Eine andere Art von Rückblick

Gespräch mit Judith Hermann über "Sommerhaus, später"

Von Matthias PrangelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Prangel

Frau Hermann, es existiert bislang mit "Sommerhaus, später" nur ein einziges Buch von Ihnen. Über das vor allem möchte ich mit Ihnen reden. In gewisser Weise sind alle Stücke dieses Erzählungsbandes ganz unspektakulär. Sie sind langsam, retardiert erzählt, arm an äußerer Handlung und dramatischer Spannung, Geschichten, die irgendwo beginnen und irgendwo aufhören und im Bereich der Beliebigkeit angesiedelt sind. Andererseits - so jedenfalls empfinde ich es - eignet ihnen allen eine enorme innere Spannung. Unter ihrer unscheinbaren Oberfläche bebt beständig der Boden und zwischen ihren Personen zittert die Luft. Spiegelt sich in solcher Mischung aus äußerer Banalität und innerer Erregung ein Wissen vom Leben, das die zur Entstehungszeit der Texte um die 27 Jahre alte Judith Hermann bereits hatte?

Wenn, dann wohl nur geahnt, empfunden, aber nicht für mich selber auch ausgesprochen und reflektiert. Ich glaube, ich habe versucht über das Leben, also meines, und das Leben der Menschen, mit denen ich zusammen bin, so zu schreiben, wie ich es empfinde. Mit den Hoffnungen und Hoffnungslosigkeiten, mit den Sentimentalitäten und Emotionslosigkeiten, die ich erlebt habe, und in denen ich zu der Zeit gesteckt habe. Es hat also schon etwas mit meinem Lebensgefühl und mit meiner Lebenssituation zu tun. Aber ich würde nicht sagen, dass es ein reflektiertes Lebensgefühl ist, ein wirkliches Wissen über das Leben. Eher etwas Intuitives und ganz Unbewusstes, vielleicht so etwas wie eine grundsätzliche intuitive Haltung gegenüber dem Leben, die da in den Geschichten spricht.

Die Geschichten, an wie unterschiedlichen Orten (St. Petersburg, New York, eine Insel in der Karibik, Berlin und Berliner Umland) sie sich abspielen und wie unterschiedlicher erzählerischer Praktiken sie sich bedienen, sie scheinen in der Tat alle miteinander verbunden zu sein durch Menschen, die durch ein ganz ähnliches Lebensgefühl, durch eine ganz ähnliche emotionale Befindlichkeit geprägt sind. In dem Sinne ließe sich sagen, dass Sie zwar keine politischen, jedoch eminent gesellschaftliche Texte geschrieben haben, Texte nämlich, die möglicherweise geradezu paradigmatisch den geistigen Zustand dieser unserer Zeit ins Licht rücken. Ich komme im Detail gleich noch darauf zurück. Hier zunächst nur die Frage: Geht es da um eine Befindlichkeit, möglicherweise eine postmoderne Befindlichkeit nach dem Ende aller Eindeutigkeiten, zu der Sie sich in einer eher affirmativen oder einer eher kritisch distanzierten Affinität verhalten? Denn um Affinität muss es sich ja wohl in jedem Fall handeln.

Ich glaube einerseits bin ich genau wie meine Figuren sind, andererseits bin ich aber auch ihr ganzes Gegenteil. Ich bin eigentlich in dem Moment, in dem ich anfange zu schreiben und in dem ich eine Geschichte im Kopf haben, einem Moment, von dem ich erzählen möchte, emotional völlig aufgelöst, ganz und gar hingegeben an ein Gefühl, an eine Sentimentalität, an etwas Vergangenes, an die Liebe oder an die Unmöglichkeit der Liebe. Ich bin in einem Zustand der völligen Auslieferung an das Gefühl. Aber ich weiß gleichermaßen, wenn ich die Geschichten so schreiben würde, wie ich mich in dem Moment fühle, wie ich den Moment empfinde, um den es mir in der Geschichte gehen soll, dass das nicht möglich wäre. Ich könnte die Geschichte so nicht schreiben, und niemand könnte sie lesen. Es käme etwas unerträglich Schlechtes dabei heraus, weil ich überborden würde vor Sehnsucht und Gefühl. Also schreibe ich genau gegen dieses Gefühl an. Schreiben bedeutet für mich, gegen meine eigene Sentimentalität und gegen meine Hingabe anzuschreiben. Die Figuren haben dann gewissermaßen einen Panzer um sich, was dann oft dazu führt, dass man sie beim ersten Lesen als so emotionslos, verantwortungslos und ohne Widerstand, so kühl und fast schon zynisch empfinden kann. Aber das sind sie nicht wirklich. Sie sind es an der Oberfläche, und das ist der Weg, auf dem sie durchs Leben gehen und die Dinge aushalten können. Darunter aber sind sie aufgebrochen und empfindsam, haben den Wunsch und die Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben. Ich glaube, genau in dieser Mitte stehe ich auch selber. Die Figuren sind immer ein bisschen so, wie ich mir wünschte sein zu können. Diese Gelassenheit, die sie oftmals haben, wenn sie dastehen und warten - wenn das eine nicht geht, wird das andere gehen - die hätte ich selber gerne oft und habe sie doch nicht. Alles in allem sind mir meine Figuren sehr nah. Mir haben Kritiker manchmal vorgeworfen, ich würde sie, indem ich sie so auf die Bühne stelle, bloßstellen, preisgeben und schonungslos nackt darstellen. Darüber war ich ganz betroffen, da ich dachte, dass ich doch eigentlich jede einzelne der Figuren sehr liebe und schützen möchte und sie für den Leser ganz vorsichtig ins Öffentlichkeitslicht gestellt habe.

Alle Ihre Figuren sind in erster Instanz Figuren des Abwartens, Dahintreibens, der Ziellosigkeit und Richtungslosigkeit, denen eine entschiedene Unfähigkeit zur Planung auf weite Sicht, zur Bindung, ja zur Kommunikation anhaftet. Nehmen wir Sonja in der gleichnamigen Erzählung: Sie taucht für den Icherzähler wie aus dem Nichts auf, katzenhaft durch Biegsamkeit und Anschmiegsamkeit wie durch Eigensinn, eher unscheinbar, fast wortlos, kommt und geht nach Gusto, lebt mit dem Icherzähler in einem merkwürdig platonischen Verhältnis. Und dennoch ist da eine geheimnisvolle Erotik im Spiel, die noch, wenn Sonja sich am Ende der Geschichte wieder im Nichts aufgelöst hat, im Icherzähler als die nachwirkende Sensation einer tiefen Irritation hängenbleibt. Haben wir es hier mit einem neuen, zeitsymptomatischen literarischen Frauentyp zu tun?

