Ich ist ein anderer

Peter Bürgers "Das Verschwinden des Subjekts" und Christa Bürgers "Das Denken des Lebens"

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hat Michel Foucault bereits 1969 in seinem berühmten Essay "Qu'est-ce qu'un auteur" den Tod des Autors ausgerufen, so mag es kaum verwundern, dass das Subjekt der Postmoderne als Auslaufmodell einer Spezies erlöschen musste. In einem Doppelband, bestehend aus zwei weit ausgreifenden Essays, verfolgen Peter und Christa Bürger die Spur des Ich im Kielwasser literarischer und philosophischer Äußerungen von Augustinus bis Roland Barthes. Kommen bei "ihm" sowohl männliche als auch weibliche Stimmen zu Wort, beschränkt sich "ihre" Wahl auf weibliche Beispiele. Von der Schwierigkeit, ich zu sagen, handeln indessen beide.

Den ersten Teil des Doppelbandes bestreitet Peter Bürger, der sich mit Ausnahme von Augustinus auf die französische Literatur beschränkt, der innerhalb des westlichen Subjektdiskurses richtungweisende Funktion zukommt. Den Autor der "Confessiones" setzt er dabei als Ausgangspunkt einer von Zweifeln getragenen, mäandrierenden Genealogie des Ich. Dieses begründet sich bei Augustinus in der Anrede an den Du-Gott, der introspektiv erfahren wird. Deutlich wird hierbei ein dem männlichen Denken innewohnender Zug, der Selbsterfahrung allein über Selbstbezug ermöglicht. Der Kirchenvater generiert mithin ein Paradigma des ungeselligen Cogito-Ich, das Peter Bürgers Gewährsmänner auszeichnet.

Montaigne, sich nicht mehr über die Existenz einer göttlichen Instanz definierend, realisiert seine Selbstbeschreibung in der Abgehobenheit seines Turmzimmers, wo er umgegeben von antiken Klassikern geistige Zwiesprache hält. Indem er versucht, schreibend alles über sich in Erfahrung zu bringen, wird er der Unbeständigkeit menschlichen Daseins inne.

Nimmt der Verfasser der "Essais" sein Ich auch als sinnlich-leibliches wahr, diszipliniert sich Descartes zur leidenschaftlichen Denkmaschine, der Leidenschaften nichts anzuhaben vermögen.

Pascals Menschenbild ist von Unruhe und Leere geprägt. In ihm offenbaren sich Glanz und Elend der hinfälligen Kreatur, deren Ratio nichtsdestotrotz Höchstes zu erfassen imstande ist. Dennoch: "Pascals Versuch, den sich im Subjektbegriff Montaignes und Descartes' abzeichnenden Übertritt in die Moderne aufzuhalten, scheitert."

In der französischen Klassik erforscht La Rochefoucauld die geheimen Triebkräfte der Seele, auf deren Grund er das Laster, le vice, erblickt. Das Ich gerät in seiner Sicht zum Ort der Selbsttäuschung, das die Verlogenheit der Hofgesellschaft spiegelt.

Madame de Sévigné, wie La Rochefoucauld Kind und Zeugin der Ära Ludwigs XIV., vergewissert sich ihres Ich auf ganz andere Weise. Sie weiß und begreift sich in der Liebe zu ihrer Tochter, mit der sie eine umfangreiche Korrespondenz führt. Ihre Beziehung präfiguriert Martin Bubers Diktum (das Christa Bürgers Postulat vom typisch weiblichen Denken konterkariert) und versieht es mit einem femininen Vorzeichen: "Der Mensch wird am Du zum Ich."

Madame Guyon bietet "einen zweiten bedeutenden Entwurf von Subjektivität im 17. Jahrhundert, mit dem eine Frau sich dem Denken des Subjekts entgegenstellt". Die der Häresie bezichtigte Mystikerin praktiziert "Selbstverwirklichung durch Selbstvernichtung" und substituiert ihre soziale Leerstelle durch die Verankerung im Nichts.

