Von der Apotheke zum Convenience-Store

Joachim Kleinmanns wirft ein Schlaglicht auf die Geschichte der Tankstelle

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein in der unmittelbaren Zukunft spielender Roman beschreibt eine Tankstellenszenerie in einer Großstadt um 5:30 Uhr in der Frühe: "Bei den Zapfsäulen unterm großen Betonvordach stand nur ein einziger Wagen, ein großer blauer VW-Kombi, und innen im Mini-Supermarkt kaufte ein Teenagerpärchen an der Backtheke eine Riesentüte Croissants und Brötchen (haben wohl die ganze Nacht durchgevögelt und brauchen jetzt ganz dringend was zu essen, dachte Susanne). An der Kasse saß ein beleibter Mann von schätzungsweise Anfang vierzig mit aschgrauem Gesicht, von strategischen Raketenabschußrampen voller Schokoriegel eingerahmt, und las mit gefurchter Stirn konzentriert in der ,Bild'. Susanne schritt entschlossen quer durch den Laden, griff sich aus dem Kühlregal eine schlanke 0,5-Liter-Büchse Cola, ging zur Kasse, legte noch eine Bi-Fi und einen Marsriegel dazu und bezahlte vor den Teenagern, die neben ihr eine Diskussion darüber angefangen hatten, ob man noch ein Ei kaufen sollte, oder zwei, oder lieber auch eine Bi-Fi."

Das Einzige, das nun vor dem geistigen Auge fast störend oder zumindest marginal wirkt, sind die Zapfsäulen, die eine Ahnung davon vermitteln, dass dies gar kein gewöhnlicher Minisupermarkt mit ungewöhnlichen Öffnungszeiten ist. Etwas Ähnliches haben sich auch die größten Ölkonzerne, die gleichzeitig als Betreiber des Tankstellennetzes fungieren, gedacht, denn die Umprofilierung der einstmals auf die basale Funktion des Antriebsmittelverkaufs abonnierten Betriebe in moderne Einzelhandelsgeschäfte ist in vollem Gange. Dass sich Tankstellen in Bistros, Drive-in-Restaurants oder Kleinsupermärkte verwandelt haben, ist wahrscheinlich auch jedem Nichtmotorisierten bereits offenbar geworden, dass nun aber der Trend zu Service- und Kommunikationszentren inclusive Internetcafe, Kino und Kinderhort weist, ist einer der vielen neuen Aspekte der höchst spannenden Kulturgeschichte der Tankstelle, die Joachim Kleinmanns vorgelegt hat. Beginnend mit Ausführungen zu technischen und wirtschaftlichen Fragen schlägt der Autor den Bogen über die reiz- und gleichsam peinvolle Architekturgeschichte zu aktuellen Fragen wie Umnutzung von stillgelegten Tankstellen oder Umweltschutz in ihren Umfeldern. Kleinmanns setzt mit dem Petroleumboom in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts ein und führt fachkundig ein in die Metamorphose des so wichtig gewordenen Öls, vom Licht spendenden Petroleum zum Motoren antreibenden Benzin. Doch bevor dieser Nutzungswandel geschah, mussten natürlich erst einmal Motoren erfunden werden, die eine Verwertung der verschiedenen Ölprodukte wie Benzin und Schweröl gewährleisteten. Ottomotor und Dieselmotor machten Pferde entbehrlich und ließen Mobilitätsfantasien Realität werden. Den aus heutiger Perspektive skurrilen Umstand, dass Benzin ohne seine Funktion als Motorenbrennstoff als Abfallprodukt bei der Petroleumgewinnung abfiel und in der Regel als Reinigungsmittel oder Wundbenzin an Wäschereien und Apotheken ausgeliefert wurde, löst Kleinmanns anekdotisch auf. Eine Testfahrt Berta Benz' von Mannheim nach Pforzheim im Jahre 1888 wird beschrieben, auf der sie in Ermangelung anderer Quellen alle den Weg säumenden Apotheken ihrer Wundbenzinvorräte beraubte. Diese 100 km bedeutende Strecke gilt als die erste Langstreckenfahrt eines Automobils. Dies war die erste, noch sehr wenig zweckdienliche Art der Benzinversorgung in automobilistischer Absicht, die durch etwas größere Kanister in Hinterhöfen und Garagen bis zu den Zwanziger Jahren nur eher zaghaft verbessert wurde.