Ich glaube eher nicht. Ich glaube, dass es solch eine Sonja im Leben eines jeden Menschen gibt oder gegeben hat. Das muss nicht einmal eine auf so einen langen Zeitraum angelegte Begegnungsgeschichte sein. Es kann ja auch jemand sein, dem man nur einmal ganz kurz begegnet ist und danach nie wieder. Aber ich glaube, dass es im Leben eines jeden Menschen einen anderen Menschen gegeben hat, der für so etwas steht wie ein Versäumnis, für eine falsch gefällte oder nicht gefällte Entscheidung, für einen Weg, den man auch ein Stück mit jenem anderen zusammen hätte gehen können. Mir ging es wohl um diese Frauenfigur Sonja als solche. Es hat mir gut gefallen, dass Sie sie mit einer Katze verglichen haben. Es gibt einen schönen Satz bei Per Olof Enquist, in dem es von der Katze so etwa heißt: Wenn ich sie berühren will, läuft sie davon, wenn ich vom einen Zimmer ins andere wechsele, läuft sie mir hinterher, sie kann nicht ohne mich sein, sie kann auch nicht mit mir sein, einfacher als das ist es nicht, aber wer hat gesagt, dass es einfach sein soll. Das finde ich sehr schön. Und ein bisschen ging es mir um so eine Frauenfigur. Es ist ja auch fraglich, ob der Erzähler am Ende der Geschichte, wenn er sich für Sonja entschieden hätte, auch wirklich glücklich mit ihr gewesen wäre. Neulich wurde ich gefragt, ob Sonja denn eine Möglichkeit gewesen sei oder ob es nicht viel eher so sei, dass er, wenn er sich für sie entschieden hätte, dann doch ihre Art zu sein und mit ihm zu sein letztendlich nicht ausgehalten hätte. Ich glaube, es ging mir um die Unmöglichkeit, mit Menschen immer auf die so ersehnte heile Art und Weise zusammen zu sein, um die Menschen, die man verpasst, für die man sich nicht entscheidet, von denen man sich abwendet, an die man aber doch noch Jahre später, sein ganzes Leben hindurch denkt und bei denen man das Gefühl hat: vielleicht wäre diese Person jene gewesen, mit der man hätte versuchen sollen, zusammen zu leben. Da habe ich dann nicht das Gefühl, dass das eine neue Frauengestalt ist, sondern dass das das eigentliche Thema der Liebe ist und dass das in Variationen auch immer das Thema der Literatur ist. Aber ja, vielleicht ist die Sonja in ihrer Art zu sein, zu kommen und wieder zu gehen und nicht über sich zu sprechen - man weiß ja z. B. gar nicht, wo lebt sie eigentlich und was hat sie für einen Beruf und für einen sozialen Hintergrund - doch eine typische Erscheinung für das Ende des ausgehenden Jahrhunderts. Ja, sie ist es sicherlich. Diese Art der Freiheit hätten sich die Frauengestalten fünfzig oder hundert Jahre vorher nicht nehmen können. Sie hätten eingebunden sein müssen in ein System, und man hätte von diesem Eingebundensein etwas erzählen müssen. Das Ende des Jahrhunderts hat mir wohl schon die Freiheit gegeben, die Figur der Sonja so absolut offen zu schildern wie ich es getan habe. Das ist eine Freiheit, die denn vielleicht doch für einen neuen Typ von Frau steht.

Auch wenn Sie es ja schon halb und halb zugegeben haben, indem Sie bemerkten, alle Ihre Figuren seien gleichermaßen Teil und Gegenteil Ihrer selbst: Ist Sonja auch Selbstporträt?

Sicher ist sie Selbstporträt, aber auch so etwas wie ein gewünschtes Selbstporträt. Sie kommt und geht mit einer großen Leichtigkeit. Wenn die Dinge nicht laufen, wie sie sich das vorgestellt hat, dann verschwindet sie tatsächlich einfach. Sie macht bis auf eine einzige Ausnahme keine Szenen. Das Leben entscheidet die Dinge und sie nimmt diese Entscheidungen sofort an, wendet sich ab und tut etwas anderes, zieht sich zurück. Und dieses so hundertprozentige und in gewisser Hinsicht auch gnadenlose Zurückziehen - und ihr Verschwinden am Ende der Geschichte ist ja ein hundertprozentiges - das wäre eine Art von Resolutheit, die ich mir selber oftmals gewünscht habe. Aber ich habe es nie geschafft, aus Geschichten dieser Art so hinauszugehen. Ich habe eben doch eine Szene gemacht, versucht, die Dinge zu ändern und den anderen zurückzuhalten, mich ihm sozusagen in den Weg gestellt. Sonja hingegen tritt sofort aus dem Weg. Eine Frau so zu schildern wie sie, ist für mich ein heilender Prozess, weil sie in der Geschichte all das tut, was ich in der Realität nie habe tun können.

Ich möchte den gleichen Faden am Beispiel der Erzählung "Bali-Frau" weiterspinnen. Was äußerlich in dieser Erzählung geschieht, ist wiederum völlig belanglos, banal: ein vergammelter Abend auf der Party eines alternden Regisseurs, der ebenso vergammelt, gelangweilt, überdrüssig bei diesem zu Hause ausklingt. Daneben und dazwischen aber das Entscheidende: der Nekrolog auf eine wohl schon zerbrochene Liebe und ganz zum Schluss die fast wörtliche Wiederaufnahme des Beginns mit dem Thema des kommunikativen Unvermögens in einer hoch poetischen Form: "Es ist kalt. Es riecht nach Schnee. Nach Rauch. Lauschst du auf etwas, das du nicht hören kannst, liegt dir ein Wort auf der Zunge, du kannst es nicht sagen? Bist du unruhig? Sind wir uns einmal - ist das nicht genug - begegnet? Ich werde jetzt schlafen gehen. Erinnert dich der Winter manchmal an etwas, du weißt nicht - an was." Solche Stelle geht mir unter die Haut, verbindet sich ganz und gar nicht mit der Ihnen von der Kritik ja häufig bescheinigten kühlen Distanz, sondern provoziert die beklommen ängstliche Frage: Haben wir es verlernt und verlernen wir es immer mehr, uns sogar in der uns am unmittelbarsten angehenden Frage, jener der Liebe, in Worten zu verständigen?

Ich weiß nicht, ob man es verlernt hat, weil ich nicht weiß, ob man es je gekonnt hat und ob es je wirklich möglich war, über die Liebe zu sprechen, sie in Worte zu fassen und auszudrücken. Und ich weiß auch nicht, ob die Liebe zwischen zwei Menschen wirklich möglich ist und ob nicht eigentlich immer der eine ein Bild des anderen liebt und umgekehrt. Ich bin nicht sicher, ob die Liebe überhaupt funktioniert, und ich habe das Gefühl, dass die Worte immer weniger und immer weniger ausreichen, um zu benennen, was zwischen zwei Menschen geschehen kann. Ich habe das Gefühl, dass die Worte immer weniger tragfähig sind, immer zweideutiger werden, rissig sind und nicht ausreichen, etwas zu formulieren.

