Sehnsucht nach Zukunft, Heimweh nach Vergangenheit

Arnold Stadler schreibt weiter am Zyklus der Verzweiflungskomik

Von Franz LoquaiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Loquai

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein landläufiger Witz besagt, dass jeder sein Päckchen zu tragen habe im Leben. Frage: Und wenn man es öffnet, was kommt dann heraus? Antwort: die Familie. Ein solches Päckchen, oder genauer: ein derartiges Paket, hat auch der Ich-Erzähler in Arnold Stadlers sechstem Roman mit sich herum zu schleppen. Deshalb ist seine Reise auf Erden beschwerlicher Natur; niemand hat ihm gezeigt, wie das Leben geht und wo man sein Gepäck aufgibt.

Unter dem melancholischen Sternzeichen Widder geboren, leidet der Erzähler von Kindheit an unter jener Schwerkraft des Gemüts, welche unweigerlich hinabzieht in das Souterrain oder zumindest, vorerst, in eine "ebenerdige" Existenz. Die Seinen, das ist eine im alemannischen Voralpenraum (also in Stadler County, dem "Hinterland des Schmerzes") auf dem Anwesen derer von Josefslust angesiedelte Landadel-Dynastie aus Jagdherren und Nahkampfvirtuosen, die zwar ihren Männlichkeitsidealen huldigen, aber aus den diversen Schlachten entweder gar nicht oder verstümmelt heimkehren - so auch des Erzählers Vater, den der Krieg ein Bein gekostet hat, der aber immer noch nicht genug hat von Schießprügeln und Tötungsritualen. Der Ich-Erzähler war laut Familienplanung eigentlich als Mädchen vorgesehen ("Sabine Helene"), doch nachdem sein älterer Bruder bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, soll er die Stammhalterrolle übernehmen. Mit diesem Auftrag wird Johnny (so wird ihn später seine Frau nennen) in die Pubertät entlassen: heimatlos trotz Familie, ohne Liebe trotz Familie, dafür voller Sehnsucht - wegen all dem.

Arnold Stadler hat die Kunst, autobiographisch zu schreiben und dabei hinter einem ihm seelenverwandten, mit ihm viele Gemeinsamkeiten (Alter, Sternzeichen, Namen der Urgroßmutter) teilenden, aber eben nicht mit ihm identischen Ich-Erzähler zu verschwinden, mittlerweile zur Perfektion entwickelt. Auch jetzt ist der Erzähler wieder ein trauriger Tropf und "Verzweiflungshanswurst" (Thomas Bernhard), der in immer neuen Anläufen zu seinen Rundumschlägen gegen Gott und die Welt ausholt und dabei niemanden schont, auch sich selbst nicht. Stadlers Helden beherrschen, zum Wohlgefallen des Lesers, die hohe Kunst der Selbstironie. Wenn sie in ihren "Schwadronaden" (Alois Brandstetter) über den desolaten Weltenzustand klagen, dann entlarven sie sich immer auch selbst - als hypochondrische Unglückstölpel. Das macht sie, die nie eindeutig als Sympathieträger daherkommen, in ihrem tragikomischen, sich selbst eben nie ausnehmenden Lamento erträglich und, ja doch, auch ein wenig liebens- und erbarmenswert. (Wie wichtig das Erbarmen des Autors mit seinen Figuren ist, das hat Stadler in seiner Büchnerpreisrede erläutert). Wie Kinder und Narren sagen diese Trauervirtuosen meistens die Wahrheit, und zwar ohne die unsägliche politische Korrektheit, Stadler sei's gedankt. Mit Bernhard und Brandstetter sind zwei literarische Antipoden genannt, zwischen denen sich Stadlers Erzählkunst situieren ließe. Stadler verzichtet auf die negativistische Bernhardsche Besserwisserei (die oft bar jeder Selbstironie ist), dafür hat er die humoristische Leichtigkeit Brandstetters, freilich ohne dessen positive Grundeinstellung im zuversichtlichen Glauben ans Gute. Bei Stadler bleiben Skepsis und Sehnsucht in der Schwebe. Das verleiht auch seinem sechsten Roman jenes schwerelose Parlando, bei dem die Wörter von Melancholie und Ironie gleichermaßen getragen werden.

