Aus der Peripherie ins Zentrum

Goethe und seine Deutschen

Von Gerhart PickerodtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhart Pickerodt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Insgesamt acht Aufsätze enthält der Band, beginnend mit einem Text über "Goethe und seine Deutschen", fortfahrend mit Arbeiten über die "Italienische Reise", die "Wahlverwandtschaften", den "West-östlichen Divan", die "Novelle", die "Wanderjahre", den "Faust" sowie die Spruchdichtungen. Obwohl also beinahe durchwegs auf zentrale Gegenstände des Goetheschen Œuvres bezogen, sind die Arbeiten doch von unterschiedlicher Bedeutung und von ungleichem Gewicht. Hervorzuheben sind die Aufsätze über die "Wahlverwandtschaften" und den "Divan". So öffnet der Alexander von Humboldt-Bezug durchaus neue Dimensionen des "Wahlverwandtschaften"-Romans. Der dem "West-östlichen Divan" gewidmete Text zeigt die Bedeutung poetischer Selbst-Reflexion in der Innen-Perspektive der Dichtung, wodurch das Spannungsverhältnis zwischen exotischer "Maske" und einheimischen Gefühlen eine poetologische Begründung erfährt. Allerdings neigt Schulz in diesem wie auch in anderen seiner Texte dazu, den technischen Modernisierungsschub des 19. Jahrhunderts, den Goethe in seinen späten Lebensjahren erfährt, etwas umstandslos auf die Dichtung zu projizieren. Dies mag dort gerechtfertigt sein, wo, wie in den "Wanderjahren", Technik zum Thema und ästhetisch "ein Übergang in gesellschaftliches Denken und Empfinden induziert" wird, doch läßt sich die "historische Grenzscheide", an der Schulz die "Divan"-Gedichte situiert, keineswegs so unmittelbar als die der Entwicklung "technischer Macht" in Europa bestimmen. Hier verfällt Schulz einem etwas kruden Materialismus, den er in einem anderen Aufsatz ("Faust und der Fortschritt") zu Recht kritisiert.

Allerdings führt der methodische Vorschlag, Faust im "Menschenzustand" zu betrachten statt als geschichtliche oder menschheitliche Repräsentationsgestalt, substantiell nicht eben sehr weit. Leicht gerät darüber auch in Vergessenheit, daß die Faustfigur selbst sich auf die Menschheit bezieht und sich eine menschheitliche Repräsentanz in seinem "innern Selbst" zuschreiben möchte. Schulz' Plädoyer für die Einzelmenschlichkeit Fausts wirkt daher, auch im Rahmen der vielen Debatten, die über Symbolik und Allegorie im "Faust"-Drama geführt worden sind, wenig erhellend.

Schulz' Methodik in seinen Goethe-Aufsätzen kann nicht unbedingt als griffig gelten. Kaum je formuliert er eine These, um sie am Text zu verifizieren. Er nähert sich seinen Gegenständen meist von der Peripherie her, umkreist sie langsam, um am Ende wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Solche hermeneutischen Kreisbewegungen, die in diesem Fall allerdings wenig Reflexionen über die Rolle des Interpreten mit sich führen, kommen andererseits ganz ohne theoretisches Imponiergehabe aus. Sympathisch ist die konkrete Sprache, wenngleich die Metaphorik bisweilen die Begrifflichkeit zu überwuchern droht.

Der Titel dieses Buches ist irreführend, zumal in der Schreibweise, daß da ein Ober- mit einem Untertitel korrespondiert. Er ist irreführend insofern, als keineswegs alle Aufsätze, die - zu unterschiedlichen Gelegenheiten in verschiedenen Zeiten verfaßt - hier vereinigt sind, die eine oder die andere Seite des Titels berühren.

Wahrscheinlich werden die Verlage in diesem Goethe-Jahr mancherlei Versuche unternehmen, Aufsatzsammlungen unter einem reizvollen Titel in einen glänzenden, ästhetisch attraktiven Bild-Einband zu schlagen, um das Lesepublikum, sofern es dieses noch gibt, zum Kauf des Buches zu animieren. Der vorliegende Band hätte möglicherweise solcher Aufmachung gar nicht bedurft, weil die Substanz zumindest einiger der hier versammelten Aufsätze ihren (Wieder-) Abdruck durchaus rechtfertigt.

Nicht also ein großes, neuartiges Goethe-Buch ist hier anzuzeigen, vielmehr ein gediegenes, zur Bescheidenheit tendierendes, das man gerade deswegen in vielen Passagen mit Gewinn liest. Schulz läßt den Leser teilhaben an seiner eigenen Lektüre, ohne ihm etwas aufdrängen zu wollen, am wenigsten ein eitles Wissenschaftler-Ich. Man kann bei ihm in entspannter Haltung mitlesen, und das ist angesichts der hektischen Fest-Inszenierungen dieses Jahres schon sehr viel.

Titelbild

Gerhard Schulz: Exotik der Gefühle. Goethe und seine Deutschen.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
223 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3406442064
ISBN-13: 9783406442063

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