Was ein deprimierendes Fazit für jemanden, einen Schriftsteller etwa, wäre, der sich gerade vorgenommen hat, sich über eben diese Worte zu artikulieren. Allerdings müsste man sofort hinzufügen, dass die Reflexion dieser Sprachnot ja ein wichtiges Thema moderner Literatur geworden ist und die literarische Abhandlung dieses Themas in Sprache eben doch wieder einen wichtigen Schritt weiterführen kann.

Ja, und deswegen ist es für einen Autor nicht deprimierend, darüber zu reden und das Gefühl zu haben, dass die Sprache unzulänglich ist. Sie taugt doch immer noch zum Versuch, auszudrücken, wie die Dinge sind. Aber es bleibt eben beim Versuch, einer Einkreisung, ohne dass man genau den Punkt trifft. Ich finde, solange das Bewusstsein dafür da ist, dass man etwas sagen möchte, ist eigentlich alles noch in Ordnung. Schlimmer wäre es, wenn dieses Bewusstsein, diese Unruhe, diese Form der Rastlosigkeit zu Ende wäre, wenn es gar kein Bedürfnis mehr gäbe, auszudrücken, was nicht auszudrücken ist. So aber ist es für mich noch auszuhalten. Man kann heute nicht mehr sagen: Ich liebe dich. Für meine Generation jedenfalls ist das so gut wie unmöglich. Es dauert furchtbar lange, bevor es innerlich überhaupt so weit kommt, und wenn es dann so weit ist, dass das schlichte Bedürfnis, diese drei Worte zu sagen, da ist, dann kommt man sich zum einen lächerlich vor, zum anderen hat man das Gefühl, man beendet einen Zustand, an dem man hängt. Es ist eine seltsame Sache.

Es geht mir immer noch um diese, wie ich meine, alle ihre Personen verbindende besondere Befindlichkeit, und ich möchte das Thema noch einmal in etwas abgewandelter Form anhand der Erzählung "Hunter-Tompson-Musik" mit Ihnen durchspielen. Die Erzählung von jenem Hunter, der im New Yorker Armenhotel Washington-Jefferson lebt, steuert an ihrem Ende auf die Frage von Hunters junger Zimmernachbarin zu: "Ich will nur wissen, weshalb Sie hier leben, weshalb denn, können Sie mir das sagen?" Die Antwort Hunters: "Weil ich fortgehen kann. Jeden Tag, jeden Morgen meinen Koffer packen, die Tür hinter mir zuziehen, gehen." Und auf die Rückfrage: "Wohin denn gehen?" die lapidare Antwort: "Das ist eine völlig unnötige Frage." Ist das eine unnötige Frage? Sind wir nur noch unterwegs? Nur als Durchgangsstadium greifbar und undefinierbar? Fixsterne, die momenthaft aufleuchten und wieder vergehen? Ist das, auch wenn wir es vielleicht noch nicht alle gemerkt haben sollten, der Modus unseres Daseins?

Um an den Anfang Ihrer Frage zu gehen, es ist keine unnötige Frage. Es ist eher ganz im Gegenteil die einzige Frage, die man stellen kann und gleichermaßen auch die absolut unbeantwortbare Frage. Hunters Antwort von der völligen Unnötigkeit der Frage ist eine Schutzhaltung. Natürlich ist die Frage berechtigt, und natürlich ist es so, dass er darauf keine Antwort weiß und man darauf im Grunde nie eine Antwort hat. Das Gehen in etwas ist immer nur das Gehen in einen Zustand, den man nicht kennt, von dem man natürlich Vorstellungen hat, den man ersehnt und von dem man sich etwas wünscht, den man aber letztendlich nicht kennt. Man kann nur sagen, dass man gehen will, dass man diese Freiheit braucht, um gehen zu können. Aber wohin man geht, das kann man nicht sagen. Es ist nicht die falsche Frage, aber es ist natürlich eine schmerzhaft treffende Frage. Und die Zimmernachbarin Hunters stellt sie mit einer fast kindlichen Naivität. Oder mit beidem: einem sehr alten Wissen, gleichzeitig aber auch so naiv, als würde sie wirklich erwarten, dass Hunter darauf antworten könnte.

Im Grunde ganz ähnlich, nur stärker zur Kontingenzproblematik hin verschoben, scheinen mir die Dinge bei Stein in der Titelerzählung des Bandes zu liegen. Auch er unstet, unterwegs, scheinbar ziellos, wohnungslos, sich auf dem Prenzelberg von der einen Bleibe zur nächsten vögelnd - und das nicht aus Not, sondern aus Prinzip. Ein Leben auf Abruf unter der Maxime: "Das hier ist eine Möglichkeit, eine von vielen. Du kannst sie wahrnehmen, oder du kannst es bleiben lassen. Ich kann sie wahrnehmen oder abbrechen und woanders hingehen. [...] Spielt keine Rolle." Das klingt so herrlich geräumig, weltoffen, liberal, ungebunden. Doch Stein scheitert. Am Ende ist nichts, weder das Sommerhaus, noch der Mensch, mit dem er es hätte bewohnen können. Ist Ihnen die Kontingenz der Wirklichkeit eher positiv zu verstehende Herausforderung oder Gefahr des Versinkens in der Indifferenz?

Ich muss dazu sagen, dass Stein eine meiner Lieblingsfiguren ist. Dieser Moment, in dem er schildert, dass sie da vor einer Möglichkeit stehen, das ist ein Moment, in dem er nicht sagt, was er fühlt. Ich habe es schon so gedacht, dass er unterschwellig auf einer zweiten Ebene sagt: Nutze die Möglichkeit für dich und für mich. Es ist eigentlich eine Liebeserklärung, die er da auf eine sicherlich sehr umständliche und verquere Art und Weise macht. Aber ich hätte mir doch gewünscht, dass deutlich wird, dass es für ihn im Moment, in dem er das sagt, nur eine Möglichkeit gibt, dass die Icherzählerin nämlich mit ihm in diesem Haus bleibt. Er bietet ihr zwar zur Entscheidung an, dass man bleiben oder gehen könne, machen könne, was man will. Was er nicht sagt, aber wohl fühlt, ist, dass er diese eine Möglichkeit gerne hätte, dass sie sich auch für diese Möglichkeit entscheiden würde. Doch er ist nicht in der Lage, das zu sagen. Am Ende der Geschichte scheitert er natürlich. Die von ihm angebotene Möglichkeit wird nicht wahrgenommen, aber er ist - und deswegen ist er für mich eben wirklich ein Held - die einzige Figur dieser Geschichte, die etwas entscheidet. Und Entscheidung ist, wenn man sie denn gefällt hat, immer mit einer großen Freiheit verbunden. Er ist derjenige, der geht, weil er nicht erhört worden ist. Nachdem er lange genug gewartet hat, dass sie kommt, zündet er am Ende das Haus an. Er verlässt seine Möglichkeiten, geht und wird neue Möglichkeiten finden und sich dem stellen. Das ist eine Entscheidung.