Der Roman beginnt auf der Gegenwartsebene des Erzählers. Er ist mittlerweile Ende vierzig und in Berlin mit Hilde, einer erfolgreichen Chirurgin, verheiratet. Doch die Ehe hat längst angefangen zu zerbröseln. Johnny, der gescheiterte Forstwissenschaftler, schlägt sich als Vortragsreisender mit passablen Honoraren hakenschlagend durchs Leben. Im Frühsommer 2002 ist er unterwegs nach Bleckede an der Elbe, um dort seinen "Verbraucher-Vortrag" zu halten und sich danach einen schönen Vatertag im BLUE MOON zu gönnen, einem Swingerclub bei Fallingbostel in der Lüneburger Heide. Dort trifft er in einer raffiniert einmontierten Traumsequenz Menschen aus seiner Jugendzeit wieder, darunter seine Halbschwester Angelika (mit der es seinerzeit fast zum Semi-Inzest gekommen wäre) und die Friseuse Helga (die einen beim Kopfwaschen so herrlich mit der Brust berühren konnte).

Der Rückblick auf Kindheit und Adoleszenz bewahrt eine verschwundene Zeit vor dem Vergessen, als auf den Feldern Mengele-Landmaschinen herumstanden, als noch Scherenschleifer, Alteisenhändler und Hausierer mit Kurzwaren unterwegs waren, als Arbeiter zum Betriebsjubiläum noch einen "Wurststrauß" bekamen und als es noch Eisblumen gab im Winter, aber als das Wünschen auch schon nichts geholfen hat. In diesen Erinnerungen geht es immer wieder um das Versagen Johnnys, der in den Augen seiner Familie ständig für Blamagen sorgt, vom peinlichen Auftritt beim Nikolausfest bis zum verpatzten Führerschein. Den Leitfaden bilden, dem Untertitel des Romans gemäß, die verschiedenen ersten Erlebnisse. Vom Küssen im Kindergarten über das Spannen im Kino bis zum Fummeln auf Wallfahrten und den homoerotischen Lockungen in der Eisenbahnwirtschaft leidet Johnny an den "heimatlosen Erektionen" seines immerstrammen Gemächtes namens Max. Bei einem Schulausflug ans Meer geschieht es dann das erste Mal, mit Uschi (deren Kommentar über Maxens Einstand: "SHIT"), wobei möglicherweise doch noch ein Stammhalter in Gestalt eines Bankerts zustande kommt. Am Ende schließt sich der Kreis, wenn der Erzähler ans Meer reist und den Schauplatz seiner Premiere aufsucht. Geblieben sind ihm, neben den nicht gerade rosigen Erinnerungen, seine Depressionen, eine Ehefrau mit Cellulite und ein nachlassender Max. Ja, man möchte Erbarmen haben mit diesem heimatlosen Unglücksritter von der traurigen Gestalt.

Stadlers ironischer Zungenschlag verhindert ein Abdriften in Nostalgie oder gar Pathos. Außerdem werden die Rückblenden in einem assoziativen Nebeneinander (der Roman hat keinen Plot, wie Stadler mit einem Mark-Twain-Zitat vorab vermeldet) von satirischen Seitenhieben auf leidige Zustände in der Gegenwart unterbrochen. Da tobt sich Stadler zum Vergnügen des Lesers nach Herzenslust aus, etwa über den Fit-for-Fun-Wahn in der Viagra-Ära und über die jämmerliche Zeitgeistigkeit der Einfamilienhausexistenzen, denen die Leviten gelesen werden. Das ergibt eine Art Katalog der Kleinbürgerseligkeit: "ihre Ringstraßenvehemenz, ihr Gemeinschaftsantennen-Eifer, ihr Verkabelungsdrang, ihre Einliegerwohnungsgenehmigungsanträge, ihre Whirlpoolphantasien, ihr Grüner-Tonnen-Stolz, ihr ökologisches Windräder-Bewusstsein, ihr Geräteschuppen-im-Landhausstil-Ehrgeiz, ihre Tennis- und Fitnessclub-Mitgliedschaften, ihre Sperrmüll-Kalender-Daten" und "ihre Equipment- und Wellnessexistenz, ihr Indoor- und Outdoorleben auf einer Fun- und Fotzenkompetenzbasis. Das letzte Wort könnte ich zurücknehmen."

