Gegen die abgerissene Bardenhaftigkeit des deutschen Gedichts

Ein Gespräch mit Thomas Kling über "Sondagen

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Thomas Kling gehört zu den innovativsten zeitgenössischen Lyrikern deutscher Sprache. Kling, 1957 in Bingen geboren, lebte in Düsseldorf, Wien, Finnland und in Köln. Inzwischen wohnt er auf der Raketenstation Hombroich am Niederrhein. Sein wirkungsmächtiges Werk wurde mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, unter anderem 1993 mit dem ersten Else-Lasker-Schüler-Preis für Dichtung, 1997 mit dem Peter-Huchel-Preis und 2001 mit dem ersten Ernst-Jandl-Preis. Zuletzt erschienen von ihm "Fernhandel". Gedichte, mit CD (1999), die Essaysammlung "Botenstoffe" (2001) sowie die Anthologie "Sprachspeicher. 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert" (2001). Über seinen neuen Gedichtband "Sondagen" sprach Alexander Müller mit Thomas Kling am Telefon.

Herr Kling, Ihr neuer Gedichtband trägt den Titel "Sondagen". Spricht dieser Titel von einer bestimmten Funktionsweise des Gedichts, dem "kartenlesen im unverzeichneten", wie es in dem Poem "Bärenmarke, Moorfunde" heißt?

Zunächst einmal ist die Machart des Gedichts mit diesem der Archäologie entnommenen Fachterminus gemeint, also, es ist mit dem Unverzeichneten eher das nicht mehr Verzeichnete gemeint, vielleicht in Richtung: Traditionen. Das ist eher gemeint als das noch nicht Verzeichnete, das sich, wenn das Gedicht funktioniert, gewissermaßen von selbst ergibt.

Was bedeutet dieser Fachbegriff?

Eine Sondage ist in der Archäologie der Vorgang, wenn Sie eine Grassode abheben und darunter ein Geviert ausheben, dann ist an Form und Farbe der verschiedenen Bodenschichten z. B. das Alter zu erkennen, aber auch, um was für Funde es sich handelt.

Geht es Ihnen somit um die Funde oder auch um die freigelegten Schichten?

Mir geht es natürlich um die Schichten, und zwar nicht um der Sache selbst willen. In der bildenden Kunst etwa spricht man von layers, einem Begriff aus der New York School, der sich auf abstrakte Gemälde bezieht; das sind die verschiedenen Schichten, die - ich will mal sagen - das Kunstwerk zum Strahlen bringen, ja? Aber ich schreibe natürlich höchst konkrete Sachen, Sie sehen ja auch auf alten Gemälden Firnis und etliche Schichten

Sie recherchieren ausgiebig für Ihre Gedichte, zumindest vermute ich das, jedenfalls breiten Sie viel Material aus und verfremden das. Wenn dem so ist, was kennzeichnet dann die besondere Qualität des Gedichts im Umgang mit dem vorgefundenen Material, mit den Schichten, mit Traditionen, die Sie verarbeiten?

Was die Recherche anbelangt, die darf dem Endprodukt nicht mehr anzumerken sein. Etwa an die 20 % des recherchierten Materials gehen dann in einen Text ein, mehr nicht, das ist auch, glaube ich, ganz normal. Ein sehr vorsichtiges Vorgehen ist eine solche Sondage. Wenn man sich von der Neurochirurgie ein Bild ausleihen würde, könnte man vielleicht sprechen von einem mikroinvasiven Eingriff in die Sprache. Man darf da also keine Spuren hinterlassen. Hier geht's durchaus auch um Fährtenverwischung, und wenn ich etwas als sehr holzschnitthaft empfinden würde, so ist es etwas wie das Prunkzitat. Das dann doch bitte eher nicht!

Die Recherche ist praktisch nur eine Vor-Arbeit...

Auf jeden Fall.

...und sollte im Gedicht selbst nicht mehr kenntlich gemacht sein?

Das ist richtig.

Ich würde nun gern über Ihren Zyklus "Schiefrunde Perlen" sprechen, um einmal beispielhaft nach dem Zusammenhang Ihrer Gedichte mit der Malerei zu fragen. Sie beschäftigen sich darin mit den Werken von Juan Valdés Leal, dem Hauptmeister der Sevillaner Malschule. Wie kam es in diesem Fall zu der poetischen Auseinandersetzung mit der Malerei? Sie haben das ja schon oft gemacht, z. B. Vanitas-Stilleben bedichtet, in Ihren vorangehenden Gedichtbänden.