Ist das eine andere Entscheidung als die von Sonja, die ja auch geht?

Nein, es ist eigentlich die gleiche Entscheidung. Man kann einen anderen Menschen so oder so lange aushalten. Man kann sich so oder so lange dem Nichterhörtwerden stellen. Aber es gibt irgendwann den Moment, an dem es genug ist. Und dann geht man. Ich fand es immer schade, dass in den Kritiken, wo so viel von der Entscheidungslosigkeit der Figuren die Rede war, meistens darüber hinweggegangen wurde, dass die Figuren - eine in jeder Geschichte - sich sehr wohl auf eine unauffällige oder auch absurde oder verrückte Art entscheiden und gehen. Es sieht vielleicht auf den ersten Blick nicht wie eine normale Entscheidung aus, aber Stein entscheidet am Ende, dass es genug ist. Damit bleiben alle anderen Leute der Geschichte zurück. Sie haben sich nicht bewegt, sie haben nichts verändert, ihr Leben geht weiter diesen Gang, und der einzige, der in eine neue Form der Freiheit aufgebrochen ist, das ist die Figur des Stein. Und darum, finde ich, ist sein Scheitern gleichermaßen so etwas wie ein Sieg. Während die Icherzählerin nichts anderes tun kann als den Briefumschlag zu dem Schlüsselbund in die Schublade zu legen und weiterhin zu denken: "Später". Alles wird auf später verschoben, wobei dann das ganze Leben vor lauter Entscheidungsunfähigkeit an einem vorüberzieht. Und genauso ist es mit Hunter Tompson, der die Entscheidung fällt, dem Mädchen, das ihn versetzt, seine ganze Musik mitzugeben. Seine ganze Musik, seine ganze Zeit, sein ganzes Leben eigentlich. Das ist ein großer Verlust für ihn und ein großes Geschenk für das Mädchen. Aber es ermöglicht ihm so etwas wie einen Neubeginn, eine Freiheit, was auf den ersten Blick etwas merkwürdig erscheint, aber auf den zweiten doch fast wünschenswert.

Zum Verhältnis Ihrer Personen zur Zeit, zur Lebenszeit, die vor ihnen liegt. Vor allen Menschen liegt diese Zeit ja als etwas, wozu man sich so oder so verhalten kann. Bei all Ihren Figuren habe ich den Eindruck, und bei manchen wird das auch ganz konkret formuliert, dass es da um eine Bürde geht, nicht um einen Stimulus, den man freudig ergreift. Zeit als etwas, was man, der Notwendigkeit gehorchend, leidsam irgendwie hinter sich zu bringen versucht. Ist das so richtig gesehen?

Ich selber kann sehr schlecht damit umgehen, dass Zeit vergeht. Ich habe immer das Gefühl, ich bewege mich mein ganzes Leben lang mit dem Rücken zur noch vor mir liegenden Zeit, bin immer rückwärts gerichtet. Ich will permanent zurück in das, was war und versuche eben, das zu verstehen oder zu werten oder einzuordnen oder mich darin zu sehen. Dann vermisse ich unglaublich viele Dinge, die waren, und habe das Gefühl, dass das, was war, immer besser war als das, was ist und sein wird. Ich habe es schwer, mich in der Gegenwart fest zu verankern und habe es noch schwerer, mir die Zukunft irgendwie vorzustellen. Es kann sein, dass ich den Figuren des Buches das aufgebürdet habe. Manchmal sind sie dem Vergehen der Zeit gegenüber sehr unempfindlich und verhalten sich, als hätten sie alle Zeit der Welt. So etwa die Icherzählerin in "Sommerhaus, später", als würde sie nicht begreifen, dass es zumindest mit Stein kein später mehr gibt, die Geschichte vielmehr vorbei ist. Sie ist so geübt darin, sich durchs Leben zu changieren, dass sie ganz zum Schluss, wenn alles schon gelaufen ist, immer noch denkt, sie würde noch einmal die Möglichkeit haben, sich für Stein zu entscheiden. Doch das stimmt nicht. Diese Möglichkeit gibt es ein für allemal nicht mehr. Dann gibt es andere Figuren wie diesen Koberling. Und da kommt der Satz von der Zeit, auf den Sie sich sicher beziehen, ja her ("Eine Zeit. Eine Zeit, die ausgefüllt, besiegt, zunichte gemacht werden musste.") Aber er ist schon älter. Bei ihm habe ich mir jemanden vorgestellt wie mich in vielleicht zwanzig Jahren, jemanden, der im Alter von fünfzig Jahren gegenüber der Zeit im Rückblick auf sein Leben das Gefühl hat, dass die Zeit vollbracht werden musste, getragen wie eine Last, was dann den Gedanken an die Zukunft der noch vor einem liegenden Zeit zu einem schrecklichen macht. Und dann gibt es vielleicht auch einige andere Figuren, denen die Zeit leicht oder gleichgültig ist. So etwa dem Fisch-Mann in der Korallengeschichte, der sich so gar nicht wehrt. Es ist wahrscheinlich mein eigenes indifferentes Verhältnis zur Zeit, manchmal mein Wunschverhältnis zur Zeit, manchmal mein direktes Verhältnis zur Zeit, das auf die Figuren aufgeteilt ist.

Es will mir scheinen, und Sie deuteten es ja vorhin auch selber schon an, als verberge sich hinter all der äußerlich zur Schau getragenen Indifferenz, Gleichgültigkeit, Coolheit Ihrer Personen dennoch etwas Utopisches: Wünsche nach fester Bindung an Personen, Ehe, der liebevollen Geste, der Verständigung, dem Sommerhaus, auch wenn all diese Wünsche ausnahmslos zusammenbrechen. Bedeutet dies, dass es ohne das alles eben doch nicht geht und dass die postmoderne Befindlichkeit der Beliebigkeit, der die meisten von uns schon in irgendeiner Weise verfallen sind, alles andere als ins Glück führt?

