Zur Anatomie eines Bucherfolges

Jonathan Franzens "Korrekturen"

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jonathans Franzens Roman gilt als der Romanerfolg des vergangenen Jahres. Von der Literaturkritik fast einhellig begeistert begrüßt, kann der Buchhandel unter anderem mit seiner Hilfe das schleppende Verkaufsgeschehen in der Phase einer tiefgreifenden Krise wenigstens zum Teil umdrehen. Noch zum Weihnachtsgeschäft schaltete der Verlag große Anzeigen für den Titel, der nun schon ein halbes Jahr ein beachtlicher Renner ist, und man kann das ja auch mit einem guten Gewissen tun, wo sonst anscheinend nur noch die Bohlens und andere erlauchte Geister als Marktrenner dienen. Es gibt also genügend Gründe, genauer nach den Ursachen des Erfolgs der "Korrekturen" zu forschen.

Die Stärken des Buches liegen auf der Hand und sollen hier nicht bezweifelt werden: Die eindringliche Schilderung eines Parkinson-Kranken, treffende Dialoge, viele witzige, teilweise gelungen parodistische Passagen, Elemente spannender Unterhaltung vom Polit-Krimi bis hin zur präzisen Schilderung des Treibens in der Finanzsphäre in Verbindung mit der new economy. All das verbunden mit einem scharfen Blick auf die Befindlichkeiten der modernen US-amerikanischen Mittelklasse und exemplifiziert an einer, durchaus als typisch gesehenen Familie - daher auch der häufig angestellte Vergleich mit den "Buddenbrooks". Die schlichte Addition all dieser Momente erklärt aber nicht allein den durchschlagenden Erfolg des Buches.

Ausschlaggebend für die Popularität des Romans scheint hingegen zunächst, dass Franzen die ganze Bandbreite des sozialen, ökonomischen (und zugleich historischen) Konfliktpotentials in der Gesellschaft der Moderne - egal, ob man sie als (Spät)Kapitalismus oder (Post)Moderne oder noch anders definiere - in die Familienform einpasst, genauer: in die der modernen Kleinfamilie, in der die Verwandten keine große Rolle mehr spielen, in der sich zudem die Kernfamilie selbst nach allen Richtungen hin aufzulösen scheint. Und in die Betrachtung der Familie als Ort und Sphäre der sozialen Auseinandersetzung kann sich jeder, vor dem Hintergrund der eigenen Biographie, teilnehmend einfühlen. Hier scheinen die "großen" Konflikte, die unsere Gesellschaft durchziehen, in eine Form gefasst, in der sie bewältigbar oder zumindest bearbeitbar erscheinen, in der es beispielsweise als individuelles Versagen erscheinen kann, wenn sie eben nicht bewältigt werden. Wenn ein Individuum nach Sartre immer ein "einzelnes Allgemeines" ist, so ist die Familie der primäre Ort, an dem das Allgemeine dem Subjekt seine Anforderungen nachdrücklich einprägt. Und neben dieser grundsätzlichen Bedeutung kommt das Thema Familie in letzter Zeit immer deutlicher auf die Tagesordnung, wenn man an die Debatten um die demographische Entwicklung, um die Zukunft der Versicherungssysteme, die Krise des Sozialstaates denkt. Was unter den aktuellen Schlagworten Privatisierung, Eigenbeteiligung usw. in der Politik mittlerweile immer deutlicher wird, ist, kurz gesagt, ein Abwälzen früher staatlicher und gesellschaftlicher Leistungen auf die Familien. Manche Kommentatoren sehen schon den Kampf der Generationen ausbrechen: wie lange lässt sich die Klasse der Beitragszahler noch von den Rentnern und Pensionisten ausbeuten?! All das könnten jedenfalls auch Gründe sein, wieso das Familienthema in letzter Zeit auf größeres Interesse stößt.