In der Aufklärung tritt uns ein selbstbewusstes männliches Ich gegenüber, dem bohrende Selbstzweifel fremd sind. Während Voltaire den Körper von der Persönlichkeit abspaltet, integriert ihn Diderot. Schreiben, Denken und Forschen bilden hier eine selbstverständliche Einheit, die gesellschaftlich legitimiert ist, während die Frauen jener Epoche für sich lediglich den ennui, den Lebensüberdruss, beanspruchen können.

In Rousseau hebt sich das souveräne Ich auf, um eine Literatur zu schaffen, die zwischen der Angst vor dem Selbstverlust und der Unerschütterlichkeit der Selbstgewissheit schwankt. Seine Schriften sind von einem modernen Subjekt verfasst, das vom Bewusstsein "des immer wieder scheiternden Versuchs, sich eine Identität zu geben", getragen ist.

Über die radikale Vereinsamung eines Maine de Biran, der sein Tagebach an die Stelle der Metaphysik setzt, gelangt Peter Bürger ins 19. Jahrhundert, wo sich die Melancholie zur literarischen Schlüsselerfahrung hochstilisiert. Baudelaires und Flauberts Schaffen steht unter diesem dunklen Stern, den der Verfasser als "Ursprung der ästhetischen Moderne" anführt. Lässt sich der Dämon der schwarzen Galle im Zeitalter der industriellen Revolution durch Arbeit vertreiben, verweigern sich die Surrealisten schlicht jeder geregelten Tätigkeit. Schreiben und Leben verschränken sich im Ausloten stets neuer Möglichkeiten der Realitätsausweitung und -überschreitung. Rettung aus dem ennui zeigt sich Breton in der Liebe, die mächtig und unvermutet in den Alltag hereinbricht.

Paul Valéry hat große Mühe, das Irrationale des Gefühls in seiner Vorstellung vom denkenden Ich zuzulasssen. Sartre hingegen weicht der Bedrohlichkeit der Selbstbestimmung aus, indem er sich ständig in die Zukunft projiziert. Sein Ich entwirft sich täglich aufs Neue und nimmt sich als permanente Flucht vor den potenziellen Erschütterungen der Identität aus.

Selbstauslöschung - allerdings nur in der Literatur - betreibt Maurice Blanchot, dessen Ich in einer Ineinssetzung mit dem Text resultiert. Da die Geschichte der Subjektivität untrennbar mit der Autobiografie verbunden ist, lohnt es sich, den Untergang des Ich an Roland Barthes' Selbstbeschreibung zu einem vorläufigen Ende zu führen: "Tout ceci doit être considéré comme dit par un personnage de roman." Dem autobiografischen Ich wird kein größerer Stellenwert zugewiesen als der eines bloß fiktiven. Ich, das bedeutet die Summe aller mich durchkreuzenden Diskurse. Das poststrukturalistische Subjekt, das sich von der Sprache nicht unterscheidet und außerhalb dieses Mediums keine Gewissheit kennt, wird nicht die letzte Äußerung individuellen Ich-Sagens bleiben, darin bestärkt uns "Das Verschwinden des Subjekts", dessen Autor sich auf das kühne Unterfangen eingelassen hat, aus einem monumentalen Korpus ein facettenreiches, in Mimikry erprobtes Ich herauszuschälen und einer wenn auch bisweilen willkürlichen Systematisierung zu unterwerfen. Davor warnt allerdings der Untertitel "Fragmente einer Geschichte der Subjektivität". Mut zur Lücke, Stärke und Schwäche dieser überaus anregenden und lesbaren Publikation zeichnet auch den zweiten, von Christa Bürger verfassten Teil aus.

