Die große Hasenklage

Zu Jo Mihalys Nachlassroman "Auch wenn es Nacht ist”

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner verdienstvollen Edition Memoria, die vorwiegend Werke von Exilanten präsentiert, hat Thomas B. Schumann aus dem Nachlass von Jo Mihaly den wohl kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfassten Roman "Auch wenn es Nacht ist" publiziert und mit einem biografischen Nachwort versehen. Mihaly wurde 1902 im westpreußischen Schneidemühl als Elfriede Kuhr geboren. Aus Sympathie mit den Zigeunern, bei denen sie als Kind oft spielte, nannte sie sich Jo Mihaly. Bereits 1920 ging sie nach Berlin und absolvierte eine Ballettausbildung. In der Weimarer Republik führte sie erst selbst ein Vagantenleben und bündelte ihre Erfahrungen 1929 in der "Ballade vom Elend", einem Liederbuch in der Tradition eines Villon oder Erich Mühsam. Wegen ihrer antifaschistischen Haltung emigrierte sie gleich 1933 mit ihrem jüdischen Mann in die Schweiz, wo sie sich bis Kriegsende in diversen Organisationen für die Exilanten engagierte. In dieser Zeit erschien ihr Roman "Hüter des Bruders", der von der Zuflucht eines politisch Verfolgten bei den Zigeunern handelt. In den ersten Jahren nach 1945 beteiligte sie sich an der kulturellen Aufbauarbeit, zog sich aber 1949 nach Ascona zurück, wo sie bis zu ihrem Tod 1989 ein stilles, aber produktives Schriftstellerleben führte.

In ihrem Roman "Auch wenn es Nacht ist" schildert Mihaly die Erlebnisse ihrer Protagonistin Martha in den Monaten Januar bis März 1945. Die Handlung setzt mit der Flucht der Familie aus Schneidemühl ein, von der sich Martha trennt, um sich als Betriebsangehörige an der ordnungsgemäßen Liquidation einer Zigarettenfabrik zu beteiligen. (Hier liegt die kompositorische Schwachstelle von Mihalys Roman, denn in dieser Situation des Zusammenbruchs wirkt Marthas Diensteifer unglaubwürdig und liefert keine überzeugende Motivation für den schwerwiegenden Entschluss zur Trennung von der Familie.) Ihre eigene Flucht führt sie durch die umkämpfte Festungsstadt auf die Landstraße, wo sie sich einem Treck anschließt. Bei einer nächtlichen Rast bricht sie mit dem Deutschpolen und Förster Wojtek alleine auf, verlässt ihn aber bald, als er sich an ihr vergreifen will. Sie gerät auf einen Gutshof, wo Offiziere ein rauschendes Fest feiern, das sie als "Leichenschmaus" empfindet. Aber nur mit Gewalt kann sie sich aus dem ,erlösenden Tanz' losreißen, um weiter nach ihrer Familie zu suchen. Sie erreicht mit knapper Not einen Flüchtlingszug und fällt in Stettin angelangt in ein Erschöpfungsfieber. Wojtek taucht wieder auf, pflegt sie und bringt sie in einem Spital unter. Er will sie heiraten und in den Schneidemühler Forst zurückholen, zu dem er aufbricht. Das letzte Kapitel schildert Wojteks Erschießung durch polnische Soldaten und Marthas Wiedervereinigung mit ihrer Familie.

Unter stilistischem Gesichtspunkt könnte man "Auch wenn es Nacht ist" als ein Dokument der Kahlschlagliteratur betrachten. Mihaly bedient sich einer nüchternen, kargen, auf Ausschmückung oder Pathos völlig verzichtenden Sprache. Die schlichte Syntax mag auch eine Fortschreibung des neusachlichen Tons der späten Weimarer Republik sein. Dennoch enthält ihr Roman einige Elemente, die ihn über den bloßen Bericht eines Flüchtlingsschicksals hinausheben. Dazu zählen die mehrmals eingestreuten Kindheitserinnerungen, die durchaus ambivalent idyllische Gegenwelten, aber auch unheilverkündende Schlüsselszenen aufrufen. Dazu gehört die religiöse Dimension des Romans, die sich in Marthas Selbstzweifel an der Berechtigung ihres Überlebens manifestiert. Mihaly nutzt hier das Medium von Marthas Fieberwahn, um sie mit einer schrecklichen Stimme zu konfrontieren, die sie einem Verhör unterzieht und "mitschuldig" spricht.

Von echtem literarischem Rang sind zwei Szenen. Da ist zum einen die Schilderung des Tods der kleinen Mathilde, die der Anstrengung der Flucht nicht standhält. Hier gewinnt Mihalys Buch eine beklemmende Plastizität, wenn die Kinderleiche auf einem Fächer von Fichtenzweigen durch die verschneite Nacht gezogen wird. Diese Passage erinnert an ein Kapitel in dem themenverwandten Roman "Feuer im Schnee" von Jens Rehn, in dem das allmähliche Erlöschen einer kindlichen Lebensflamme sogar aus der Binnenperspektive beschrieben wird. Die Sterbeszene in Mihalys Buch hat noch eine quasi surrealistische Reprise, wenn Martha in ihrem Fiebertraum die baumhohe klagende Mutter erscheint, die den Kinderleichnam auf ihr Schuldkonto legt. In dieser Szene nennt Martha Mathildchen ,ihren Hasen' und verweist damit auf das zweite Motiv, das noch zu nennen ist. Als Martha nach dem Fest ein Stück ihres Wegs von SS-Offizieren im Auto mitgenommen wird, macht der Fahrer Jagd auf einen im Scheinwerferlicht auftauchenden Hasen. Martha bittet vergeblich um Gnade für das Tier und wird, als sie Gottes Strafe prophezeit, mitten in Nacht und Schnee hinausgeworfen. Der überfahrene Hase aber springt auf und schlägt "die große Hasenklage" an. Er fungiert leitmotivisch als Chiffre für ein Überleben um den Preis einer unüberwindbaren Leiderfahrung. Zwar mündet der Roman in der Rückkehr in den Naturzyklus, aber der beginnende Frühling ist "tröstlich und erschreckend" zugleich. Das letzte Kapitel mit seiner unversöhnten Antithetik von Wojteks Ermordung und der Einkehr in die Familie hält diese Ambivalenz fest. Das Leben geht weiter, aber die Zukunft ist gestorben.

Titelbild

Jo Mihaly: Auch wenn es Nacht ist. Roman.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas B. Schumann und mit Reminiszenzen von Anja Ott.
Edition Memoria, Köln 2002.
168 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 3930353172

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