Kants Cyborg

Interdisziplinäre Beiträge zum Körper als Schnitt-Stelle

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ging es der Aufklärung noch um die Emanzipation von der als diktatorisch, einschränkend und begrenzend empfundenen Natur, so wird neuerdings verschiedentlich das Lob des natürlich Unverfügbaren angestimmt. So auch von Annette Barkhaus und Anne Fleig in einem von ihnen herausgegebenen Sammelband. Das Buch ist aus einer interdisziplinären Arbeitstagung hervorgegangen, die im Herbst 1999 an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Graduiertenkollegs "Körper-Inszenierungen" stattgefunden hat, sich als "kritische Bestandsaufnahme" der bestehenden Körperdiskurse verstand und die "weitergehende Differenzierung des theoretischen Instrumentariums" intendierte.

Die "körperliche Natur" des Menschen sei "kontingent" geworden und der menschliche Körper mutiere in einem doppelten Sinne zu einer "Schnitt-Stelle", konstatieren die Herausgeberinnen in einem einleitenden Text. Zum einen werde der Körper "prothetisch erweitert" und "zurechtgeschnitten", und zum anderen würden Maschinen mit "menschlichen Zügen" und "lebendigem Material" ausgestattet. Hiermit verflüssigten sich die "fundamentale[n] Orientierungen unserer Kultur". Zwar sei die "Bipolarität" von Wirklichkeitskonstruktionen, wie sie etwa in den Dualismen Mensch und Maschine, Natur und Kultur, Realität und Virtualität, Tod und Leben zum Ausdruck kommt, oft und zurecht kritisiert worden. Doch nun lösten sich diese "Basisoppositionen" zu einem der beiden "Pole" hin auf. So entwickle sich aus der "Entgegensetzung von Mensch und Maschine" eine "umfassende Mechanisierung des Menschen". Eine Klage, die in jüngster Zeit öfter erhoben wurde. Ganz so neu ist sie allerdings nicht. Ähnliche Kritik war schon angesichts des Fordismus, der Entwicklung der Fließbandproduktion in den Fabriken Henry Fords, zu hören, den Charlie Chaplin in "Moderne Zeiten" aufs Korn nahm.

So "bahnbrechend" die Dekonstruktion eines naiven Körper- und Leibbegriffs auch gewesen sei, so die Autorinnen weiter, so sei es angesichts der gegenwärtigen "Grenzverschiebungen" und "Grenzverläufe" nunmehr um so notwendiger, sich "Dimensionen der menschlichen Existenzweise" anzunähern, "die weder in der Rede vom Körperding noch in der von Körperkonstruktionen aufgehen". Die einseitige Auflösung der Dualismen Mensch/Maschine Natur/Kultur und Realität/Virtualität sei zwar auch den "bio- und medientechnologischen Entwicklungen", vor allem wohl aber der These der "Lesbarkeit" und "Textualität" einer Kultur anzulasten, die Natur als "ordnenden Gegenpart" verloren habe.

Diese "Auflösung der Basisopposition" so die Autorinnen, markiere den "Übergang in die Ära des Posthumanismus", in dem verfügbar werde, was bislang als unverfügbar hingenommen wurde. Angesichts dieses Befundes plädieren sie dafür, das den gefährdeten Oppositionen inhärente "vielfältige" "Spannungspotential" aufzunehmen, und führen die "Kategorie des Unverfügbaren" ein. Sie bildet den "Fokus" des gesamten Bandes. Gegen diese neue Kategorie liegt allerdings der Einwand nahe, dass es sich bei dem Anteil des menschlichen Körpers, über den nicht verfügt werden kann, nicht, wie die Substantivierung suggeriert, um ein Fixum handelt, sondern er - man kann wohl sagen, von Beginn der Menschheitsgeschichte an - stets variabel war und zumindest tendenziell ständig kleiner wurde.

