Nur dem Begriff nach aufgelöst

Peter Decker und Konrad Hecker kümmern sich um das verloren geglaubte Proletariat

Von Lennart LaberenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lennart Laberenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem sich die Sozialdemokratie bereits in der letzten Legislatur bescheinigte, dass sie keinerlei linke Kräfte mehr zu mobilisieren hatte und ebenso klar wurde, dass eine kritische Linke bei den Grünen allenfalls als gefühlter Lebensstil übriggeblieben war, sind systemkritische Potentiale fast endgültig auf die wenigen Randgruppen zurückgeworfen. Der Münchner Gegenstandpunkt fungiert als solche Institution, die sich irgendwie über Wasser hält und keinen großen Schaden anrichtet. Mit der polemische Erinnerung an das bereits historisierte und analytisch längst verloren geglaubte Proletariat wird dort nun ein Glanzpunkt linker Literatur verlegt. Ein Glanzpunkt, für jene, die alle Strophen des guten alten Liedes "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!" noch einmal hören wollen.

Der kurzweilige Überblick über wesentliche Momente der Ausbeutungsverhältnisse im System der Lohnarbeit steht aber einer augenfälligen Oberflächlichkeit aktueller politischer Debatten gegenüber. Für diejenigen, die Politik nur als kritikloses Denken von Wirtschaftswachstumspotentialen oder wahlweise fiskalpolitischer Grobsteuerung kapitallogischer Verwertungsprozesse verstehen, ist das Kompendium freilich nichts: Die Autoren gehen mit der Untersuchung der Ausbeutungslogik des warenproduzierenden Systems weit über die systemimmanenten Rahmen von schnöden Sozialstaatsdebatten hinaus. Das Verständnis, dass der Sozialstaat so etwas wie die systemische Integration der ArbeiterInnenschaft in den Kapitalismus ist, fehlt in tagesaktuellen Auseinandersetzungen völlig. Tatsächlich analysieren die Autoren auch, dass die Bereitschaft, sich integrieren zu lassen, und nicht die um den liberalen (und damit bourgeoisen) Eigentumsbegriff konstruierte Rechtsordnung revolutionär zu stürzen ein historischer Fehler war. Wem dies unpolitisch vorkommt, hat das Politische eben längst zur Verwaltung des warenproduzierenden Systems reduziert - wem eine solche Kritik heute unwirksam vorkommt, der ist tatsächlich näher an einem empfindlichen Kritikpunkt, der allerdings den Autoren nur mittelbar vorgehalten werden kann.

Innerhalb sich selbst als links verstehender Kreise, etwa in der Sozialdemokratie, werden konsequente analytische Fragen an den Kapitalismus gerne als sektiererisch gekennzeichnet und als wahltaktisch unvermittelbar abgeräumt. Dass sich damit der Prozess immanent zu denken durchgesetzt hat, so zeigen Decker und Hecker auf, wird hübsch übergangen. Die Autoren bauten dem mit dem Verweis vor, dass mit dem Verschwinden des Begriffes des Proletariats der Gegenstand selbst nicht aufgelöst ist. Lohnabhängig Beschäftigte, also im Zuge der Produktion Ausgebeutete erschaffen auch in der neuen Mitte ungeheure Werte. Nur werden die Interessen des Kapitals unter den Vorzeichen der Globalisierung und der Haushaltskonsolidierung unverbrämter zum Ausdruck gebracht.

Dem Modetrend, neue Arbeitsformen poppig zu analysieren, verschließt sich das Buch gleich völlig. Decker und Hecker zeigen auf, dass, indem das kulturelle Selbstverständnis des Proletariats angegriffen und größtenteils zerstört wurde - sowohl von Medien oder Parteien, also durch externe Operatoren, wie auch durch autodestruktive eigene Kräfte -, die Wehrhaftigkeit einer Klassenformation (also eines konzertierten Bewusstseins) entschieden geschwächt ist. Die Stufe der völligen Subsumption unter das Kapital scheint erreicht, wenn abhängig Beschäftigte Aktien kaufen und Gewerkschaften im Sinne der Standortlogik argumentieren.

Indem ArbeiterInnen also zunächst nur eine rechtliche Gleichstellung erkämpften und sich auf die wohlstandsversprechende Verlockung sozialstaatlicher Versorgung einließen, blieben die Proleten dem bürgerlichen System der Warenproduktion untertan. Darüber mag auch die Ausdifferenzierung ihrer Lebensstile, vor allem in den letzten Jahrzehnten, in unterschiedliche Milieus nicht hinwegtäuschen. Das Proletariat verbürgerlichte und konservierte von nun an die eigenen Rechte. Auf diesem hohen Niveau atomisierte sich das Selbstverständnis und die Stagnation schien der letzte Abwehrkampf innerhalb der bürgerlichen Hegemonie. Dieser Prozess ist bereits in den Auseinandersetzungen einer vergleichsweise wohlmassierten ArbeiterInnenbewegung im 19. und frühen 20. Jahrhundert angelegt: Der Bewegung ist die Doppelrolle ihrer Institutionalisierung als politische Partei auf der einen und der Gewerkschaft auf der anderen Seite nicht bekommen. "Gleich zweifach kämpfte die Arbeiterbewegung darum, die gesetzlich geschützten Verhältnisse im Klassenstaat den Bedürfnissen des Proletariats anzupassen - und hat auf diese Weise gleich zweifach dafür gesorgt, dass das Proletariat sich und seine Nöte, Ansprüche und Kampfziele der bürgerlichen Ordnung anpasste." Wiewohl keine Extrabetrachtung zur deutschen Widervereinigung geleistet wird, kann mit gleichem Zynismus hinzugefügt werden, dass sich seit 1989 genau der gleiche Prozess der Selbstentmündigung mit nationalem Stolz verbrämt wiederholt.

Titelbild

Peter Decker / Konrad Hecker: Das Proletariat. Die große Karriere der lohnarbeitenden Klasse kommt an ihr gerechtes Ende.
Gegenstandpunkt Verlag, München 2002.
279 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 392921105X

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