Dieses spezielle Thema Valdés Leal ist ein Zufall. Mein Freundes- und Bekanntenkreis weiß schon, wofür ich mich interessiere. Das sind dann Postkarten, die ich geschenkt bekommen habe, ich habe also nie das Original gesehen. Da lag es für mich auf der Hand, dieses Lupensystem, das Medium der Lupe, der Nahsicht, natürlich auch der geistigen Nahsicht, auf diese Verfallsästhetik anzuwenden. Und wenn Sie sich vorstellen, dass seit der Renaissance immer mit Spiegel- und Lupensystemen gearbeitet worden ist - Hockney hat darüber einen sehr aufschlussreichen Band veröffentlicht. Es ist für mich nie nur dieses reine Vanitas-Thema, dieses reine Sich-Ergötzen am Absterben, an verschiedenen Verwesungszuständen, sondern das Gemäldegedicht ist immer eine Suche nach dem Wie: wie wird in dem anderen Medium, der bildenden Kunst, gearbeitet? Und es ist auch nicht erst seit "Fernhandel", seit dem Ende der 90er Jahre, der Fall, dass ich mich mit Gemäldegedichten befasse, das ist schon in den 80er Jahren in "geschmacksverstärker" der Fall gewesen, wenn Sie an ein Gedicht wie "pathologischer boom" denken. Das ist immer eine Sache, die ich sehr verfolgt habe. Ich habe auch vor fünfzehn Jahren als Assistent einer Galeristin in Köln gearbeitet, und so kam das ganz selbstverständlich. Damals hatten ziemlich viele Künstler die Nase voll von irgendwelchen Bausätzen von Seiten der Kunstkritik, und da bin ich dann eingestiegen, indem ich das Gemäldegedicht reanimiert habe.

Bei Valdés Leal schildern Sie in "erste totenlade", wie Sie real auf Hilfsmittel zurückgreifen, in "Archäologischer Park" erzählen Sie von einer Fremdenführerin, die ironischerweise als leibhaftige Historia auftritt und das Fotografieren verbietet. Ist das auch eine bestimmte Vorsicht, dass Sie nicht versuchen, einen historischen oder künstlerischen Gegenstand sozusagen ,ungebrochen' darzustellen oder ins Heute zu tragen?

Nein, ich glaube eher, dass das eine Tatsache ist, dass Geschichte immer vermittelt ist. Geschichte wird bekanntermaßen von Siegern geschrieben, und da eine Geschichte von unten, eine oral vermittelte Geschichte, in Deutschland nie reüssierte - im Gegensatz etwa zu Frankreich - sind das immer Freilegungsversuche; es wird also versucht, hinter den Vorhang zu blicken, letzlich etwas Verbotenes zu tun.

Es ging mir darum, dass es bei Ihnen bemerkenswert ist, dass Sie auf das Medium auch immer hinweisen; andere mogeln das weg und wollen sich ,einfühlen'.

Ja, aber mit ,Einfühlen' allein ist noch keine Kunst zu machen.

In einem Interview mit FAZ.NET wiesen Sie bezüglich einer abzulehnenden Moralisierung seitens des Künstlers auf "Manhattan Mundraum Zwei" hin, eine Fortsetzung des in "morsch" veröffentlichten Zyklus'. Wie vermeiden Sie die von Ihnen angeprangerte "Lehrer-Lempelhaftigkeit", das Didaktische?

Dazu ist zu sagen, dass ich mir in diesem von Ihnen angesprochenen Gespräch den Luxus erlaubt habe, auf Schnellschüsse, nämlich moralisierender Art, mit Ekel zu reagieren. Das, was ich da sehr griffig und nicht minder populistisch gesagt habe, über diese Stammtischäußerungen zu weltpolitischen Ereignissen von Autoren, das ist eine Sache, die ich absolut nicht akzeptieren will. Und was das Moralisierende im Gedicht anbelangt, so denke ich, dass ich schon zu Beginn meiner Arbeit nicht zuletzt gegen diese abgerissene Bardenhaftigkeit des deutschen Gedichts angetreten bin. Ich verfasse keine Fibelreime und betone insofern den Unikatcharakter, die Nicht-Wiederholbarkeit einzelner Texte. Ich glaube einfach, dass dadurch ein Moralisieren schon ausgeschlossen werden kann.