Barkhaus und Fleig verstehen unter dem Unverfügbaren zwar "etwas, das sich dem verfügenden Zugriff entzieht und doch immer wiederkehrt". Dennoch scheint ihr Terminus nicht eindeutig deskriptiv zu sein. Denn andererseits betonen sie, dass es ihnen um die "Formulierung eines Einspruchs" geht, um - wie es etwas nebulös heißt - "die Rede von Unverfügbarem als Rede von einem Nicht-Ort, der den Einspruch motiviert". Die Konnotation eines utopischen Telos schwingt hier nicht von ungefähr mit und rückt die Kategorie des Unverfügbaren in die Nähe eines normativen Begriffs, der festlegt, was unverfügbar bleiben sollte. So verstanden, wäre auch die Substantivierung des Terminus sinnvoll.

Die Beiträge des Bandes sind in vier Rubriken unterteilt, in denen die AutorInnen "Diagnosen" stellen, "Fundstücke" vorweisen sowie "Möglichkeiten" und "Aufgaben" aufzeigen. Elisabeth List etwa arbeitet an der Resituierung des Subjekts in den Diskursen um den Körper, während Sybille Krämer darauf hinweist, dass Judith Butlers in "Hass spricht" vorgetragene Theorie performativer Sprechakte die für Habermas' universalpragmatische Kommunikationstheorie kennzeichnende "Entkörperung der Sprechenden" nicht teilt. Mike Sandbothe wiederum wirft die Frage auf, ob "alles nur Text" sei, um anschließend die in Hinblick auf das Internet gestellte "Entkörperungsdiagnose" zu problematisieren und Derrida gegen den Vorwurf zu verteidigen, dass der Dekonstruktivismus auf theoretischer Ebene eine "Entkörperungsbewegung" vollziehe, die derjenigen auf dem Gebiet der Technologien analog sei. Gesa Lindemann führt den Begriff des "ou-topischen" Objekts ein, um die "komplexen Refigurationen" erfassen zu können, "in denen Körper immer wieder als andere und doch auch als gleiche auftauchen". Mit ihrem Neologismus bezeichnet die Autorin "etwas, über das sich nichts positiv sagen" lasse. Die in dieser "Dimension" gegebenen "Sachverhalte", seien nicht durch Beobachtung zugänglich, sondern nur indirekt, indem sie "erdeutet" werden. Der "Dingkern", der "lebendige Körper als Ganzes", das "leibliche Selbst" und das "personale Selbst" - all das bezeichne etwas, das "in Bezug auf die räumlich/zeitlich determinierte Gestalt in Differenz" sei, also etwas, das "örtlich/zeitlich in je spezifischer Weise nicht bestimmt" und somit "im Wortsinne 'ou-topisch'" sei.

Annette Barkhaus fordert in ihrem, einen Topos von Benjamin aufgreifenden Beitrag "Der Körper im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" nachdrücklich die "Rückkehr zur Lebendigkeit". Einerseits sei der "Begriff der Materialität" zur Beantwortung der Frage der "menschliche[n] Verkörperung" nicht ausreichend, andererseits lasse die Interpretation des Körpers als Einschreibfläche oder als Diskurseffekt "systematisch" die "Lebendigkeit als spezifischer Form von Materie" und den damit einhergehenden "Eigensinn" des menschlichen Körpers außer acht. So werde ihm nicht nur von den "Verheißungen" der neuen Technologien, sondern auch von den poststrukturalistischen Theorien "die Lebendigkeit ausgetrieben". In (de-)Konstruktivistischen Konzeptualisierungen des Körpers werde die "Dimension der unverfügbaren Lebendigkeit" ausgeblendet. Daher gelte es einen "neue[n] theoretischer Zugang zum Phänomen des lebendigen Körpers" zu entwickeln. Hierzu seien anthropologische Analysen gefordert, die den "Eigensinn des lebendigen Körpers" und seine Möglichkeiten und Einflüsse hervortreten lassen.

