An der Schwelle der Zeitalter

Ute Welschers poetologische Re-Lektüre von Heinrich Manns Spätwerk

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als ein Kennzeichen der Postmoderne und ihrer Vertreter firmierte das ungebrochene Selbstbewusstsein, zwischen den ästhetischen Zeugnissen der Moderne und Postmoderne wie zwischen Teufel und Weihwasser zu unterscheiden. Der Kanon des westlichen Abendlandes stand auf dem Prüfstand und kein Schriftsteller, der nicht vor der theoretisch bewanderten Re-Lektüre und der anschließenden Verdammung oder dem Aufstieg in den Olymp sicher war. Nun also auch der Lübecker Heinrich Mann, der nach Meinung hochgelobter Kritiker ästhetisch so gar nicht mit seinem Bruder Thomas Mann konkurrieren konnte?

Das im Exil entstandene Spätwerk, die Romane "Empfang bei der Welt", "Der Atem", der szenische Entwurf "Lidice" und sein autobiographisch-enzykoplädisch angelegtes Resümee "Ein Zeitalter wird besichtigt" stehen im Mittelpunkt von Ute Welschers klug vorgetragenen Überlegungen. Geleitet werden diese von der These, dass der Autor in allen Texten auf unterschiedlichen Ebenen eine selbstreflexiv und metafiktional gefärbte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit zur Disposition stellt.

Welscher stellt die Zugänge über die Topoi des "Sprechens", des "Spielens", des "Erinnerns" und des "Schweigens" in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. In Abgrenzung zu den parallel entstandenen Essays diagnostiziert die Autorin eine alle analysierten Werke übergreifende komplexe und nicht mehr auf eine ein-eindeutige Interpretation festgelegte Wirklichkeits- und Textkonstruktion. Als Teile einer modernen Sprachskepsis werden u. a. verschachtelte Erzähltechniken, die in den Romanen angelegte und inszenierte Mehrsprachigkeit der Texte und die Infragestellung der Sprache durch die Figuren dechiffriert. Die der Feststellung, dass Wirklichkeit eine sprachproduzierte Konstruktion ist und dass der Autor keine geschlossene und im alten Verständnis sinnhafte (Roman-)Wirklichkeit vorstellt, folgende Konsequenz ist die Implikation eines idealen durchgängig aufmerksamen, weil in das Erzählverfahren eingebundenen Leser, der den Konstruktionsprozess als Teil der mehrdimensionalen Erzählung begreift und die Reflexion der eigenen und der fremden Sprache auf vielen Ebenen mit vollzieht. Sprechen wird in dieser Konsequenz sowohl zum Teil der Handlung, als auch - und darauf weist die Autorin zurecht hin - zur Auseinandersetzung mit den historischen, literarischen, sozialen und biographischen Formen der (eigenen) Wirklichkeitskonstruktion, die im Exil zudem eine gesellschaftlich-biografisch forcierte Brisanz bekommt.

Im Rahmen dieses Ansatzes, der auf die Metafiktionalität und Selbstreflexion des Werkes abhebt, werden auch die poetologischen Formen und Kategorien des Schweigens, des Spiels und des Erinnerns in den differenzierten Blick genommen. Hierbei kommen sowohl die Eigenheiten des jeweiligen Textes als auch deren übergreifende Gemeinsamkeiten deutlich heraus. Es werden Bezüge zum Theatralischen des Frühwerks ebenso deutlich, wie die komplexen Funktionen des Erzählers, den Grenzen und Möglichkeiten des Schreibens bei der Vergegenwärtigung des Wissens und der grundsätzlich geschichts-generativen Funktion von Texten.

Wenn man auch manche psychologischen Schlussfolgerungen der Autorin nicht teilt bzw. einige Ableitungen für sehr weit hergeholt erachtet, bleibt festzuhalten, dass Welscher mit einigen zentralen Vorurteilen der Heinrich Mann-Rezeption gründlich aufräumt. Nicht nur, dass sie das amerikanische Exil über ihren ästhetischen Zugang hinsichtlich der schriftstellerischen Qualität neu bewertet, insgesamt forciert sie die längst überfällige poetologische Auseinandersetzung mit dem Werk Heinrich Manns, die Ralf Siebert in seiner Analyse der satirischen Strukturen vor kurzem einläutete. Als weiterer Beleg für diese Verbindung firmiert die von Welscher herausgearbeitete Integration des ethischen und politischen Moments in die Romanästhetik. Selbstreflexion und Metafiktion werden selbst vor dem Hintergrund einer Negation der eindimensionalen Wirklichkeit nicht zu einer folgenlosen Spielerei degradiert, sondern als ,neue-alte' Synthese stark gemacht. Auch wenn sich Welscher die intellektuellen Früchte ihrer Arbeit selbst streitig macht, indem sie die auch in ihrer Arbeit angedeuteten Verbindungslinien zum Frühwerk nicht weiter ausarbeitet und an einigen Stellen sogar (überflüssigerweise) explizit negiert, ist hier die richtige Spur gelegt, um nicht nur eine Neubewertung des Schriftstellers Heinrich Mann zu ermöglichen, sondern auch um die Zeit seines Amerikaaufenthaltes differenzierter und endlich einmal vorurteilsfrei und auf der Basis der tatsächlichen Text- und Lebenszeugnisse zu bewerten. Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion um das Etikett Modern oder Postmodern zwar interessant, bar in letzter Konsequenz möglicherweise belanglos - Welscher verortet das Spätwerk übrigens auf der "Schnittstelle". Viel wichtiger ist die Korrektur des Verständnisses und einer längst überholten Rezeption des Werkes von Heinrich Mann, dem auch - und hier kann man sich vorbehaltlos der unlängst von Willi Jasper in der "Zeit" vorgetragenen Forderung anschließen - der für die Herausgabe der Studienausgabe verantwortliche S.Fischer-Verlag endlich mutige Taten folgen lassen sollte.

Titelbild

Ute Welscher: Sprechen, Spielen, Erinnern.
Bouvier Verlag, Bonn 2002.
315 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3416030087

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