Meine Gedanken und meine Feder leiden keine Fesseln

Die Neuentdeckung einer faszinierenden Dramatikerin aus der Zeit der späten Aufklärung

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit der Erstausgabe im Jahr 1797 ist Elise Müllers Stück "Die Kostgängerin im Nonnenkloster" nicht mehr gedruckt worden. Nun sind der Wehrhahn Verlag und der Herausgeber des Bandes, Johannes Birgfeld, das Wagnis eingegangen, eine völlig unbekannte Dramatikerin einem breiteren Lesepublikum zugänglich zu machen.

Wer aber war Elise Müller? Geburts-und Todesdatum liegen im Dunkeln, ebenso die Herkunft und die Lebensumstände. Nicht einmal der Name kann als gesichert angenommen werden, und es erscheint mehr als wahrscheinlich, dass die Autorin unter einem Pseudonym veröffentlicht hat.

In seinem klugen und sachlich fundierten Nachwort stellt Johannes Birgfeld die Vermutung an, dass es sich bei Elise Müller um eine "äußerst aufmerksame und zumindest politisch hochgebildete Zeitgenossin" gehandelt haben muss. Wahrscheinlich war sie eine Städterin, denn sie geht überaus gekonnt um mit ihrem Material und den dramatischen Mitteln. Eine unbedarfte und naiv arbeitende Person wäre niemals in der Lage gewesen, ein derart detailliertes Bild des Alltagslebens auf die Bühne zu bringen.

Und hiermit wäre auch schon das angesprochen, was dieses Stück zu einem spannenden, Verblüffung hervorrufenden Leseerlebnis macht: Nur scheinbar nämlich handelt es sich bloß um eine verzwickte Liebesgeschichte, die rührt und Mitleid mit der weiblichen Hauptfigur erregt. Elise liebt einen Mann, der der Mutter nicht genehm ist. Um die Tochter von der unseligen Leidenschaft zu heilen, bringt sie sie als "Kostgängerin" in einem Kloster unter. Elise wird bewacht von der Nonne Margaretha, die die junge Frau drangsaliert, wo sie nur kann. So groß die Liebe Elises zu ihrem Franz aber auch ist - vom ersten Bild an hat man den Eindruck, es gehe um viel mehr als eine unglückliche Liebe oder um den Kampf von guten gegen schlechte Menschen. "Wir haben freien Willen, uns da und dort hin zu bewegen; nur meine Machine hat diese Freiheit nicht." Elise bedeutet die Freiheit sehr viel. Immer wieder spricht sie davon, dass die Gedanken nicht gefangen gehalten werden können, sie zielen in die Zukunft, sie machen, was sie wollen. Völlig zurecht ist der Herausgeber der Meinung, es handle sich bei Elise um den "Typus der revolutionsbereiten bürgerlichen Intellektuellen". Elise Müller hat ein Revolutionsstück geschrieben, sie hat die scheinbare Idylle des bürgerlichen Alltags als Gefängnis entlarvt und ihre Hauptfigur zu einer Trägerin des revolutionären Gedankens gemacht. In keiner ihrer Regungen und in keinem Satz erscheint die Frau hölzern oder abstrakt. Sie entfaltet eine starke Persönlichkeit, und das gibt Anlass zur Annahme, dass die Dramatikerin selbst sich in diese Elise hineingeschrieben hat. Nicht umsonst spricht sie nicht nur die Freiheit des Gedankens, sondern auch die Freiheit der "Feder" an. Wenn man bedenkt, wie sehr sich eine Charlotte Birch-Pfeiffer hinter ihren Rührstücken versteckt hat, so kann man nur staunen über den Mut dieser hochbegabten und dazu auch menschlich anrührenden Autorin. Auch wenn höchstwahrscheinlich keine der heute schreibenden Dramatikerinnen Elise Müller kennen dürfte, ihre Spuren lassen sich ganz deutlich in zeitgenössischen Stücken von Frauen finden.

Bleibt nur noch, dem Stück eine Aufführung in nicht allzu ferner Zeit zu wünschen!

Kein Bild

Elise Müller: Die Kostgängerin im Nonnenkloster. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Johannes Birgfeld.
Wehrhahn Verlag, Laatzen-Grasdorf 2002.
120 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3932324854

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