Einen der prominentesten Versuche der letzten zwanzig Jahre, die gewaltigen Umbruchsprozesse, die unsere Gesellschaft bei aller Starrheit von Klassen- und Schichtenzugehörigkeit durchziehen, zu erfassen, stellte Ulrich Becks "Die Risikogesellschaft" dar. Hierin widmet er ein eigenes Kapitel der Familie: "Vom Ohne-, Mit- und Gegeneinander der Geschlechter innerhalb der Familie", und arbeitet ausführlich heraus, wie die Unsicherheit in Rollenbeschreibung, die ökonomische Ausdifferenzierung etc. sich im Kampf von Mann und Frau innerhalb ihrer Beziehung - und die Familie ist der überkommene Ort dieser Beziehung - niederschlägt. Treffend heißt es da: "In allen Formen des Zusammenlebens von Frauen und Männern (vor, in, neben und nach der Ehe) brechen die Jahrhundert-Konflikte hervor. Sie zeigen dort immer ihr privates, persönliches Gesicht. Doch die Familie ist nur Ort, nicht Ursache des Geschehens. Man kann die Bühnen wechseln. Das Stück, das gespielt wird, bleibt dasselbe."

Welches also ist Franzens Bühne? Welche Modellanordnung entwirft er mit seiner Romanfamilie?

Alfred und Enid Lambert sind konzipiert als die klassisch-überkommene Familie aus dem Herzen der USA, dem Mittleren Westen, mit klaren Moralvorstellungen, festen Arbeitsprinzipien, drei Kindern, eigenem Haus. Sie genießen mäßigen Wohlstand, sind interessiert an der kleinbürgerlichen Community, an deren Leitbildern sie sich orientieren (und die sie faktisch ihrerseits reproduzieren). Alfred hat eine durchaus erfolgreiche Karriere als Bahningenieur hinter sich. Nach seinem Ausscheiden ist das Unternehmen, bei dem er tätig war, mittlerweile von mächtigeren Kapitalgruppen übernommen, ausgeweidet und der Bahnbetrieb praktisch stillgelegt worden.

Die historische Überlebtheit ihrer Werte zeigt sich in ihrer beider Unvermögen, die aktuellen Entwicklungen zu begreifen und sich auf sie einzustellen (Alfreds Weigerung, ein Patent "angemessen" zu vermarkten, Enids Unfähigkeit, abweichende Lebensstile zu akzeptieren). Diese Rückständigkeit gefährdet, parallel zu ihrem biographischen Altern, ihre Existenzgrundlage und führt zur weiteren Erstarrung ihrer Dispositionen und ihres Habitus (Alfreds puritanische Rigidität, Enids von Enge und Prüderie geprägte Penetranz). Dem entspricht Alfreds ultrareaktionäre Haltung im Politischen, sein ausgeprägter Rassismus. In Alfreds raschem, durch Krankheit bewirkten Verfall ebenso wie in dessen erheblich verzögerteren Verlauf bei Enid (starre Fixiertheit auf ein "letztes Weihnachten", eine "tolle Kreuzfahrt", die beide mit unrealistischen Glückserwartungen überfrachtet werden) schlägt sich dieser Niedergang als subjektive Tragödie nieder.

Die Handlungsanordnung, in der alle Fäden auf Enids "letztes Weihnachten" zulaufen, ist mit großem Geschick gewählt und erlaubt es, die divergierenden Einzelgeschichten "wie einen Rollbraten" (F. A. Z.) zusammenzubinden. Das Festhalten an starren Ritualen, wie es für ihren Lebensstil typisch ist, enthüllt sich als Kampf darum, die Kinder mit hohem moralischen Druck auf ihre Rolle als Kinder festzulegen - und den damit verbundenen Pflichten in der herkömmlichen Familie, denn die bislang unterdrückte Frage steht im Raum: wer versorgt die Eltern im Stande ihrer Hinfälligkeit? Weihnachten ist dabei das am höchsten symbolisch besetzte Familienfest, in der sich die Familie regelmäßig als ganze feiert (alle anderen Feiern sind durch ihre Einmaligkeit gekennzeichnet oder nur auf eine Person zugeschnitten). Moralischer Druck allein kann in den heutigen Zeiten nicht mehr funktionieren und greift auch im Roman nur teilweise. Welch symbolische Bedeutung der Einhaltung der Rituale zukommt, macht eine kleine Szene sehr deutlich, als sich Denise, die Jüngste, weigert, für Enid eine kleine Christuskrippe an einem Adventskalender anzubringen, obwohl dies winzige Ritual doch in Denises Kindheit für Denise, laut Enid, "immer das Schönste" an Weihnachten gewesen sei.

