Liebe lässt sich nicht erzwingen

Judith Hermanns Erzählungen "Nichts als Gespenster"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem schäbigen Motel in Nevada resümiert eine der weiblichen Figuren, "daß man nichts erzwingen kann, am allerwenigsten so etwas wie die Liebe, eine lächerliche Erkenntnis, dennoch tröstlich."

Die Protagonisten in Judith Hermanns sieben Erzählungen sind zwar keine gänzlich introvertierten Figuren, doch die Autorin zeigt uns deren Handeln lediglich in einem Mikrokosmos, der gegen gesellschaftliche Einflüsse isoliert zu sein scheint. Ruth und Raoul, Felix und Ellen, Jonina und Magnus und all die anderen Suchenden (egal, ob in Berlin, auf Korsika oder in der Wüste Nevadas) des "kleinen privaten Glücks" lotst sie durch ein Labyrinth der Emotionen, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint.

Hermanns neuer Band dürfte die wohl mit am meisten Spannung erwartete deutschsprachige Neuerscheinung dieses Bücherfrühjahres sein. 1998 hatte die in Berlin lebende Autorin mit ihren Debüt-Erzählungen "Sommerhaus, später" einen Riesenerfolg. Mehr als 250.000 Exemplare gingen über die Ladentische, und der Erstling wurde in 17 Sprachen übersetzt.

Die heute 32-jährige Schriftstellerin wurde von der Kritik mit Lob überhäuft, Superlative machten die Runde, die großen Feuilletons leisteten Hebammendienste bei der Geburt eines neuen deutschen Literaturstars. Der "Sound einer neuen Generation" und Erzählungen mit "unwiderstehlichem Sog" wurden attestiert. Marcel Reich-Ranicki sprach von einer "hervorragenden Autorin".

Allein durch den Verkaufserfolg ihres Erstlings ragt Judith Hermann tatsächlich aus der Schriftsteller-Schar ihrer Generation hervor. Doch thematisch? Haben nicht David Wagner und Ricarda Junge in ihren jüngst erschienenen Erzählbänden ein ähnliches Terrain beackert?

Junge Menschen, denen der rechte Lebenssinn noch fehlt, die an aufkeimenden und jäh zerbrechenden Beziehungen leiden, die sich wie suchende Wanderer ohne Kompass durch den Alltag lavieren und unendlich viel reisen, sind hier wie dort (und auch schon im "Sommerhaus") die Protagonisten.

Das hat weniger mit dem "Sound" der jüngeren Generation zu tun als mit deren Lebensgefühl, das - anders als vor 30 Jahren - nicht durch Rebellion und Revolte, sondern von einer starken Sehnsucht nach Harmonie geprägt ist. Nicht die Welt, sondern die Gefühle sollen erobert werden.

Judith Hermann schafft es in diesen Erzählungen, mit einfachen sprachlichen Mitteln eine beklemmende Atmosphäre der Verstörungen, Enttäuschungen und seelischen Verletzungen zu inszenieren. Ein "neuer Sound" klingt nicht durch die Zeilen, bisweilen hätte man sich als Leser sogar etwas mehr sprachliche Präzision von der hoch gelobten Autorin gewünscht. "Das Gefühl in meinem Magen war jetzt eindeutig Angst. Ich warf mein letztes Geld in ein Münztelefon und wählte Ruths Nummer", heißt es in der einleitenden Erzählung des Bandes. Wenn Emotionen eine solch dominante Rolle spielen wie bei Judith Hermann, hätte man gern erfahren, wie sich diese Angst äußert. Nur eine Marginalie - auch das alte Münztelefon wirkt in einer so zeitgeistnahen Erzählung irgendwie deplatziert.

Mehr als vier Jahre hat sich Judith Hermann für die Veröffentlichung ihres zweiten Buches Zeit genommen und wieder den Nerv ihrer Generation getroffen, die in diesen Texten vermutlich auf einen hohen Wiedererkennungswert stößt. Allerdings ist auch nicht auszuschließen, dass Angehörige anderer Altersgruppen "nichts als Gespenster" sehen.

Titelbild

Judith Hermann: Nichts als Gespenster.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
256 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 310033180X

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