Die Sehnsucht aller Figuren ist die Sehnsucht nach so etwas wie einem normalen Leben. Ich glaube, dass die Sehnsucht, wie man vielleicht zunächst vermuten könnte, gar nicht danach geht, ein außergewöhnliches, ungefügtes, sehr besonderes Leben führen zu wollen, sondern dass alle Sehnsucht eigentlich darauf gerichtet ist, so etwas wie ein ganz alltägliches, geordnetes Leben zu führen, in dem die emotionalen Bindungen klar verteilt sind, die Zugehörigkeiten eindeutig sind, die Sprache funktioniert und der Tag in einen Morgen, Mittag und Abend gegliedert ist und man weiß, wie die kommende Zeit aussehen wird. Es ist eine fast schizophrene Haltung, sein Leben einerseits so einzurichten, dass man von all dem so wenig wie möglich weiß, sich die Zukunft so offen wie möglich hält und sich so selten wie möglich entscheidet, alles jedoch auf der anderen Seite nur auf ein endlich geordnetes Leben hinführen soll, in dem man morgens aufsteht und weiß, wie und wo und mit wem man abends zu Bett gehen wird. Es ist die Sehnsucht nach einer ganz einfachen Struktur.

Was darzustellen Sie sich dann aber aus irgendwelchen Gründen doch scheuen?

Was darzustellen, ich mich scheue. Ich wüsste wirklich nicht wie ich das machen sollte.

Als ich die Geschichten zum erstenmal sah, glaubte ich zunächst, dass sie in ganz spezifischer Weise der resignierten Mentalität der Nachwendezeit in den neuen Bundesländern verpflichtet seien. Und es mag dies ja in der Tat eine Rolle gespielt haben. Dann wurde mir aber immer klarer, dass diese nationale Auffächerung von menschlichem Verhalten und Befinden heute nicht mehr aufgeht. Lässt sich Hunter Tompson da gewissermaßen als Beleg für die Globalität oder Transnationalität der Erscheinungen sehen, von denen wir hier reden?

Ich habe eigentlich überhaupt nicht an die deutsche Nachwendezeit gedacht, weil ich selber in ihr gelebt habe und zwar in einer entscheidenden Altersphase - ich war 19 als die Mauer fiel. Ich bin lange noch in Westberlin geblieben, wo ich auch geboren bin, und erst relativ spät nach Ostberlin gegangen, habe da aber sehr intensiv mit Leuten gelebt, mit denen ich noch immer lebe, die in sarkastischen Momenten von sich selber sagen, sie seien Wendeopfer, die also wirklich von dem plötzlichen Umbruch des Systems mitgenommen und geschüttelt worden sind. Es hat sich sicherlich all das, also meine Westberliner Kindheit und Jugend, dann mein Erwachsenwerden in einem Ostberliner Kreis, den die Wende ganz anders traf als mich, in den Geschichten niedergeschlagen. Es mag auch sein, dass diese Art der Depressionen, unter denen die Figuren wie gelähmt stehen, so etwas wie eine Nachwendedepression ist. All diese Dinge haben sich eigentlich wenn, dann nur unbewusst in den Geschichten verwoben, und ich hatte nicht das Gefühl, explizit über die Zeit nach der Wende oder das Lebensgefühl nach der Wende schreiben zu wollen. Ich habe es mir wohl eher größer gedacht, auf ein ganz allgemeines von Zeit und Ort unabhängiges Lebensgefühl von Menschen hin.

Was bedeutet trotzdem Berlin für Ihre Arbeit?

Das ist immer schwierig zu sagen. Aber Berlin bedeutet für mich wohl weniger, als man vermuten könnte. Allerdings andererseits auch sehr viel. Das liegt daran, dass ich da geboren bin und seit inzwischen 30 Jahren auch da lebe. Ich habe einige Versuche unternommen wegzugehen. Sie sind gescheitert, und ich bin wieder zurückgekommen. Meine Distanz zu Berlin ist dadurch gering. Ich bin so sehr verwoben mit der Stadt, dass ich immer nur sagen kann, ich schreibe über den Ort, an dem ich lebe. Wenn ich in Hannover oder Groningen oder sonstwo geboren wäre und dort gelebt hätte, dann hätte ich Geschichten über diesen Ort geschrieben. Berlin ist auf eine Weise, gegen die ich mich schlecht wehren kann, weniger ein literarischer Ort als ein Lebensort. So kann ich sagen, es ist Zufall, dass die Geschichten in Berlin spielen. Sie sind zwar ganz als Berlingeschichten gedeutet worden, waren aber von mir eigentlich gar nicht so gemeint, vielmehr einfach nur als Geschichten von dem Ort, von dem ich nun einmal viel weiß und dessen soziale Strukturen ich gewöhnt bin. Für die Wirkung des Buches war es dann natürlich sicher ein Glück, dass es da um den Ort ging, der in Deutschland und auch europaweit gerade am meisten interessierte und dass ich dabei Eindrücke eingefangen und Situationen beschrieben habe, die man meinte, auch im historischen Zusammenhang wichtig nehmen zu müssen.

Wären die Geschichten anders ausgefallen, wenn Sie aus der Westberliner Perspektive geschrieben hätten?

Ich glaube schon, dass diese Entscheidungsunfähigkeit und Müdigkeit und auch die Widerstandslosigkeit gegen die Zeit Stimmungen, Atmosphären sind, die typisch für das Ostberlin der Nachwendezeit sind. Wenn ich in Westberlin geblieben wäre, wäre ich auch in einem Zustand geblieben, in dem mich wenig gereizt hätte, in dem mir wenig neu gewesen wäre, in dem ich mich wenig fremd gefühlt hätte. Sich fremd fühlen aber, angereizt werden durch etwas, neu in eine Situation kommen, das sind Dinge, die das Schreiben bei mir auslösen. In Westberlin hätte ich dazu kaum Anlass gehabt. Aber als Fremde nach Ostberlin zu kommen und in andere Strukturen hineinzugeraten, das war in den Jahren 1990-1996 wichtig für mich. Ich bin nicht, wie viele andere gleich 1989, sondern erst 1992 gegangen. Bei der Wende war ich 19 Jahre alt und muss ehrlich sagen, dass mich das alles zunächst überhaupt nicht interessiert hat, auch weil ich zu viel mit mir selber zu tun hatte. Damals wollte ich mir Westberlin als Westberlin erhalten, und ich fand es schrecklich, dass mir diese ganze Ausnahmesituation der eingemauerten Stadt, in der man solch ein schönes Inseldasein führte, entrissen werden sollte durch eine nun zusammenhängende große Stadt ohne Grenzen. So bin ich erst spät und nur über einen Job, ohne dass ich es wirklich wollte und eigentlich neugierig gewesen wäre, fast schlechtgelaunt nach Ostberlin gegangen. Dann bin ich aber sehr schnell in eine Art großer Ostberliner Familie geraten, einen großen Freundeskreis. Und damit begannen sich die Dinge für mich zu verändern. Es war ein ganz neues Beisammensein mit Menschen.

Weil wir gerade bei Berlin und dem Prenzlauer Berg sind: Der Prenzlauer Berg hat sich ja, jedenfalls für die Zeit vor der Wende, zu einem regelrechten Mythos ausgewachsen. So, als sei das eine große Künstlerfamilie gewesen und habe jeder jeden bestens gekannt. Wenn davon überhaupt irgendetwas wahr ist, ist davon heute noch etwas zu merken?