In ihrem weithin differenzierten Beitrag über "Konstruktion und die begrenzte Verfügbarkeit des Körpers" unterscheidet Hilge Landweer zwischen den ontologischen und den erkenntnistheoretischen Annahmen der "Konstruktionsthese". Eine Identifikation der erkenntnistheoretischen Frage, wie uns die Welt zugänglich ist, mit der ontologischen nach der "Seinsweise der Materie" gebe jeden "Distinktionsgewinn" der "Konstruktionsthese" auf, wäre dann doch "alles gleichermaßen konstruiert". Ist dem auch zuzustimmen, so sollte hierüber allerdings nicht vergessen werden, dass der Begriff Materie als Abstraktion selbst schon eine theoretische - und als solche eine soziale - Konstruktion ist. Denn 'Materie an sich' gibt es bekanntlich nicht, sondern immer nur diese oder jene materiellen Körper, die dann in einer Abstraktion als je bestimmte Seinsweisen von Materie aufgefasst werden können. Allerdings unterscheidet Landweer scharf zwischen einem ihrer Auffassung nach leeren Begriff einer Konstruktion von Materie und der Rede von der "soziale[n] Konstruktion der Materialität des menschlichen Körpers". Wobei sie zurecht unterstreicht, dass soziale Konstruktion "eben nicht", heißt, was konstruiert sei, sei darum "beliebig veränderbar". Der Begriff der sozialen Konstruktion beinhalte zwar die Veränderbarkeit des Körpers, jedoch nicht notwendiger Weise auch seine Verfügbarkeit. Tatsächlich, so betont Landweer unter Verweis auf die Sterblichkeit, können wir über den Körper nur innerhalb eines "ontologisch vorgegebenen" Rahmens verfügen, und setzt unter Verweis auf einen ihrer früheren Texte weniger plausibel hinzu, dass auch Geschlechtlichkeit und insbesondere Geschlechtskörper "eine solche Begrenzung" darstellen.

Doch auch gegenüber der Sterblichkeit als unhintergehbare Grenze der Verfügbarkeit über den menschlichen Körper werden im vorliegenden Buch Zweifel angemeldet. Stefanie Wenner meint zumindest, dass das Diktum, demzufolge alle Menschen sterblich seien, "an Überzeugungskraft eingebüßt" habe. Im Zentrum ihres Beitrags steht allerdings nicht die Erörterung eines möglichen Endes menschlicher Sterblichkeit, sondern eine waghalsige und zuweilen halsbrecherische Kantinterpretation, die darauf hinausläuft, dass der Cyborg "das telos des Humanums im 'Reich der Zwecke'" sei. Indem Kant, der "ein nahezu totalitäres System der wechselseitigen Verpflichtungen qua Sittlichkeit" entwickelt habe, "Freiheit als Freiheit von Körperlichkeit" definiere - man wäre hier auf eine Belegstelle doch sehr gespannt gewesen -, nehme er "den Cyborg als telos des Menschen" vorweg. Dessen "monströse Versprechen" sei "eine neue Ordnung des Lebendigen unter Ausschluß der Leiblichkeit". Die Annahme, das "subversive Potential" des Cyborgs bestehe in der "Auflösung der Dichotomie von Mensch und Maschine", übersehe, dass die Medizin die "Verabschiedung solcher Grenzen" schon immer akzeptiert habe. Zudem vernachlässige die "Utopie des Cyborgs", dass die menschliche "Perfektionierung" seit der Aufklärung zum Begriff des Menschen gehöre, und dass sie schon damals mithilfe der Technik vorangetrieben werden sollte.

Lese man Kant jedoch mit Foucault, lasse sich die Utopie des Cyborgs dekonstruieren; es werde nicht nur deutlich, dass Kants Reich der Zwecke für "Regulierung" und der Kategorische Imperativ für "Disziplin" stehe, sondern auch, dass der Cyborg die "Fortschreibung kantischer Ideale mit modernen Mitteln" bedeutete. Da Kant den natürlichen Leib als "Un-Wert" bestimmt habe, habe er der "Verwertbarkeit" des menschlichen Körpers - dieser "kostbare[n] Ressource des Spätkapitalismus" - den Weg geebnet. Schließlich wird dem Aufklärer sogar das gegenwärtig florierende "Geschäfts mit menschlichen Organen" und das "Prinzip der Ausbeutung des Körperinneren" angelastet. Denn die "Doppelzüngigkeit" des Kategorischen Imperativs, die, wie die Autorin dunkel raunt, in der "Formulierung niemals bloß ... jederzeit zugleich" liege, entspreche genau dem in diesem Kontext eingesetzten Begriff der Menschenwürde.

Titelbild

Annette Barkhaus / Anne Fleig (Hg.): Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle.
Wilhelm Fink Verlag, München 2002.
247 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 3770536525

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