Sie schreibt das "Das Denken des Lebens" und nimmt gleich in ihrem Vorwort eine Abgrenzung vor: "Die Literaturwissenschaftlerin Christa Bürger hätte aus diesen Lebensgeschichten eine Geschichte weiblicher Subjektivität machen können [...], aber nicht sie, sondern ich habe das Buch geschrieben, das daher auch von dem Versuch erzählt, die Gewalt der Interpretation, die aus vergangenem Schreiben Werke macht, zu umgehen und die Texte nach dem gelebten Leben zu fragen." Mittels eines ausdrücklich biographistischen Ansatzes, der auf der Empathie der Autorin beruht, wird Erkenntnis in der Wechselrede mit einem Du gewonnen, das sowohl den Gatten als auch diverse Gesprächs- und Briefpartner bezeichnet. Anekdotisch, oft assoziativ sucht die Germanistin, sich Frauengestalten der deutsch- und französischsprachigen Literatur anzunähern. In einem Erzählton, der sich über die strenge Sachlichkeit wissenschaftlicher Abhandlungen hinwegsetzt und sich lyrische Anflüge erlaubt, wird die Leserschaft für sich gewonnen, die obendrein mit einem Minimum an Sekundärliteratur konfrontiert wird. Parallelen mit der von Susan Sontag postulierten "erotics of art", die an die Stelle herkömmlicher geisteswissenschaftlicher Hermeneutik treten soll, drängen sich auf. Nicht der Wunsch nach größtmöglicher Abstraktion durchdringt Christa Bürgers Reflexion, sondern der Drang, weibliches (hier autobiografisches) Schreiben an die gelebte Wirklichkeit anzukoppeln. Aus diesem Streben, Verbindungen herzustellen, resultiert ein überaus behutsamer terminologischer Umgang, der die Lesbarkeit ihrer biografischen Skizzen verstärkt.

Sie spürt Affinitäten mit Marie de Sévigné nach und macht sie sich zur "Verbündeten [...] für ein anderes Denken", das sie mit dem Begriff der Immanenz umreißt, die mit der männlichen Transzendenz kontrastiert. Es handelt sich bei dem Briefwechsel mit der fernen Tochter um eine mystische Liebe, die Dasein in der Abhängigkeit erfahren lässt. Die Mutter braucht kein Werk, um Leben und Tod einen Zweck zu geben. Und so schenkt Christa Bürger der französischen Briefschreiberin ihre Worte und vermittelt sie uns auf ihre subjektive Weise: "Ich will mein Selbst nicht dransetzen um einer Anerkennung willen. Ich habe kein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, weder durch Tat noch durch Werk."

Jeanne-Marie Guyon, die um 22 Jahre Jüngere, schließt an Madame de Sévigné an. Anders als ihre Vorgängerin erlebt sie das Du in der kompromisslosen Hinwendung an den Glauben. Sie hegt Misstrauen gegenüber Methode und Wissen und trotzt standhaft den Bekehrungsversuchen Bossuets, der nicht geneigt ist, die inhaftierte Häretikerin aus den dicken Mauern der Bastille zu befreien. Das Erlöschen der Seele in Gott, in ihren "Torrents spirituels" aufs Plastischste dargestellt, entzieht sich den Zugriffen des Beichtvaters, der spürt, dass es der Guyon ernst ist: Wort und Wirken decken sich wie selbstverständlich. Ihre mit der Symbolik des weiblichen Körpers verbrämte Diktion liest sich als konsequente Selbstauslöschung, die das patriarchalische Denken der damaligen Geistlichkeit zutiefst verstörte.

Isabelle de Charrières Existenz erweist sich als exemplarisch im Hinblick auf die Unmöglichkeit der Selbstbestimmung. Die Ich-Setzung kann nur im Rahmen gesellschaftlicher Parameter erfolgen, zu denen die Ehe zählt. Sie heiratet schließlich und gibt ihren Plan auf, sich ganz der Literatur und den Wissenschaften zu widmen. Ergeht sich ihr jüngerer Briefpartner Benjamin Constant in endlosen Lamentationen über seine existenzielle Leere, stellt sie sich dem Dasein, ohne nach dessen Finalität zu fragen. Ihre Korrespondenz umfasst auch Adressatinnen, denen sie beratend zur Seite steht. So entsteht eine Allianz, die sich mit dem modernen Begriff des Netzwerks bezeichnen lässt. Leben und Werk weisen wie so oft in der Geschichte weiblichen Schreibens eine große Durchlässigkeit auf, die dem unauslöschlichen Bedürfnis entspricht, sich schreibend zu sagen.