Als Deutschland in das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ging, eroberten Tankstellen erstmalig Platz im öffentlichen Raum. Von der Mineralölgesellschaft Olex (heute BP) initiiert, wurden Tankhäuschen in kioskähnlicher Form gebaut, deren Funktion höchstens durch ihre an Schießscharten gemahnenden Öffnungen, denen die Schläuche entsprangen, zu erahnen war. Bereits hier macht sich die üppige Bebilderung der Dokumentation bezahlt, denn die reine Imagination einer Kiosktankstelle wäre einem, bizarr wie die Idee ist, schwer gefallen. Abgelöst wurden diese kurzweilig-kostspieligen Einrichtungen von Bürgersteigpumpen, die bis Ende des Zweiten Weltkriegs eine Dichte erreichten, die dem motorisierten Menschen eine umfangreiche Versorgung seiner Bedürfnisse angedeihen ließen. Erst mit den Bestrebungen der Ölgesellschaften in den 50er Jahren, Tankstellen konsequent serviceorientierter zu gestalten, breitete sich das Modell der Großtankstellen mit Waschpflegeinrichtungen usw. aus. Schon in den 30er Jahren gab es erste Ansätze zu diesem Typ Tankstelle, der sich in seinen Grundmerkmalen (Trennung der Anlage vom fließenden Verkehr, ein Tankwart- und Kundenraum, mehrere Zapfsäulen, sowie ein auf Stützen ruhendes Schutzdach) bis heute nicht verändert hat. Hier setzt nun der spannendste Teil der Exkursion in die Welt der Tankstelle ein, nämlich die architektonische Ausarbeitung dieses Bautyps. Die Spannungen zwischen den Ölgesellschaften und Heimatschützern bezüglich der Ausrichtung des Bauobjektes, mit dem Frontenverlauf Funktionalität versus Einpassung der Tankstellen in ihre Umgebung, werden samt der schillerndsten Blüten aufs Vortrefflichste in Szene gesetzt. Dass als Resultate dann dem Fachwerkstil Hessens nachempfundene Tankstellen geboren wurden oder westfälischen Bauernhöfen gleichende, mag man unter der Berücksichtigung nationalsozialistischer Heimat- und Traditionsverbundenheit noch logisch finden, dass aber bis 1936 noch im funktionalistisch-ästhetischen Stil des Bauhauses Autobahntankstellen gebaut wurden, die man sich teilweise in die Gegenwart wünschen würde, gehört zu den unerwarteten Kuriositäten dieses Buches, das daran gewiss nicht arm ist. Einen schönen Abriss zu Abseitigkeiten und Mainstream in der Geschichte der Tankstelle vor allem in Deutschland entwirft dieser Band, der auch die eingangs schon thematisierte Gegenwart nicht außen vor lässt.

In dieser Gegenwart nämlich hat sich ein immenser Bedeutungswandel an den Tankstellen vollzogen, sieht man sich Strategien der großen Ölkonzerne an. Die Shell-AG hält heutzutage den Benzinverkauf an ihren Filialen für nicht mehr selbstverständlich und setzt stattdessen, wie in Skandinavien bereits praktiziert, auf Convenience-Stores. Der Verkauf von Pauschalreisen, Lebensmitteln und kulturellen Diensten, also eher sachfremden Elementen bei der Annahme eines klassischen Gsechäftsfeldes im Ölkonzernsegment, hat sich soweit durchgesetzt, dass Aral Platz 16 im deutschen Einzelhandel einnimmt und an einigen Shellshops tatsächlich gar kein Benzin mehr feilgeboten wird. Gleichzeitig wird durch die Erweiterung der einzelnen Tankstellen der Versuch unternommen, immer öfter Stilllegungen und Straffungen des Netzes anzustrengen. Die durch diese Rationalisierungen überflüssig gewordenen Baukörper sind zu einem Diskussionsgegenstand geworden, den Kleinmanns zwar darstellt, aber meiner Meinung nach zu konservativ beurteilt. Ähnlich den Industriedenkmälern im Ruhrgebiet gibt es nämlich auch für charmante Tankstellen Neunutzungen als Cafes, Galerien usw. Dies als Maßnahmen zu begreifen, die Substanz bewahren, sinnvoll vor allem auch nachhaltig Städte gestalten zu helfen, gelingt dem Autor nicht, stattdessen peinigt ihn der "zweckentfremdete, selbstverständlich neulackierte, auf Hochglanz polierte" sprich "geschichtsbereinigte" Charakter dieser Veränderungen. Dass einen dieses Buch allerdings über eines der am wenigsten beachtetsten Alltagsphänomene unserer Kultur aufklärt, empfindet man als nette Bereicherung.

Titelbild

Joachim Kleinmanns: Super, voll! Kleine Kulturgeschichte der Tankstelle.
Jonas Verlag, Marburg 2002.
144 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3894452978

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch