, notfalls gegen ihren Widerstand - und Witwen sind hartnäckig: "Eines haben sie bereits bewiesen: dass sie überleben können. Kaum eine Witwe war unter 80 Jahre alt, und ihre Männer waren teils seit vierzig Jahren tot."

Der dargestellte Zeitraum reicht vom Oktober 1985 bis zum Mai 1987, viele Witwen dürften ihre Männer also noch in den Kriegsjahren verloren haben. Als Trümmerfrauen haben sie nach Kriegsende die Hauptlast des Wiederaufbaus getragen, haben allein die Kinder großgezogen und sind ihnen jetzt lästig geworden. Der dargestellte Pflegenotstand ist Ergebnis einer modernen Abschiebepraxis. Die Handlungszeit liegt zwar lange vor der Einführung der Pflegeversicherung und der derzeitigen Krise der sozialen Sicherungssysteme, dennoch aber ist der große, allumfassende Mangel schon hier deutlich spürbar.

Jan ist der einzige Mann unter den 'Schwestern' der Luisenstiftung in Hamburg-Altona, und auch die haben ihre private Geschichten. Therese beispielsweise ist nach der Scheidung von ihrem Mann Stationsleiterin geworden: "Ich habe lange genug ein Haus und zwei Kinder gehabt", gesteht sie: "Jetzt lebe ich wieder, wie ich als Schwesternschülerin gelebt habe. Mein Zimmer ist fast genauso wie damals mein Zimmer im Schwesternwohnheim. Und ich genieße es. Ich fühle mich wieder jung." Mit 57 sagt sie das, und ausgerechnet ihre Kinder werfen ihr vor, selbstsüchtig zu sein: "Sie finden, ich sollte lieber ihren Vater ertragen, als mich hier mit alten Frauen zu vergnügen."

Die einen bringen ihre Mütter ins Heim, die anderen kommen freiwillig, um hier eine Aufgabe zu finden. Beiden wird Egoismus vorgeworfen, auch wenn es nur ein anders nicht zu behebender Mangel war, der sie leitete. Der Sohn der Witwe Stockhusen erzählt, weshalb seine Mutter ins Seniorenstift kam. Ein Lipom, eine Fettgeschwulst im Gesicht, ganz harmlos eigentlich, war die Ursache: "'Mutti, du musst etwas unternehmen!', sagten wir. Aber sie schwieg einfach. Das macht sie ja immer. Man redet und bittet und bettelt, und sie antwortet nicht. Und das Geschwür wucherte weiter. Als wenn es sich langsam aufblasen würde. Meine Frau ist ganz krank davon geworden. Sie hatte keinen Appetit mehr. Sie stocherte auf ihrem Teller herum und mochte meine Mutter kaum ansehen. Sie hat sechzehn Kilo verloren. Deshalb musste Mutti hierher."

Die Alten haben schlimme Zeiten erlebt, doch die schlimmste ist das Alter. Es ist eine Zeit der Ängste, der Gebrechen, der Halluzinationen, der Irrungen und Wirrungen. Doch Marc Wortmann, nomen est omen, bringt sie zum Sprechen. Sein autornaher Protagonist Jan arbeitet mit allen nur möglichen Tricks, um die Witwen aus der Reserve zu locken: Er flirtet, er bittet, er spielt den Eifersüchtigen, er droht und er verführt, er macht Versprechungen und liest im Stuhl, er schafft eine Atmosphäre des Vertrauens und macht sich unentbehrlich. Bald hat sich herumgesprochen, dass Jan seine Aufgabe mit Leidenschaft und Kreativität versieht, und die Witwen danken es ihm durch kleine Gesten: Sie zeigen ihm ihren Kummer und ihre Freuden, sie sind weniger beklommen und weniger abweisend, wenn er ihr Zimmer betritt, sie signalisieren ihm ihre Bereitschaft, sich zu öffnen, sie fassen wieder Mut, sie nehmen sich vor, sich nicht mehr so gehen zu lassen und nicht mehr so - zu stinken.

Marc Wortmanns Buch ist praktisch eine Unmöglichkeit und literaturgeschichtlich ein Novum. Denn diese Welt der Witwen wäre früher, als Gegenstand der Belletristik, ausgeschlossen gewesen. Man war es gewöhnt, sich mit jugendlichen Helden und ihrer Initiation zu beschäftigen, oder mit der Blütezeit des Lebens und dem Erzählreservoir der Familiensaga (Walter Kempowski), nicht aber mit dem sujet- und ereignislosen Einerlei des hässlichen Alters. Die Väter- und Mütterliteratur der siebziger und achtziger Jahre war eine Auseinandersetzung mit der schuldig gewordenen Elterngeneration (Ruth Rehmanns Roman "Der Mann auf der Kanzel", 1979), war zugleich "Suchbild" (so Christoph Meckel 1980) und "Selbstbild" (Karin Strucks "Die Mutter", 1975), gab sich als "tätige Erinnerung" (Peter Handkes "Wunschloses Unglück", 1972) und als "Nachgetragene Liebe" (Peter Härtling, 1980). Immer aber gab es etwas zu holen im erfahrungsgesättigten Vor-Leben der eigenen Sippe.

Anders, so scheint es, bei Wortmann: Die Witwen geben nichts her und hocken wortkarg und träge im Sessel. Sie würden auf ihren Erinnerungen sitzen bleiben - gäbe es da nicht die durchtriebene Mäeutik des Witwentrösters, der nicht locker lässt in seinem Bemühen, die Alten zum Sprechen zu bringen. Oft bleibt er auch einfach im Zimmer, wenn die Witwen Besuch haben, um etwas von ihrer Vorgeschichte abzulauschen, oder er unterhält sich mit ihren Anverwandten. Rita, die durchtriebene Nichte zum Beispiel, nutzt eine Leidenschaft ihrer Tante aus, sie ins Heim zu stecken. Witwe Schulz liebt Schokolade, die zusammen mit Tee verstopfend wirkt: "Rita weiß, wozu Schokolade gut ist. Rita hat selbst erfahren, was zu tun ist, wenn die Witwe Schulz Schokolade gegessen hat. Rita hat selbst getan, was dann zu tun ist. Rita nahm einen Waschlappen und eine Schüssel mit warmer Seifenlauge, und sie half der Tante, die Schokolade wieder loszuwerden." Rita weiß von der Leidenschaft ihrer Tante und zeigt sich unbarmherzig: "Tantchen, das machen wir nicht wieder. Wenn du das noch mal machst, dann kommst du in ein Heim. Dann müssen dir die Schwestern deine Wünsche erfüllen."

Witwen leben lang (Frau Jakob wird sogar die "Unsterbliche" genannt), und manchen (wie Hilde Benken) erscheint der Halleysche Komet, den seine Umlaufbahn alle 76 Jahre an der Erde vorbeiführt, zweimal im Leben: "Als der Halleysche Komet das letzte Mal zu sehen war, im Jahre 1909, war sie acht Jahre alt gewesen. Es war noch Kaiserzeit, und sie besuchte eine Mädchenschule, wo man vor allem Handarbeiten lehrte." Zur Verblüffung der Mutter erlaubt der Vater der kleinen Hilde, in der Nacht aufzubleiben: "Gesehen hatten sie ihn nicht. Doch was nebenher geschehen war, der Abend mit ihrem Vater, der Zigarrenrauch, die Dunkelheit, das wusste sie alles noch sehr genau. Denn wie er an jenem Abend mit ihr gesprochen hatte, das war nie wieder vorgekommen."

Erst mit Jan, knapp 80 Jahre später, sind solche Gespräche wieder möglich. Zu einer Zeit, da die Raumfähre Challenger explodiert und in Tschernobyl der Reaktor außer Kontrolle gerät, versieht Jan seinen Dienst immer routinierter und ideenreicher, so dass er schon bald genug Zeit findet, die Witwen aus der Reserve zu locken. Bei ihm sollen die Alten beides bekommen, "körperliche und seelische Betreuung", schon weil sie sonst niemanden mehr haben. Von den Kindern kommen oft nur Postkarten mit dem Standard-Urlaubsgruß: Sie erleben den Frühling in Namibia und wünschen der Mama daheim ein schönes Weihnachtsfest. Mit äußerster Lakonie gibt Marc Wortmann diese Grausamkeiten wieder. Bisweilen kommen sie auch zu Besuch, doch wenn die längst erwachsenen Kinder ihre Sorgen vor der Mutter ausschütten oder aber keinen Ton herausbringen, als wäre das Tischtuch zwischen den Generationen zerschnitten, dann bleiben die Witwen verstört und verzweifelt zurück: Beide Seiten haben es aufgegeben, voneinander zu lernen und aufeinander einzugehen. Der größte Mangel aber sind die Männer: Im Leben zu nichts zu gebrauchen, lassen sie im Alter ihre Frauen im Stich - "und dann lassen sie einen wieder im Stich", als Witwenmacher quasi. Schon deshalb kommt Unruhe auf, wenn Jan, die einzige männliche Pflegekraft, den Raum betritt: Der Eros stirbt zuletzt, erst mit der Person, egal wie hinfällig und abwesend die Witwe mittlerweile sein mag.

Marc Wortmanns Buch besteht aus vier Teilen ("Die Trostlosen Witwen", "Unruhe", "Ein Sommer der Erfolge", "Hochzeit") und 15 Kapiteln, die weiter in kleinere Erzähleinheiten zerfallen, die aus Kurzerzählungen, Alltagsimpressionen und Minidialogen bestehen. Der 20. Mai 1987 ist Jan Oltrogges letzter Tag im Dienst im Luisenstift. Doch das Städtische Pflegestift Bahrenfeld wartet schon auf ihn: "Dort gab es zweihundert Witwen."

Titelbild

Marc Wortmann: Der Witwentröster.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002.
352 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 346203071X

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