Der Lebensentwurf der Kinder, die alle in unterschiedlicher Weise, aber mit gleicher Intensität an den dynamischen Prozessen des "modernen Lebens" teilnehmen, steht unter der Anforderung, in Abgrenzung von den Vorstellungen ihrer Eltern einen eigenen Weg zu finden. Zugleich weist ihnen Franzen eigene Sphären zu, in denen sie tätig sein sollen (und mit deren Schilderung das Buch aufgebläht wird): Gary, dem Ältesten, die moderne Ökonomie (er arbeitet als erfolgreicher Investmentbanker), Chip, dem jüngeren Bruder, die akademische sowie die Medien-Welt (er ist zunächst Literaturdozent am College, dann Drehbuchschreiber), Denise, dem Küken, die Sphäre der Luxuskonsumtion (als Spitzenköchin).

Diese drei Lebensläufe werden ausführlich geschildert und lassen sich unter dem Aspekt, wie sie mit dem tradierten Familienbild umgehen, interpretieren, ihre Unterschiede ergeben sich aus Art und Intensität der Auseinandersetzung mit und Abgrenzung vom elterlichen Vorbild.

Die interessanteste Figur ist für mich ohne Zweifel Gary. Mit seinem beruflichen Erfolg und einer "richtigen" Ehe mit drei Kindern kommt er der Familienform der Elterngeneration am nächsten. Aber da gibt es bezeichnende Modifikationen. Seine Frau Caroline, die selber viele Jahre als Anwältin gearbeitet hat und über ein großes Erbe verfügt, ist nicht mehr wie Enid vom Verdienst ihres Mannes abhängig. Sie lässt sich auch nicht mehr die Sphäre der Hausarbeit zuweisen; im Gegenteil, wenn in ihrem Fast-Food- und Pizzaservice-geprägten Haushalt noch einer kocht und dies als Ritual noch gerne macht, ist dies Gary. Die sexuelle Anziehungskraft beider aufeinander funktioniert noch. Verdeckt, aber immer offener und im Roman geschildert als veritabler Ehekrieg eskaliert aber der Kampf um Einfluss auf die drei Kinder. Caroline, das all american girl, versucht sich in ihren Kindern zu realisieren und schafft es im Streit um die Frage, ob die Familie zu Enids Weihnachtsfest anreist, auch noch das jüngste der Kinder auf ihre Seite zu ziehen. In diesem Machtkampf ist sie Gary von vornherein überlegen, da sie alle Psychotricks einsetzt vom klassischen Spiel, das kleine verwundete Frauchen zu geben, bis dahin, dass sie Gary den Verdacht einflößt, er sei klinisch depressiv - und nachdem er, der im starren Beharren auf den Tatsachen den kürzeren zieht, schließlich seine Niederlage eingesteht, schläft sie zur Belohnung mit ihm. Seinen Eltern gegenüber wiederum - vom Vater hat er das Pflichtbewusstsein geerbt, von der Mutter die Penetranz übernommen - fühlt sich Gary zwar verpflichtet, die Rolle des pater familias zu übernehmen, die zu spielen Alfred offensichtlich nicht mehr imstande ist. Aber er tut das mit großer Kälte und einer gewissen Brutalität vor allem im Hinblick darauf, dass er sich von drohenden Pflegepflichten befreien will, und keineswegs uneigennützig, insofern er noch Geld aus Alfreds alten Erfindungen zu machen versucht.

Den Gegenpol zu Gary bildet sein jüngerer Bruder Chip, von diesem als "Soziopath" bezeichnet und von Franzen in der entsprechenden Kapitelüberschrift unverblümt als "Der Versager" präsentiert. Er versucht der Familienbindung durch Flucht zu entkommen, entscheidet sich zu "alternativen" Lebensentwürfen und zur sexuellen Promiskuität. Seine Schilderung erscheint am stärksten als bloße Parodie, die Abschweifungen zur Campus-Satire, die Seitenhiebe auf die Political correctness und ähnliches, die lange Abschweifung zu seinem Politkrimi-Abenteuer in Osteuropa sind nett zu lesen, aber für das zentrale Thema überflüssig, erzählerische Dreingabe. Es erscheint ausgesprochen willkürlich, dass ausgerechnet der als notorisch unzuverlässig bekannte Chip zum Schluss seine Pflichten als Sohn vorbildlich wahrnimmt und dafür dann auch gleich mit einer idealen Lebensgefährtin belohnt wird, mit der er dann ohne großes Federlesen eine prächtige Familie gründet. Nach der allzu heftigen Ablehnung des elterlichen Vorbildes (Alfred und Enid sind gleichwohl noch Titanen für ihn) soll die Kehrtwende zur Kleinfamilie um so drastischer ausfallen, ohne dass dies erzählerisch zwingend erscheint.

Denise schließlich, die Tochter, spielt eben diese Rolle am überzeugendsten und ist emotional am stärksten in das Familiendrama involviert. Beruflich gelingt ihr zunächst der Start in eine glänzende Karriere. Eine Ehe mit einem viel älteren Mann, also - verkürzt gesagt - einem Vaterersatz, scheitert jedoch rasch. Anschließend macht sie den Fehler, mit der Frau ihres Chefs und zu gleicher Zeit mit diesem zu schlafen, was ihrer Karriere einen jähen Knick beschert. Privat- und Berufsleben sind nicht ohne Gefahr miteinander zu vermengen. Zum Weihnachtsfest und auch später kommt sie am ehesten den Wünschen ihrer Eltern entgegen, sie übernimmt die traditionelle Rolle der Tochter, die sich für ihre Eltern opfert (und auch deshalb kinder- und partnerlos bleibt).

Im Ergebnis also zwei jedenfalls zum Zeitpunkt der Romanhandlung gescheiterte Karrieren und eine, die zwar erfolgreich ist, aber um den Preis der Niederlage im ehelichen Machtkampf erkauft ist. Spiegelbildlich dazu nehmen diejenigen, die in beruflicher Hinsicht eher chaotisch agieren, in größerer Intensität die Verpflichtungen gegenüber ihren Eltern wahr.

Welches Familienbild zeichnet der Roman also, zumindest, insofern es von der älteren Generation noch als selbstverständlich umgesetzt wird?

Eines von Kampf, Rivalität und Dauerkrieg, von erbittertem Rückzug einerseits und hilfloser Nerverei andererseits. Oder, wie Alfred sagt: "Es gibt Dinge im Leben, die schlicht und einfach ausgehalten werden müssen." Kurz gesagt, man muss die Sache mit Anstand hinter sich bringen. "Die Fähigkeit zu lieben war das Einzige, was sie je besessen hatte", heißt es beiläufig über Enid. Ihre Liebe gegenüber dem schroffen Schopenhauerianer, der vor jeder Berührung zurückzuckt, verpufft aber ins Leere, und gegenüber den Kindern äußert sie sich in penetranter Bevormundung und Krittelei. Alfred seinerseits liebt trotz seiner Härte seine Kinder durchaus, wie im Laufe des Romans deutlich wird. Die eigentliche Tragödie zumindest dieser Familienkonstellation scheint, dass die Eltern ihre Liebe zu den Kindern nicht zeigen können. Und zusammen bleiben sie, weil das die Konvention verlangt, aneinandergekettet in Liebeshass und in den Rollen von Hagestolz versus Nervensäge unabänderlich aufeinander fixiert. Undenkbar, dass Enid allein eine Kreuzfahrt macht, obwohl Alfred solche Aktivitäten verabscheut. Er weigert sich jedoch auch nicht. Genau austariert sind die Einflusszonen innerhalb der Familie, und nach außen hält man zusammen.

Die Schilderung dieser Beziehung wirkt hoch plausibel, die Bindungskräfte der entsprechenden Traditionen sind jedoch verloren gegangen, zumindest schwächer geworden, und stellen die nachfolgende Generation vor ganz neue Fragen. Es wirkt wie eine Paraphrase auf diese Situation, wenn Beck schreibt: "Noch in den sechziger Jahren besaßen Familie, Ehe und Beruf als Bündelung von Lebensplänen, Lebenslagen und Biographien weitgehend Verbindlichkeit. Inzwischen sind in allen Bezugspunkten Wahlmöglichkeiten und Zwänge aufgebrochen. Es ist nicht mehr klar, ob man heiratet, wann man heiratet, ob man zusammenlebt und nicht heiratet, heiratet und nicht zusammenlebt, ob man das Kind innerhalb oder außerhalb der Familie empfängt oder aufzieht, mit dem, mit dem man zusammenlebt, oder mit dem, den man liebt, der aber mit einer anderen zusammenlebt, vor oder nach der Karriere oder mitten drin." Diese Differenz markiert exakt den tiefen Bruch zwischen den beiden Generationen der Lamberts; ihn in seiner ganzen Tragweite spürbar zu machen, ist kein geringes Verdienst der "Korrekturen".

Zwar zeigt Franzen in den Beziehungen der Lambertschen Kinder die Orientierungslosigkeit mit einerseits offenen Machtkämpfen in der Ehe, andererseits rasch wechselnden und meist vom Scheitern bedrohten Anläufen, feste Verhältnisse einzugehen, wenngleich, wie Beck schreibt, auch für die Jüngeren "das Ideal stabiler Partnerschaft im Vordergrund" steht, das Wunschbild der lebenslang andauernden Liebe weiterhin wirkt. Es gelingt dem Autor jedoch mit entschieden weniger Eindringlichkeit als in der Schilderung der Eltern, das Verhalten der "mitten im Leben" stehenden Generation, d. h. der heute 30- bis 50jährigen, plausibel darzustellen. In der Stillage drückt sich das im Schwanken zwischen realistischer und satirischer Erzählhaltung aus. Seine meist satirische Zeichnung heutigen Familienlebens fällt gegenüber der Beobachtung der Älteren so stark ab, dass das überkommene Familienbild mit seinen offenen Despotien, aber klaren Regeln fast als Idyll erscheint. In manchen Interviews zeigt Franzen erstaunlich wenig Gespür dafür, welche historischen Prozesse dem Wandel des Familienbildes zugrunde liegen.

"Franzen: Das große Problem unserer Zeit. Uns geht es zu gut. Wer kämpfen muß, um drei Kinder durchzubringen oder seine 83jährige Mutter zu pflegen oder auch um eine repressive Regierung abzuschütteln, fragt nicht nach Sinn. Mühsal und Entbehrungen geben dem Leben Sinn. Unsere Eltern haben das noch erlebt, wir nicht mehr.

Focus: Ist Ihr Buch also auch ein Plädoyer für die ältere Generation?

Franzen: Ja, wir haben in der 60er und 70er-Jahren viele der Werte, die Menschen wie Enid und Alfred - die Eltern in meinem Buch - auszeichnen, zurückgewiesen. Das war nicht durchweg gut.

Focus: Die 50er waren aber auch eine sehr unfreie Zeit, geprägt von gesellschaftlichen Konventionen.

Franzen: Aber die gaben auch Sicherheit. Enid und Alfred wissen, wo ihr Platz ist. Alfred geht zur Arbeit, Enid sorgt für die Familie. Natürlich gibt es Frustrationen, aber sie müssen nicht darüber nachgrübeln, ob sie das Richtige tun, denn alle tun dasselbe. Und sie sind absolut loyal zueinander. Loyalität ist keine schlechte Eigenschaft. Die Familie ist ihnen sehr wichtig. Sie bietet allen einen Bezugspunkt. Das Leben war gefestigter damals, auch wenn es in vielerlei Hinsicht ein Leben im Gefängnis war." (Focus 26/2002)

Es erscheint fast, als ob wir die Wahl hätten, zu den früheren Verhältnissen zurückzukehren.

Die Begriffslosigkeit, die sich in diesem Interview äußert, hat auch literarische Konsequenzen, wenn es um die Plausibilität des Verhaltens seiner Figuren geht. Nicht nur hat Franzen, wie auch wohlmeinende Besprechungen einräumen, einen "ausgesprochenen Hang zu billigen Effekten" (F. A. Z.), sondern er neigt in mindestens dreifacher Hinsicht zur Übermotivierung des Verhaltens seiner Figuren, zur Interpretation mittels einfacher Motive, die nicht subtil angedeutet oder allmählich entwickelt, sondern dem Leser mit dem Vorschlaghammer eingebläut werden und die, auch wenn man sie zusammendenkt, nicht ausreichen, um die ganzen Facetten des Familienthemas mit all seinen Implikationen durchsichtiger zu machen.

Zu Beginn des ersten Kapitels bemüht sich Franzen, Alfred und Enid allein in ihrem Haus zu zeigen und dabei die schwelende Unsicherheit, die bei den beiden Alten um sich greift, als Stimmung nicht nur anzudeuten, sondern auf ein umfassendes Gefühl existenzieller Verunsicherung auszuweiten. Aber wie wird die Angst als Motiv eingeführt?

"Überall im Haus läutete eine Alarmglocke, die außer Alfred und Enid niemand hörte. Es war die Alarmglocke der Angst [...] sie läutete seit so vielen Monaten, dass das Geräusch zu einer Art Metageräusch geworden war, dessen An- und Abschwellen nichts mehr mit dem Rhythmus von Schallwellen zu tun hatte, sondern allein mit dem viel, viel langsamer zu- und abnehmenden Bewusstsein dieses Geräuschs, einem Bewusstsein, das immer dann besonders geschärft war, wenn das Wetter selbst von Angst geprägt schien. Dann hatten Enid und Alfred [...] jeder für sich das Gefühl, sie müssten vor Angst zerspringen."

Die "Alarmglocke" der Angst taucht noch einmal auf in einer Situation der Bedrohung durch Alfreds wahnhafte Halluzinationen. Dort und in der Weihnachtsnacht, als sich diese Angst auf Gary überträgt, scheint dies schlüssig. Für das alltägliche Durchwursteln gilt doch aber eher, dass Enid und Alfred auf ihre Art beharrlich dagegen ankämpfen, dass ihnen die Dinge entgleiten. Ihre wenngleich schwindende Widerstandskraft deckt sich jedoch nicht mit diesem Auftakt, in dem eine allumfassende Panik beschworen wird. Gelähmt oder auch nur ängstlich wirken beide jedenfalls nicht. Alfred wird geradezu durch seine hartnäckige Fähigkeit zum Widerstand, zur Verweigerung bis in die Sterbeszene hinein charakterisiert.

Apropos: Im Prolog unterläuft Franzen ein weiterer grober Schnitzer. Die eindrucksvolle Schilderung des Streits um einen Sessel, der als symbolisch überhöhtes Objekt ihres Machtkampfs fungiert, wird falsch überhöht und verallgemeinert: "darum landete er im Keller, und Alfred folgte ihm. So kam es, dass im Haus der Lamberts, wie in St. Jude, wie im ganzen Land, das Leben unterirdisch gelebt wurde."

Dabei wäre es einleuchtender, dass die Machtsphären und Reiche deutlich voneinander getrennt würden, im Sinne von Küche versus Arbeitszimmer - aber nicht, dass alles Leben "im ganzen Land" eingebunkert erscheint.

Das zweite überstrapazierte Motiv ist die Depression (und, als ihre Kehrseite: die Medikation; praktisch alle Figuren schlucken [Psycho]Pharmaka).

Zu Beginn des zweiten Kapitels, das Gary kurz vor dem Ausbruch des Machtkampfes um die Weihnachtsfahrt zu seinen Eltern schildert, wird dieses Gefühl, der Wahn, depressiv zu sein, auf fünf Seiten in wechselnden Formulierungen mindestens zwölf Mal ausgesprochen. Später werfen sich Gary und sein Vater wechselseitig vor, klinisch depressiv zu sein. Nun mag die depressive Befindlichkeit nicht wie in Alteuropa mit dem Stigma des Verrückten behaftet zu sein, sondern der Gang zum Therapeuten bei gutverdienenden US-Mittelklasseexistenzen ebenso üblich zu sein wie bei uns der Gang zum Zahnarzt. Dieses Motiv erlaubt ferner, in der Geschichte mit dem Kampf um Alfreds Patent, die auseinanderstrebenden Handlungsmomente enger aneinander zu koppeln und eine Menge satirischer Glanzlichter zu setzen. Bei übermäßiger Häufung erweist sich das Motiv jedoch als wohlfeile Wortmünze, wenn etwa ein pensionierter Vorstandsvorsitzender auf dem Kreuzfahrtschiff bemerkt: "Ich frage mich, ob sich da eine kollektive Depression anbahnt, weltweit" (Derselbe Sprecher bemerkt an anderer Stelle treffend: "Dass die schwedische Sexbombe ein müdes Klischee ist, ist selbst schon ein müdes Klischee." Die Depression droht so zu einem bloßen Synonym zu werden für alles, was zwischen schlechter Stimmung und klinischem Befund liegt; etwa in der Art, in die US-Amerikaner offenbar alles, was sie nicht gleich mögen, "hassen", und was sie mögen, "lieben".)