Nein, man merkt davon so gut wie nichts mehr. Ich glaube, dass das mit dem Mythos schon stimmt, obwohl ein Mythos natürlich immer etwas Zweifelhaftes ist, etwas, von dem man viel wegnehmen muss, um an den kleinen, wahren Kern zu gelangen. Es gibt ja immer Gründe für die Entstehung eines Mythos. Und es war sicherlich so, dass der Prenzlauer Berg ein Ort war, der zu Vorwendezeiten und recht extrem auch noch zu Wende- und direkteren Nachwendezeiten eine gewisse Energie hatte, die andere Orte in Berlin nicht hatten. Es waren viele neue Leute dort hingekommen, man traf sich und hatte für kurze Zeit, für ein bis zwei Jahre nur, das Gefühl, diese Stadt Berlin formen zu können, sich in einem Provisorium mit sehr viel Freiheit und Möglichkeiten das Urbane anzueignen und sich einen ganz eigenen Bezirk schaffen zu können. Diese Freiheit währte aber nur kurz. Sie wurde ziemlich schnell von Einebnungsprozessen geschluckt. Das Chaos wurde geordnet, und seitdem ist es vorbei mit dem wie trügerisch auch immer gearteten Gefühl der Freiheit. Das provisorische Leben, in dem man sich mit dem Gefühl bewegen konnte, dass alles möglich sei, ist vorüber. Der Prenzlauer Berg ist jetzt ein Bezirk, in dem das Provisorische gleichsam museal eingefroren ist. Es ist wie mit dem Tacheles in der Oranienburger Straße im Bezirk Mitte, diesem zerbombten und von hinten völlig aufgerissenen Gebäude, in dem damals, 1991/92, Leute aus aller Welt es genossen, in aller Fremdheit beieinanderzusitzen. Es wurde Kunst, Theater, Musik gemacht, ohne dass irgendwelche politische Bewegung, sondern nur emotionale Bewegung davon ausging. Dieses Haus ist heute im Grunde ein Museum. Die ganze Halbheit und Zerrissenheit des Hauses ist konserviert und es soll ja nun auch in diesem musealen Zustand stehenbleiben.

Was bedeutet für Sie privat und literarisch der Winter? Sie wissen, warum ich es wissen will: Viele Ihrer Erzählungen spielen ganz oder doch teilweise in der kalten Jahreszeit.

Ich selber bin ein Mensch, dem es im Winter meist besser geht als im Sommer. Das allerdings auf eine Art, die nicht ohne weiteres zu erklären ist, da es mir in mancher Hinsicht im Winter auch wieder schlechter geht. Aber ich bin im Winter wacher, konzentrierter, näher bei mir, empfindsamer. Es ist, als würden die Dinge durch die Kälte schärfer gestellt. Ich kann mehr sehen und fühlen und bin sehr viel klarer im Kopf als im Sommer. Im Sommer geht man in die Wärme und die langen heißen Tage, und es ist so, als würden damit auch die Gedanken und Empfindungen verschwommener und unschärfer. Demzufolge schreibe ich auch im Winter sehr viel lieber als im Sommer. Sobald es warm und der Himmel blau wird, ist mit mir, zumindest was das Schreiben angeht, nicht mehr viel anzufangen. Ich bin also ein Wintermensch. Und damit hat zu tun, dass meine Geschichten zumeist im Winter spielen. Ich hatte das Gefühl, ich könnte die Befindlichkeit der Personen leichter beschreiben, wenn ich sie in den Winter stelle. Frauen in Pelzmänteln mit hochgeschlagenen Kragen, die frieren, reizen mich mehr als Menschen in Badeanzügen. Es sind das Bilder, die mir viel besser gefallen. Und sicher hat damit auch zu tun, dass ich, als ich dieses Buch zu schreiben begann, mit einem Aufenthaltsstipendium in einem Dorf saß, im Alfred-Döblin-Haus in Wewelsfleth an der Elbe, wo von Januar bis März eine dicht geschlossene Schneedecke lag. Die Elbe war zugefroren, und es war eine ungeheure weite Winterlandschaft, in der ich saß und anfing, diese Geschichten zu schreiben. Ich konnte einfach nicht anders, als auch meine Figuren in den Winter zu versetzen. Es ist eben die Gefühlswelt, in der ich mehr bei mir selber bin. Aber literarisch ist das eine schwierige Angelegenheit. Ich sitze jetzt über meinem zweiten Buch und merke, dass sich diese Winterbilder festgesetzt haben und ich womöglich zu leichtfertig mit ihnen umgehe. Ich ertappe mich dabei, dass es in den neuen Geschichten schon wieder kalt ist, regnet, die Figuren frieren usw. Deswegen versuche ich nun ganz bewusst, diese Bilder zu vermeiden und die Personen erst recht in den Sommer zu setzen. In einer der neuen Geschichten kommt eine Figur von einer Reise zurück, und ich schrieb zuerst eine Passage, in der es hieß, in Berlin sei es Herbst geworden. Ich habe mich dann in die Passage vertieft und gemerkt, das kannst du nicht noch einmal machen. Schließlich habe ich alles gestrichen und die Figur im Hochsommer ankommen lassen. Es kostet mich aber sehr viel Mühe zu sagen, wie es ihr dann geht.

Ihren Texten wurde von der Kritik häufig und wohl auch ganz zu Recht ein starker Hang zur Reduktion, zum Lapidaren, zur Aussparung und zum Leerstellenhaften nachgesagt und gleichzeitig zur Wiederholung, mählichem, mantrahaftem peu á peu. Nicht nur in der Eingangserzählung vom Korallenarmband, sondern auch andernorts meine ich Anklänge z. B. an den Stil des Volksmärchens zu erkennen. Gibt es da Zusammenhänge, die Ihnen bewusst sind?