Wollen Sie sich demnach - Peter Waterhouse hatte das zu dem Vorläufergedicht geschrieben - eines Urteils enthalten und ihm zufolge, das Gedicht eher der Stadt zuhören lassen, eventuell eine akustische Zustandsbeschreibung vermitteln?

Nein, das wäre wieder das rein Illustrative, das wäre Kunsthandwerk. Damit habe ich nichts zu tun! Das hieße ja, ein reines akustisches Design, in diesem Fall ein urbanes Design, gewissermaßen im Studio nachzustellen. Ich bin aber nicht der Mensch, der Kostümfilme drehen würde. Ein Urteil, naja, ich denke, das Gedicht ist nicht der Bundesgerichtshof, der letztinstanzlich etwas zu beurteilen hat, aber selbstverständlich ist das Gedicht in dem Moment, wenn Sie an "Manhattan Mundraum Zwei" denken, wieder ein Umgang mit einem Medium, mit dem optischen Medium TV als Manipulierungsinstrument. Kein l'art pour l'art, wenn Sie das meinen.

Eine ganz andere Frage: Sie haben oft mit anderen Künstlern zusammengearbeitet, mit Musikern und Fotografen. Auch zu dem Zyklus "Beowulf spricht" gibt es Fotografien von Ute Langanky, die zwar leider nicht in "Sondagen" zu sehen sind, allerdings in einem text+kritik-Band über Sie. Könnten Sie das Verhältnis Text/Foto, gerade Ihre Gedichte betreffend, erläutern? Das ist ja nicht rein illustrativ?

Die Hauptklippe, die es zu umschiffen gilt in einer Zusammenarbeit, wie ich sie mit Ute Langanky seit vielen Jahren betreibe, ist das Sich-Gegenseitige-Illustrieren. Das heißt, beide Künstler müssen sich einigen auf das Wild, das sie jagen wollen, was dann jeder auf seine Art macht. Ich übergebe das, wenn ich fertig bin mit den abgesprochenen Themen, Ute Langanky zur Endmontage. In diesem Fall stimmt das Wort, da ich selbst in meine Bücher nicht eingreife, im Gegensatz etwa zu Rainald Goetz oder Oswald Egger, die sehr genau aufpassen, wie das Buch aussieht. Im reinen Gedichtband kommt es eher auf die Anordnung an, für mich ist es aber immer so gewesen, dass visuelle Teile wie die Fotografie anspornend sind. Vielleicht könnte man es so sagen: Ich glaube, trotz schwerster Bedenken, die man ja haben muss, an das Wort, aber, das Bild verehre ich.

In der Gestaltung bleibt Ute Langanky hier also völlig frei, und Sie warten nach der Übergabe der Texte darauf, was sie daraus machen wird.

Genau. So haben wir beim Beowulf-Zyklus, der auf einen Segeltörn von Kiel nach Kopenhagen zurückgeht, - zu einem Zeitpunkt übrigens, wo ich nichts von Seamus Heaneys Beowulf-Neuübersetzung ins Neu-Englische wusste; deswegen ist der Text ausnahmsweise datiert - gemeinsame Erlebnisse verarbeitet: Ute Langanky hat die Segel fotografiert und dann meine Texte darauf gesetzt.

"Sondagen" liegt wie dem vorhergehenden Band "Fernhandel" eine CD, die von Ihnen so genannte "gebrannte Performance", bei. Ich hätte diesbezüglich einen Einwand, der auf die Frage abzielt, ob Ihre Lesung für den Rezipienten zum Vorteil oder Nachteil wird. Wenn Sie die Texte artikulieren, erklärt das über den Text hinaus viel, Sie nehmen ihm vielleicht aber auch einen gewissen Spielraum, indem Sie den Leser bevormunden.

Ja, bei dieser Form der Dienstleistung, der CD, denn letztlich ist das nichts anderes, da haben Sie vollkommen Recht, da gibt es natürlich die Möglichkeit, dass man einen Schauspieler hinsetzt, und dann haben Sie wieder ein anderes Ergebnis. Ich gebe immer eine Version vor, ermuntere aber auch die Leserinnen und Leser, selbst den Text laut zu lesen, weil sich dann von allein einiges erklärt.