Hier schwadroniert ein Stadler in Hochform, der seine verbalen Drahtseilakte gekonnt mit ironischen Schlenkern und Pseudo-Rücknahmen absichert. Ist der Grundton dieses Romans die Sehnsucht, so kommt als Grundfarbe nur ein unendliches Blau in Frage, so blau wie das Meer bei Helgoland oder die Grotte von Capri, vielleicht mit einem sanften Stich Violett, der Farbe der Melancholie.

Störend an dem Buch sind aber etliche Schludrigkeiten, die vermutlich darauf zurückzuführen sind, dass der Roman unbedingt saisongerecht auf den Markt kommen sollte. Die erzählte Zeit reicht bis zum Finale der Fußballweltmeisterschaft 2002, dabei hätte es doch auch (um dem Autor mehr ›Luft‹ zu lassen) der Jahresbeginn mit den Seitenhieben auf die vom Bundespräsidenten verteilten Euro-Starter-Kits getan. So hat die Eile ihren Preis in Gestalt von: zahlreichen Schreibfehlern ("sechszehn", "Schremp", "Irish Moss"), einigen Syntaxmängeln ("aus Angst, ich könnte für ein Voyeur gehalten" werden; "von einem nie zu Gesicht gekommenen Publikum"; "Beiprogramm eines globalen Gipfeltreffen"), gelegentlichen Redundanzen ("doch bei mir handelte es sich jedoch um jemanden"; "die Sehnsucht nach dem großen Fisch, die Sehnsucht nach dem Fisch des Lebens"; "Die anderen hätten vielleicht gedacht, es wäre Frau Fürstenberg vielleicht etwas passiert") oder fehlenden Kongruenzen ("Wir sahen nun die vorgelagerte Düne[,] die, wie Schulze dazwischenquakt, unbewohnt war") sowie dem einen oder anderen falschen Detail (dass deutsche Gebirgsjäger beim Manöver vom Allgäu aus durch das "obere Lechtal" robben, scheint geographisch wie politisch unwahrscheinlich). Das ist schade, denn es stört die sonst vorherrschende stilistische Leichtigkeit und sollte bald korrigiert werden, aus Gründen der - wie Stadler sagen würde - Textverarbeitungstransparenz und Levitationskompetenz.

Der einzige Beweis sprachloser Menschen, dass sie jemals gelebt haben, sind die Photos, die von ihnen übrigbleiben. Stadlers Erzähler hat für sich und alle Sprachlosen, sein und ihr Buch geschrieben, mit dem man, im Gegensatz zum Leben, wirklich noch einmal von vorn beginnen kann. Der in Stadlers Erzählkosmos initiierte Leser wird in diesem Roman vielleicht vertraute und mittlerweile (weil aus einer literarischen Heimat stammende) liebgewonnene Namen wie Kreenheinstetten, Schwackenreute und Rast vermissen, aber die Erinnerungen eines heimatlosen Halbnomaden spielen zwangsläufig in einem Niemandsland. Jede Leserin und jeder Leser, dem Worte wie Sehnsucht und Heimweh nicht fremd sind, wird sich seine eigenen Orte dazu denken können, sich an die eigenen Päckchen und Premieren erinnern, nach Stadlers schönem Diktum: "Sehnsucht ist Hoffnung minus Erfahrung". Mehr kann ein Roman nicht bewirken als im Leser zweierlei (Lebens-) Kunst wach zu halten: die des Erinnerns und des Erbarmens.

Titelbild

Arnold Stadler: Sehnsucht. Versuch über das erste Mal.
Übersetzt aus dem ## von ##.
DuMont Buchverlag, Köln 2002.
328 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3832154132

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