Der unzuverlässige Autor

Leon Tsvasmanns Novelle "Die Sabotage"

Von Matthias AumüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Aumüller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens Verbreitung gefunden hat, muß man immer damit rechnen, dass bestimmte Eigenheiten einer Erzählung - die zunächst als massive Schwächen daherkommen können - auf einer höheren Ebene einen künstlerischen Sinn erhalten. Ein unzuverlässiger Erzähler ist zum Beispiel einer, dem bestimmte Inkonsistenzen im Ablauf seiner Erzählung unterlaufen. Auf einer höheren Ebene Sinn bekommen diese Fehler seiner Schilderung dann, wenn sie den Charakter des Erzählers näher bestimmen, indem sie etwa auf ein Wahrnehmungsdefizit hinweisen.

Auch in Leon Tsvasmans Novelle "Die Sabotage" gibt es Schwächen, die einem schon nach wenigen Seiten ins Auge stechen: Es sind sprachliche Schwächen. Aber vielleicht sind es gar keine Schwächen, sondern Eigenheiten, die einen künstlerischen Sinn haben. Am häufigsten werden bestimmter und unbestimmter Artikel vor Substantiven verwechselt sowie die Genera überhaupt. Es sind Fehler, die üblicherweise von Leuten gemacht werden, die mit der deutschen Sprache nicht von Kind an aufgewachsen sind. Verzeihliche Fehler also, aber für Druckerzeugnisse sehr ungewöhnliche.

Diese Fehler stehen in augenfälligem Gegensatz zum großen Wortschatz und der im allgemeinen stimmigen Syntax. Die Sprache des Erzählers wirkt manchmal etwas gedrechselt, doch zeugt sie (für einen Nichtmuttersprachler) von einer großen Durchdringung des Idioms. Dennoch gibt es auch in dieser Hinsicht Auffälligkeiten, und wenn man zufällig des Russischen mächtig ist, entdeckt man plötzlich Sätze wieder, die man nur von Leuten kennt, die bestimmte russische Redewendungen ins Deutsche importiert haben. So verrät das "schmackhafte Schimpfen" den russischen Hintergrund ebenso wie die Wendung "wir fahren mit Karp" (für "ich fahre mit Karp").

Und richtig, irgendwann erfahren wir, daß der Erzähler tatsächlich ein russischsprachiger Immigrant ist. Und damit wären wir auch bei dem, wovon die Novelle handelt. "Handeln" wiederum scheint nicht ganz angemessen zu sein, wenn man sagen möchte, was in dem Buch zu lesen ist, denn es impliziert, daß es eine Handlung gibt. In der Tat gibt es nur ein Minimum an Handlung. Der Erzähler begegnet an verschiedenen Orten Menschen und unterhält sich mit den meisten von ihnen. Dazwischen tut er seine Meinung über dies und das kund. So trifft er auf einen Musteremigranten, der sich offensichtlich mit Umsicht und Ehrgeiz eine gute Position in der Gesellschaft erarbeitet hat - etwas, das dem Erzähler suspekt ist. Und auf einer Vernissage erfolgt die fällige Unterhaltung über Kunst. Einen lebendigeren Charakter hat eine kurze Episode in einer Bäckerei, deren Pointe allerdings fast schon einem Klischee entspricht - das in der Weigerung der Verkäuferin besteht, ein Brot zu teilen. Das Hintergründige, das der Erzähler im Sinn hat, wenn er seine Bestellung aufgibt, wird den meisten Lesern verborgen bleiben - daß nämlich Komposita wie "Mehrkornbrötchen" für russische Ohren ziemlich seltsam klingen.

Die grammatischen Schwächen der Erzählung charakterisieren den Erzähler. Sie profilieren ihn als russischsprachigen Immigranten. Und doch wird man das Gefühl nicht los, dass ihnen trotz dieser Funktion keine Bedeutung zukommt. Man könnte auch sagen: Der Autor hätte diese Fehler wahrscheinlich eliminiert, hätte man ihn auf sie aufmerksam gemacht. Der Erzähler, so drängt sich einem die Vermutung auf, ist hier vollkommen identisch mit dem Autor. Und dieser hat nur eines im Sinn: sich darzustellen und mit schlecht versteckter Selbstverliebtheit als besonderen Kerl zu stilisieren: "Vielleicht hat diese ausgeprägte Unfähigkeit, etwas - und sich selbst - zu verkaufen auch ihren Sinn, vielleicht schäme ich mich nur, Geld zu verlangen - schließlich bin ich von Intelligenzlern erzogen ... Wobei ich - im Gegensatz zu vielen klassischen Intelligenzlern - überhaupt keine Maximen oder ähnliches habe - bin in dieser Hinsicht loyal: wer verkaufen kann, der weiß auch warum." Ebenfalls nicht untypisch für das Erzählverhalten ist, dass ein Gedanke - wie hier - letztlich in einer Sackgasse der Unverständlichkeit verschwindet. Es sei denn, man unterstellt hier einen lexikalischen Fehler, da mit "loyal" vielleicht "liberal" gemeint ist.

Man kann lediglich mutmaßen, daß der "Novellist" eine reiche Phantasie haben muß. Nur kann er sie schlecht vermitteln, wie folgender Satz bespielhaft erkennen läßt: "Ich reflektiere das Geschehen um mich herum auf der tiefsten Begriffsebene des Unterbewusstseins." Das Geschehen bleibt im dunkeln. Alles, was den Erzähler interessiert, ist seine innere Erfahrung, die er in recht abstrakten Begriffen auf den Punkt zu bringen versucht, die aber ohne ihren Gegenstand für den Leser nicht faßbar wird. Auf der Personenebene der Novelle findet sich dies wieder in der Figur der Frau des Erzählers. Man weiß, dass es sie gibt; irgendwann sagt sie sogar etwas. Man erfährt, dass sie oft recht hat und dass beide zufrieden verheiratet sind. Aber genau in diesen dass-Sätzen liegt das Problem: Das Buch besteht aus Fakten und Reflexionen, die mal mehr, mal weniger originell sind und - gut russisch - einen Hang in jene Regionen verraten, wo sich das Absurde und das Mystische miteinander vermählen.

Der Ton ist überwiegend ernst und, soweit ich sehe, frei von Selbstironie. Es ist keine Ebene zu entdecken, auf der die Schwächen eine Rechtfertigung erfahren könnten. Die Unzuverlässigkeit des Erzählers ist wohl auch die des Autors. Statt zur Gattung "Novelle" gehört das Werk eher zu der Gattung "Essay".

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Leon Tsvasman: Die Sabotage. Novelle.
Scheffler Verlag, Herdecke 2002.
111 Seiten,
ISBN-10: 389704255X

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