Es gibt da mindestens eine Sache, die mir bewusst war. Die Erzählung vom Korallenarmband ist ja eigentlich drei Geschichten: die russische Geschichte der Großmutter, die Geschichte mit dem fischartigen Geliebten und die Geschichte vom Besuch beim Therapeuten, in der sich die ganze Vergangenheit löst. Diese drei Geschichten sind verbunden durch die immer gleichen Sätze: "Ist das die Geschichte, die ich erzählen will? Ich bin mir nicht sicher. Nicht wirklich sicher." Es war die erste Geschichte, die ich schrieb, und ich war mir wirklich nicht sicher, ob das die Geschichte war, die ich erzählen wollte. Ich hatte ein unbestimmtes Bedürfnis nach einer Geschichte und wusste auch so ungefähr, aber eben nur ungefähr, worum es da gehen sollte. Da habe ich diese Sätze immer so wiederholt, als müsse ich mich selbst vergewissern, dass das tatsächlich die Geschichte ist, die ich erzählen will. Es war eine Frage, die ich an mich selber gerichtet habe. Und diese wiederholte Anfangssequenz war eine Art roter Faden, an dem entlang ich mich durch die für mich damals sehr komplizierte Geschichte gehangelt habe. Dass die Geschichte sich so von Satz zu Satz vorwärts robbt, hat vielleicht eher etwas damit zu tun, dass ich versucht habe, sehr konzentriert und sehr dicht bei der Sache zu bleiben. Denn das Unterfangen, an dem ich saß, nämlich eine Geschichte zu erzählen über jemanden, der in der schwierigen Lage ist, zum einen nur zu existieren durch die Vergangenheit und durch das gelebte Leben der Familie und durch die Geschichten, die er mit sich herumträgt, aber andererseits das Bedürfnis hat, sich von all dem zu befreien und endlich eine eigene Identität zu finden, dieses Unterfangen schien mir doch sehr groß und unübersichtlich und ich wusste eigentlich nicht, wie ich das machen sollte. Das wäre das eine. Das andere hat mit einem musikalischen Prinzip zu tun. Ich habe mir das als Wechsel von Strophe - Refrain, Strophe - Refrain, Strophe - Refrain gedacht. Ich habe eine Zeit lang Musik studiert, und ich habe eine Affinität zur Musik, die manchmal sogar über die Affinität zur Literatur hinausgeht. Häufig habe ich das Bedürfnis eine Geschichte zu schreiben, die wie ein Stück Musik ist, das Gefühl einer bestimmten Musik vermittelt, eine Geschichte z. B.wie dieser oder jener Song. Ich versuche also etwas wie ein musikalisches Schreiben.

Inwiefern ist Ihnen literarische Tradition bewusst und wo würden Sie sich selber im Anschluss an diese oder auch im Gegensatz zu dieser Tradition verorten? Wo liegen Ihre Vorlieben, Ihre Vorbilder, Ihre Herausforderungen? Ich weiß, dass Künstler darüber häufig nicht gerne reden. Dennoch.

Vorbilder höchstens unbewusst. Ich kann das am besten an einem Beispiel erklären. Ich habe, nachdem ich mein Buch geschrieben hatte, den amerikanischen Short-story-Autor Raymond Carver gelesen und war heil froh, dass ich ihn erst 1999 und nicht schon vor oder gar während ich schrieb kennengelernt habe. Carver tut in hohem Maße dass, was ich mir immer gewünscht habe. Er erzählt Kurzgeschichten so, wie ich sie gerne schreiben würde. Aber ich habe meine Geschichten zum Glück alleine, ohne ihn schreiben können. Wenn ich mein Buch nicht schon vorher geschrieben hätte, müsste ich ihn mir zum Vorbild nehmen. Oder noch einmal zurück zum Anfang: Ein wirkliches Vorbild gibt es nicht. Es gibt Literatur, die man liebt und Literatur, die man weniger liebt. Die Prägungen, die die Literatur am eigenen Schreiben vornimmt, geschehen ganz unbewusst. Man schult sein Sprachgefühl, man schult sein Verständnis von Erzählen und von Geschichten ausschließlich am Schreiben der anderen, aber es ist eine schlafwandlerische Schulung. Darüber bin ich auch froh. Und ich bin auch froh darüber, dass ich, weil ich relativ spät angefangen habe zu schreiben, relativ lange ganz naiv gelesen habe. Als ich mit 27 Jahren zu schreiben begann, veränderte sich mein Lesen sofort. Es war von da an immer gleich eine zweite Ebene da, auf der ich dachte, wie macht der das, wie funktioniert das, wie beurteile ich das, während ich vorher 20 Jahre lang nur einfach gelesen habe. Natürlich habe ich Autoren gemocht oder weniger gemocht, Schwerpunkte gehabt, aber ich habe vor allem einfach gelesen, ohne kritische Reflexion. Das ist mir, meine ich, ganz gut bekommen, und ich bin demzufolge auch ganz angstfrei an das Schreiben herangegangen. Die Schwerpunkte lagen beim Lesen auf der klassischen deutschen Literatur: Thomas Mann, Kafka, Kaschnitz, Bachmann, Schnitzler. Und das mit großer Liebe und Hingabe. Und dann gab es einen zweiten Schwerpunkt auf der amerikanischen Literatur mit Hemingway, Faulkner und, damals an allererster Stelle, Truman Capote. Ein dritter Schwerpunkt lag auf der deutschen Lyrik.

Sie haben aber nie versucht, selber Lyrik zu schreiben?

Nein. Das liegt daran, dass die Lyrik für mich etwas zu Großes ist, als dass ich es wagen würde. Wenn man ein Gedicht von Benn liebt, dann fällt es einem nicht mehr ein, selber noch eines zu schreiben. Aber noch einmal zu den Vorbildern. Man kann sie als solche eigentlich gar nicht sehen, weil sie zu sehr mit einem verwachsen sind. Das Vorbild ist etwas, das ganz in einem ist und das man als solches gar nicht kennt. Was auch gut so ist. Das Vorbild sind die Autoren, die man liebt. Und diese Liebe ist, wie die Liebe überhaupt, etwas, was man nicht benennen kann, was man aber mit in die Geschichten hinein nimmt.

Das Bild vom Autor, Dichter, wie Sie es skizzieren, hat einen stark romantischen Einschlag: Schaffen aus der Intuition heraus, das genaue Gegenteil von einem Bertolt Brecht, der in polemischer Absicht den Terminus vom Stückeschreiber dem des Dichters gegenüberstellte.

Ja. Aber ich muss doch auch sagen, dass die Haltung, die ich da umreiße, ganz eine Haltung eben des ersten Buches ist. Das war ein Buch, das ich ganz aus der Intuition und nur für mich selbst geschrieben habe. Ich wusste nichts von einer Außenwelt, kannte keinen Leser und keinen Kritiker, kein Publikum, keine Öffentlichkeit, keine Medien. Ich war schlafwandlerisch, angstlos, unschuldig, unbefangen, frei von allem. Das hat sich inzwischen geändert und ist unwiederbringlich verloren. In einem zweiten Buch beginnt man sehr viel schärfer, konzentrierter, illusionsloser und sehr viel strenger auch gegenüber sich selbst mit dem Schreiben und dem Text umzugehen. Die Momente, in denen man sich von all dem lösen kann, sind ganz rar. Der Begriff des romantischen Schreibens bezieht sich also nur auf das Schreiben des ersten Buches, das ja auch ein deutlich biographisches ist.

Es schließt sich hier ganz automatisch die Frage an: Wie geht es nun weiter? Was soll kommen?