Das dritte und zentrale Motiv ist das der Korrektur bzw. der Korrekturversuche.

Dies titelgebende Motiv wird am Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern durchdekliniert. Zwar ist es einleuchtend (wiewohl banal), wie prägend für die Wahl der Lebensentwürfe das elterliche Vorbild ist. Ich spare mir, die Stellen zu zitieren, an denen die Versuche der Kinder erwähnt werden, die Lebensentwürfe ihrer Eltern zu "korrigieren"; ganz zu schweigen davon, dass Chip zeitweise als Korrekturleser arbeitet und permanent versucht, an einem Filmskript Korrekturen anzubringen. Der Titel eines Vortrags über Aktienkultur heißt natürlich: "Wie man die Korrekturen überlebt".

Die Korrekturversuche der Kinder scheitern alle. Die Familie wirkt als unhintergehbares Leitbild, sei es im Falle Gary, sei es im Falle Chip, für den Franzen kurzerhand eine Idealfamilie aus dem Hut zieht. Überzeugend ist das alles nicht. Der Bindungskitt zwischen den Menschen, die Dialektik von Streit, Kompromiss und möglicher Einsicht, punktueller Verhaltensänderung, um von Formen der Zuneigung nicht zu reden, die ihrerseits die Basis für Kompromissfähigkeit bilden, kommen so gerade nicht in den Blick. Ihre Bedeutung wächst aber heute gerade in dem Maße, wie die alten Bindungskräfte nachlassen. Die Schlussidylle wirkt deshalb trotz der Schilderung von Alfreds Tod deutlich so, als wolle der Erzähler erleichtert reinen Tisch machen und für ein positives Ende sorgen.

Wenn das Ende enttäuscht, ist das nicht bloß ein falsch konstruierter Epilog, sondern Konsequenz erzählerischer Schwächen, die bereits vorher offenkundig waren. Man muss festellen, dass Franzen sich für die heute aktive Generation der Erwachsenen eine ähnlich scharfe Beschreibung wie die des Verhaltens von deren Eltern erspart. Zwar werden die vielfältigen Einflüsse, die die sozialen Umstände und das Zeitklima auf die heutigen Formen von "Beziehungsarbeit" und die vielfältigen Kämpfe in den modernen Familien haben, durchaus deutlich, aber wie die Personen damit umgehen, bleibt blass (ganz deutlich etwa bei den Partnerinnen von Gary und Chip), und ihr Bewusstsein und ihr Handlungspotential erscheinen auf wenige Standardmotive reduziert.

Die Leseridentifikation, die der Autor erzeugt hat, indem er das Spannungsfeld zwischen Älteren und Jüngeren entworfen hat, die Kämpfe um Identifikation und Distanzierung, Übernahme von Verantwortung füreinander usw. wird damit nicht an einen Punkt getrieben, wo wir als Leser Einsichten in unser eigenes Verhalten gewinnen könnten. Dafür jedoch bietet Franzen Unterhaltung, wenn auch zu ermäßigten Preisen. Dass dies kein Zufall ist, belegt sein großer Essay über William Gaddis, den die "F. A. Z." in ihrer Literaturbeilage abgedruckt hat (5.11.02). Es handelt sich, ohne dass dieser Aufsatz hier ausführlich kritisiert werden kann, um eine diffamierende Polemik gegen ein ehemaliges großes Vorbild, auf dessen "Fälschung" sich noch der Titel der "Korrekturen" bezieht, mehr noch um einen Generalangriff auf alle Romane mit theoretischem Anspruch, auf alle großen Werke, die kompliziert scheinen, weil sie dem Leser etwas abverlangen. Franzens Philippika für die pure Unterhaltung, begriffen als Gegensatz zur "reinen" Kunst, seine Theoriefeindlichkeit, die sich schon als Polemik gegen "blutleere" Theorie in den Campus-Passagen der "Korrekturen" niederschlägt, lässt nichts Gutes für seine Zukunft als Autor erwarten.

Titelbild

Jonathan Franzen: Die Korrekturen. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
780 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3498020862

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