Eine Frau namens Henriette - ihr Patronym bleibt unbekannt - wendet sich an Rousseau, um Rat zu erbitten. Welchen Platz soll eine unverheiratete, ungebildete und zudem mittellose Person weiblichen Geschlechts in der Gesellschaft der Aufklärung einnehmen? Gibt es eine Aufgabe, die sie vor dem Selbstverlust zu bewahren vermag? Ihr philosophischer Beichtvater weist ihre Klagen zurück, denn immerhin habe sie sich über die natürliche Ordnung der Geschlechter hinweggesetzt und sei daher auch für die Konsequenzen dieser Transgression verantwortlich. An dieser Stelle interveniert Christa Bürger, ergreift für die Namenlose schwesterlich Partei und rehabilitiert die von einem selbstzufriedenen männlichen Subjekt im Stich Gelassene: "Sie hat es nicht wissen können. Sie hat nicht wissen können, wie allein wir gelassen werden, wenn wir den Philosophen schreiben."

In Maria von Herberts Briefen an Kant perpetuiert sich die Anrufung des für omnipotent gehaltenen Beichtvaters durch die verirrte Frau. Doch er zeigt sich ebenso unfähig wie sein französischer Vorgänger, wenn es darum geht, weiblichem Lebensekel mit philosophischer Pragmatik abzuhelfen. Kants Ethik, brillant im Allgemeinen, versagt im Besonderen. Seine Briefpartnerin wählt den Freitod.

Im Zeichen der "Erotik des Gesprächs" steht ein anderer Austausch. Bettina von Arnim und Karoline von Günderode wollen wissen, "was Ich Sein ist und was Nicht Ich Sein, Sprechen und Verstummen, Leben, Tod" sind. So hat die eine Freundin die Sicherheit des Ich in der Anbetung der anderen, die nach nichts mehr trachtet als dem eigenen Verschwinden. Bettina, beseelt von "dem Gefühl eines unaussprechlichen Einverstandenseins mit dem Sein", lehnt sich vergeblich gegen die "lebensfeindliche Philosophie" der Günderode auf, deren Tod sie nicht zu verhindern vermag.

Über Marie-Sophie Leroyers Briefwechsel mit Flaubert und Emmy Hennings "Mystik der Selbsterniedrigung" gelangt die Verfasserin zu Colette Peignot, die auf der verzweifelten Suche nach Realität Georges Bataille begegnet. Sie hinterlässt ein autobiografisches Fragment, das unter dem Pseudonym Laure in die Literaturgeschichte eingeht. In dem männlichen Ego mag sie sich zum ersten Mal erkennen: "Batailles 'ich sterbe, also bin ich' (moi qui meurt) gibt der Angst, die sie ist, eine Bedeutung. Peignot stirbt, kaum 35, in der Wohnung Batailles, an Schwindsucht, 1938, ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkriegs."

Im Schreibprojekt von Batailles Freundin ortet Christa Bürger den Wunsch nach Authentizität. Kommunikation bedeutet ihr tatsächlich: bis ins Fleisch. Darin, so die pointierte Formel des Philosophen Malte Wolfram Fues, unterscheidet sich die männliche Äußerung von der weiblichen: "Die Philosophie des männlichen Logos im Abendland ist seit den Griechen vollendet zweideutig [...]. Sie konstruiert sich in der Theorie einen künstlichen Körper, den sie als Exerzier- und Experimentierfeld benützt, aber sie hört nie auf, den realen Körper zu meinen [...]." Wäre in diesem Sinne der weibliche Logos eindeutig? Christa Bürgers Schrift deutet dies an und eröffnet im kongenialen Gestus des so genannten anderen Denkens die Möglichkeit einer weiblichen Heuristik, ja den Beginn einer weiblichen Epistemologie. Ich stelle mir vor, dass die Erben Descartes' Einspruch erheben werden.

Titelbild

Peter Bürger / Christa Bürger: Das Verschwinden des Subjekts. Das Denken des Lebens. Fragmente einer Geschichte der Subjektivität.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
489 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3518291122

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