Es kommen noch einmal Erzählungen. Auf dem Terrain, das ich mit "Sommerhaus, später" ja gerade erst betreten habe, will ich gerne noch weiter arbeiten, um zu sehen, wo meine Grenzen liegen und wie die Geschichten vielleicht auch noch anders funktionieren könnten. Und danach, aber darüber redet man nicht gern, weil das zweite Buch eben so furchtbar schwierig ist, vielleicht einmal ein längerer Text.

In Anspielung auf den Titel Ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der Stadt Pirmasens die Frage: Können Sie die sein, für die man Sie hält?

Ich bezog mich da darauf, dass man, wenn man Rezensionen über die Geschichten und ihre Figuren liest, sich vor einen Spiegel gestellt sieht, vor dem man nicht gerne steht. Weil die Analyse meiner Figuren auch immer eine Analyse von mir war, kam ich dahin, mich fragen zu müssen, ob ich so bin, wie meine Figuren und Geschichten sind. Ich habe es eigentlich ganz am Anfang unseres Gesprächs schon verraten, dass ich einerseits so bin, andererseits aber auch das genaue Gegenteil. Ich denke, dass ich in den Jahren, in denen ich an dem Buch schrieb, noch relativ wenig über mich wissen wollte, relativ weit von mir entfernt war und mich selbst nicht besonders scharf kennzeichnen wollte. Jetzt, es mag etwas mit dem Älterwerden zu tun haben und dass ich nach dem Buch und mit dem Buch erwachsen geworden bin, habe ich das Gefühl, dass ich über mich mehr weiß und auch wissen will, dass ich mir weniger entrinnen kann. Ich kann nicht mehr anders, als die zu sein, die ich bin, und bin immer mehr bereit, mich dem auch zu stellen. Ich würde sehr gerne wissen, wie sich das auf mein Schreiben auswirkt. Ich habe das Gefühl, dass ich an mich selber ausgelieferter bin als ich es früher war. Ich habe mich entschieden. Oder das Leben hat sich für mich entschieden. Ich habe nicht damit gerechnet, dass das geht. Doch es ist so.

Der ganze Prozess des Hineinkommens in das literarische Geschäft: war es einer, der ausschließlich aus eigener Kraft gelang oder gab es Hilfestellungen von außen?

Es geschah überhaupt nicht aus eigener Kraft, sondern es war eigentlich ein Abschuss. Es war für alle Beteiligten, nicht nur für mich, vielmehr auch für den Verlag, die Leute, die mich dort hineingeführt haben, eine ziemliche Überraschung. Es gibt in Deutschland viele Stipendien für Autoren, und ich hatte zunächst dieses besagte Alfred-Döblin-Stipendium. Dann hatte ich das Werkstattstipendium des Literarischen Kolloquiums Berlin, wo man, was sonst eher selten ist, mit anderen Autoren zusammenarbeitet. Und am Ende dieses Stipendiums kam plötzlich der Kontakt zum Fischer Verlag. Ich erinnere mich, dass ich, als wir uns am Anfang in der Werkstatt einander vorstellten und wir nach unseren Vorstellungen von einer solchen Werkstatt befragt wurden, im Gegensatz zu den meisten anderen Stipendiaten sagte, ich wolle eigentlich lieber noch nicht veröffentlichen und nur gerne erfahren, wie meine Geschichten sind. Ich hatte fünf Monate völlig alleine in diesem Wewelsflether Döblin-Haus gesessen und etliche Erzählungen geschrieben, zu denen ich so distanzlos war, dass ich nicht mehr wusste, ob das überhaupt so funktioniert. Am Ende der Werkstatt in Berlin tauchte dann als Gast plötzlich Monika Maron auf, die Autorin des Fischer Verlages ist. Sie las meine Geschichten und fragte mich, ob sie mich dem Verlag vorstellen sollte. So kam der Kontakt zustande. Und dann kam es ganz schnell zu einem Vertrag über das Buch. Auf diesen Marathon, der 1998 - heute läuft das ja alles über Agenten - noch üblich war, dass man sein Manuskript an 50 Verlage schickt und abwartet, hätte ich mich damals sicher noch nicht eingelassen, sondern hätte einfach weitergeschrieben. Heute bedauere ich manchmal, dass alles so schnell ging und dadurch der Zustand des unbewussten Schreibens beendet worden ist. Ich wünschte mir, ich hätte mehr Geschichten in diesem Zustand schreiben können. Aber das ist vorbei. Ja, es kam dann also der Verlag, fand das Buch gut, meinte aber, es seien Erzählungen, die in Deutschland kein Mensch lese, weswegen man eine Auflage von nur 5000 mache. Niemand hätte mit dem gerechnet, und das war sicher auch ein Verdienst dieses Rituals des Literarischen Quartetts, was sich dann daraus ergab. Und das war sicher auch zu viel. Jedenfalls zeitweise war es zu viel für mich. Und das nicht nur wegen der Auflage von inzwischen 150000.

Ist der Geschichtenband, der kommt, einmal davon abgesehen, dass er aus der Situation nach dem Verlust der schriftstellerischen Unschuld geschrieben wird, ähnlich oder ganz anders als der erste?

Anhänglich wie ich bin und sentimental wie ich bin, hätte ich mir gewünscht ein Buch "Sommerhaus, später Nr.2" schreiben zu können, aus diesem Lebensgefühl mit der Musik, dem Drogenkonsum, der ganzen Kulisse von damals heraus. Ich weiß aber, dass das nicht geht und dass ich auch wegen der Kritik und all dem Lob, das das erste Buch erhalten hat, ein anderes Buch schreiben muss. Ich habe zunächst gewartet, auch weil ich erschöpft und von den Lesereisen überfordert war, und arbeite nun seit einem halben Jahr eben an einem Buch, das leicht zu erkennen ist, weil es wieder einen bestimmten unverwechselbaren Tonfall hat, aus dem ich nicht hinauskomme, in dem aber doch anderes passiert, was ich nicht benennen kann und will. Es hat zu tun mit dem Älterwerden, mit den Veränderungen in meinem Leben, mit der Weise, wie ich der Strömung der Zeit ganz anders ausgesetzt bin wie noch vor fünf Jahren. Es ist eine andere Art von Rückblick. In dem ersten Buch war ich freier. Jetzt dagegen stehe ich, wo ich stehe, ein gutes Stück illusionsloser, aber auch ruhiger geworden.

Wir sind, meine ich, an ein ganz natürliches Ende unseres Gesprächs gekommen, und mir bleibt, Ihnen für die große Bereitwilligkeit und Offenheit, mit der Sie sich mitgeteilt haben, herzlich zu danken.

(Das Gespräch führte Matthias Prangel am 11. 5. 2001 in Leiden. Es erschien zuerst in: Deutsche Bücher - Forum für Literatur 31, 2001, H. 4, S. 279-297.)