Perlentaucher

Naja Marie Aidt erzählt, warum Rapunzel weint und Barbiepuppen sterben wollen

Von Christina LangnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Langner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ausgerechnet die Eingangsgeschichte der insgesamt neun Erzählungen des ersten Prosabandes der Kopenhagenerin Naja Marie Aidt mag einen nicht recht erfreuen. Das Ganze lockt anfänglich durchaus mit sich andeutendem zartem Glanz, doch will es nicht zum Strahlen kommen. Stumpf und ohne Leben kommt dieses Entree daher, dessen Titel das allemal verlockende Versprechen macht, ein Geheimnis zu verraten: Das Geheimnis, "Wie die Engel fliegen".

Die liebenswert-abstoßende Protagonistin erinnert sich hier an einen Typen mit dem seltsam anmutenden Namen Creepy. Hörig war sie ihm und wäre es wahrlich gerne noch immer ganz und gar. Creepy lebte und liebte gemeinsam mit seiner Anakonda Plexus in einem heruntergekommenen Abrisshaus und umgab sich dort mit einem ganzen Harem von Mädchen, die ihn wie einen Guru verehrten. Sie alle rissen sich darum, einmal von ihm in seinem mit weißem Satin ausgeschlagenen schwarzen Sarg so richtig durchgevögelt zu werden. Harter, erbarmungsloser, erniedrigender Sex. Das war es, wonach sich Creepys Mädchen verzehrten. Er gebrauchte sie nur zu diesem einen Zweck, und für seinen Orgasmus gaben sie sich leidend-genussvoll brutalsten Sexualpraktiken hin.

Unter ihnen eben Aidts Ich-Erzählerin, die nicht davon ablassen will, dem Leser beständig ins Gedächtnis zu rufen - und dabei zeigt Aidt bedauerlicherweise überhaupt keine Bemühung um Variation in der Wortwahl - dass sie "wirklich ziemlich scharf auf Creepy war". Im Drogen- und Alkoholrausch der Welt entrückt, kam es ihr auf dem Höhepunkt der Lust und Erniedrigung vor, als flatterte der Vogel, den Creepy in einer Flasche mit Spirituslösung aufbewahrte, mit den Flügeln. Sie sah dabei aus, "wie eine Barbiepuppe, die gern sterben will".

Bizarre, masochistische Sexszenen und noch bizarrere Formulierungen und Metaphern, um das ganze abgefahrene Wirrwahr zu beschreiben, ersticken den Rhythmus des Geschehens im Keim. Die Geschichte weist in alle Richtungen und findet nie ihren Weg. Da passieren Perspektivenwechsel, die selbst der aufmerksamste Leser nur im Rückblick erahnen kann. Die Erzählung steuert ihrem Höhepunkt nur schwerfällig entgegen und mündet schließlich in ein okkultes Horrorfinale, in dem sich weder Sinn noch Unsinn findet und das den Leser mit leeren Händen stehen lässt - enttäuscht und allein, aber dennoch nicht gänzlich ohne Hoffnung. Irgendwie war da etwas in dieser Geschichte, ganz gleich wie wild, unentschlossen, skizzenhaft und unvollkommen sie sich präsentieren mag.

Dem Leser sei angeraten, diesem nicht einzuordnenden Gefühl der Hoffnung auf Besserung zu trauen, weiter zu blättern und nach den Perlen zu tauchen. Kein leichtes Unterfangen, Perlen sind bekanntlich rar. So wird er noch einige Male ohne Beute auftauchen, nach Luft schnappen und sich abermals zu einem Tauchgang in das kalte Nass überwinden müssen. Zum Ende hin soll sich die ganze Schererei auszahlen. Dem fehlgeschlagenen Anfang steht ein beachtlicher Abschluss entgegen. Hier versteckt sich die reinste aller Perlen des Bandes. Deren Schimmern freilich, ließ sich schon auf halber Strecke erahnen.

Auf die Engel sollte man achten! Alsdann lässt es sich möglicherweise doch ausmachen, wie sie fliegen, die Engel. Denn ihrer gibt es in dem kleinen Band "Das Wasserzeichen" viele. Sie fliegen überall umher, in den Geschichten. Sie entfliehen der einen und versuchen in der anderen Fuß zu fassen. Manchmal wird die Erzählerin selbst zu einem Engel oder sie träumt, sie wäre einer. Mit dem Fliegen will es allerdings nie so recht klappen. Aidts Engel stürzen ab, landen unsanft oder vermögen es gar nicht erst abzuheben und in himmlische Sphären zu entschwirren. Es ist eben immer nur Geträumtes, was hier erzählt wird. Sicherlich wäre das Leben unerträglich, wenn wir nie träumten. Doch diese Träume wärmen nicht, sie sind irgendwie tot ohne je gelebt zu haben. Die zumeist weiblichen Protagonisten geben sich kleinen Mädchenphantasien hin. Solcherlei Spinnereien von Mädchen, die ihr Haar wachsen lassen, damit es lang genug werde und sie es, wenn sie groß und schön sind, wie Rapunzel ihrem Märchenprinzen den Turm herunterlassen können;

- damit er sie retten möge. Und mit dem Prinzen würden sie dann hinwegreiten, hinweg in die Welt, die sich in ihren schönsten Farben vor ihnen präsentieren würde. In der Erzählung "Ist die Welt klein" begegnen wir Rapunzel mit dem langem Haar dann tatsächlich. Das Wesen aus dem Märchen ist bereits erwachsen und hat den Mann, den sie einst für ihren Prinzen hielt, geheiratet. Natürlich hat sie sich getäuscht und ist nun gefangen im Turm ihres eigenen Lebens. Rapunzels Haar hängt strähnig herunter und eigentlich müsste sie es abschneiden lassen. Das was von dem Mädchentraum übrig bleibt sind gerade diese Haare, die einst golden in der Sonne leuchteten. Rapunzel hat längst bemerkt, dass die Farbe und mit ihr der Kindheitstraum verblasst sind.

Der Leser begleitet die märchenhafte Gestalt in ihrem so gar nicht märchenhaften Alltag und fühlt tiefes Bedauern, wenn er miterlebt, wie sie wieder und wieder scheitert, den Schritt zum Friseur zu tun und den letzten Rest des Traumes abschneiden zu lassen, um endlich zu leben und nicht länger wie ein Engel in der erträumten Märchenwelt umher zu flattern.

Aidts engelhafte Heldinnen wollen die Welt mit Kinderaugen ansehen und haben doch zu vieles erfahren, als dass es ihnen gelingen könnte. Niemand findet hier Zufriedenheit oder das, was man Glück nennt. Diese bisweilen recht skurrilen Gestalten zerbrechen an der Welt, in der sie leben, in der wir Menschen leben. Und so kommt es, dass bei Aidt Rapunzel weinen muss, dass Barbiepuppen sterben wollen und dass Menschen nicht mit Menschen, sondern mit Hummeln sprechen müssen, um sich aus ihrer Einsamkeit hinweg träumen zu können. Und dann, mit der letzten und reinsten Perle, gelingt es der Autorin doch. "Drei Tage in Prag" lüftet das Geheimnis. Für all diejenigen Leser, die nicht nur lesen, sondern auch fühlen und erfahren wollen, "Wie die Engel fliegen" erzählt Aidt ihre Geschichten, unter denen sich hin und wieder eine Perle findet.

Titelbild

Naja Marie Aidt: Das Wasserzeichen.
Übersetzt aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
110 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-10: 3518397648

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