Die Landschaft ist ja eigentlich eine Weglosigkeit

Drei neue Stücke von Kerstin Specht

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anna erwartet ein Kind. Die Mutter ist dagegen. Anna verliert das Kind, außerdem möchte sie ja eigentlich viel lieber Schauspielerin werden und weggehen aus dem Ort. Emil, ihr Mann, ahnt, dass Anna wechselnde Männerbekanntschaften hat. Gemeinsam stehlen sie aus einer Kirche eine wertvolle Jesusfigur. Das Geld ist nicht der einzige Grund für den Diebstahl. Anna steigert sich in die Vorstellung hinein, das Kind selbst geboren zu haben. Ihr steht der Sinn nicht nach materiellem Wohlstand wie Emil. Sie wünscht sich die Freiheit, die Emil nicht versteht.

Mit dem 2002 in den Kammerspielen München uraufgeführten Stück "Das goldene Kind" hat Kerstin Specht die Enge kleinbürgerlicher Verhältnisse erneut zu ihrem Thema gemacht. In ihrem jüngsten Stück "Solitude" ist der Ort der Handlung das Schloss Solitude in Stuttgart, eine Künstlerresidenz. Zwei Schriftstellerinnen, eine Bandleaderin und ein Maler treffen aufeinander. Diese vier Personen als "durchgeknallt" zu bezeichnen, wäre gelinde ausgedrückt. Man hat den Eindruck, mitten in ein Irrenhaus geführt zu werden. Die fünfte Person, ein Herr namens Wieland, ist ebenfalls Künstler: Er beherrscht die Kunst der Selbstmordversuche und schließlich glückt es ihm sogar, sich umzubringen. In diesem schönen Schloss passieren hässliche Dinge. Es scheint um einen Wettbewerb zu gehen, und da sind "Stimmen", die ihre Kommentare abgeben. "Uns verbindet nichts, außer dass wir erfolglos sind", sagt Anja, die Bandleaderin. Lie hat einmal als Schülerin ein Vampirstück geschrieben, aber als sie die mitspielenden Schauspieler dann selbst gebissen hat, wollte keiner mehr für sie spielen: "Jetzt träume ich nur noch Stücke / aber ich will sie nicht mehr schreiben."

Iwan, der Maler, will das schöne, stille Bild. Er ersticht Anja und genießt den Anblick der Toten. Wirklichkeit und Kunst, was verbindet sie, was trennt sie? Wenn man einen Roman verbrennt, kann man für einen Moment Wärme erzeugen. Aber wärmt auch ein Roman, den man im kalten Zimmer liest? Zum Schluss bleibt nur noch Lie übrig. "Es scheint / dass die Ferien zu Ende sind / und alle abgereist / und nur ich bleibe noch / in diesem eisigen Kreißsaal / als Nachgeburt / die sich neu gebären / und endlich ein eigenes Leben führen muss / Nicht mehr von fremden Einsamkeiten / gegängelt."

Und dann sind da wieder die "Stimmen", die bewundern, die Fragen stellen,- alles war Theater und als Theater wahr.

Bereits 2001 wurde am Theater Ingolstadt "Marieluise" uraufgeführt. Eine über lange Zeit hinweg ungeliebte, verdrängte Autorin scheint rehabilitiert zu sein. "Ich schreibe / mit buttergelben Handschuhen / Ich schreibe / über ein Schneegestöber / und schon schneit es draußen / Ich schreibe über Zahnweh / und schon schmerzt es / Ob es mit allem so geht / dass man sich was herschreiben kann / Gutes und Böses." Der Ort, an dem hier gesprochen wird, ist die Ainmillerstraße in München, wo Fleißer als Studentin ein Zimmer hatte. Sie war 19 Jahre alt und vielleicht war es ja damals wirklich ihre Meinung, dass das Schreiben eine Wirklichkeit erschaffen kann. Allerdings hat sie in den folgenden Jahren so intensiv gelebt, ist ihr die Wirklichkeit so stark auf den Pelz gerückt, dass sich ihr Schreiben den Stoff direkt aus dem Erleben holen konnte und musste.

Kerstin Specht zeigt in diesen drei neuen Stücken erneut, dass sie zu den wichtigsten Stimmen zeitgenössischer Dramatik gehört.

Titelbild

Kerstin Specht: Marieluise / Das goldene Kind / Solitude.
Verlag der Autoren, Frankfurt 2002.
170 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3886612481

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