Schmerzhafter Blick auf Heimat

Joseph Zoderers neuer Roman "Der Schmerz der Gewöhnung"

Von Wolfgang Franz HacklRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Franz Hackl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jul und Mara leben als Journalist bzw. Lehrerin mit ihrer Tochter Natalie auf einem selbst renovierten Bauernhof im Südtiroler Pustertal. Diese Harmonie zerbricht durch den Tod von Natalie, doch nicht jäh und dramatisch. Erst nach vielen Jahren der wachsenden Entfremdung bricht Jul auf und fährt nach Agrigento, in die Heimat stadt von Maras Vater. Dieser war als junger, ehrgeiziger Mussolinifaschist nach Südtirol gekommen, war dort für die faschistische Erziehung der Jugend verantwortlich, hatte eine deutsche Südtirolerin geheiratet und nach Kriegsende die politische Karriere unbeschadet in eine berufliche als Rechtsanwalt und Unternehmer weiterführen können. Jul dagegen stammt aus einer Optanten-Familie: seine Eltern hatten sich nach dem Hitler-Mussolini-Pakt (1939) angesichts der wachsenden Verelendung für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden und damit für die Auswanderung ins Deutsche Reich. Der mehrfach konträre familiäre Hintergrund des Paares bleibt jedoch vorerst durch das gemeinsame Engagement gegen das politische Establishment im Aufbruch der 68er geprägt, später passt die kulturelle Eintracht zur familiären Harmonie.

In Agrigento wohnt Jul in einem schäbigen Hotel, durchstreift die Stadt, sucht Spuren von Maras Familie und verknüpft sie mit Episoden der eigenen Geschichte und der seiner Heimat. Damit wird die Familiengeschichte zur Grundlage für die erzählerisch gelungene Gestaltung von Zoderers Auseinandersetzung mit Heimat und Identität, mit der Spannung von Eigenem und Fremdem in der Begegnung zweier Kulturen.

Der Roman ist also nur vordergründig ein Südtirolroman, doch Südtirol bietet sich an, um Facetten dieses komplexen Themas erzählerisch zu veranschaulichen und nicht nur theoretisch zu erörtern. Denn Südtirol gilt vielen als Musterbeispiel für ein gelungenes Zusammenleben verschiedener Kulturen.

Doch Zoderer begnügt sich nicht mit Erfolgsgeschichte einer Region, die durch wirtschaftliche Prosperität jahrzehnte lang kulturelle und politische Konflikte harmonisierte. Die privaten Katastrophe lässt den Protagonisten vielmehr nach und nach die Bruchlinien seiner eigenen Existenz und die Oberflächlichkeit der kulturellen Koexistenz der beiden Volksgruppen erfahren. Fühlte er sich früher von Maras Fremde angezogen, beschimpft er sie in der Krise als Sizilianerin. Distanzierte er sich früher von der selbstzufriedenen Heimattümelei seiner Landsleute, war ihm seine Heimat zu kalenderhaft bukolisch, polemisierte er als Journalist in Kommentaren und Glossen gegen die Verhinderer eines toleranten Zusammenlebens, so wird er nun "selbst zu einem lederhosigen Heimatverteidiger", der die Familie seiner Frau als Besatzer beschimpft und italienische Touristen wutschäumend in ihre Städte und ans Meer zurückjagen möchte.

So sehr der Protagonist unter diesem Erlebnis der eigenen Intoleranz und Arroganz leidet, so bleibt beim Leser doch eine gewissen Irritation zurück. Denn Zoderer verflechtet die Erinnerung Juls immer wieder mit ausladenden Naturschilderungen, die im krassen Gegensatz zum kargen und schmutzigen Agrigento stehen, und er lässt zudem in einer zentralen Episode Maras Vater bei dem Versuch scheitern, als Sizilianer in Südtirol bodenständig zu werden. Sein Bemühen, ein Stück Land urbar zu machen und Kartoffel zu pflanzen, trägt keine Früchte: Lavendel, Pfefferminze und später Pappeln werden rasch vom Tiroler Bergwald verdrängt. Setzt sich hier metaphorisch das Bodenständige gegen fremdes Bemühen um Heimat und Bodenständigkeit durch?

Freilich ist es gerade diese Ambivalenz, dieses ständige Hinterfragen und erzählerische Auflösen von scheinbar eindeutigen Positionen und Verhaltensweisen gegenüber der eigenen und der anderen Kultur bis hin zum Verzicht auf jede politischer Korrektheit, die diesen Roman, diese Biographie als Puzzle von Zoderers frühen Romanen lesenswert machen.

Die Suche nach den familiären Wurzeln seiner Frau bringt Jul nicht die vielleicht erhoffte Klärung und Rettung. Zwar schärft sich sein Blick aus der größtmöglichen Distanz des Südens auf seine Heimat im Norden, auf seine Biographie, auf die Beziehung zu Mara, auf die glückliche Zeit mit der Tochter Natalie. Doch mit den immer bedrängender werdenden Erinnerungen verstärken sich seine Kopfschmerzen. Am Ende bricht er im Hotel auf dem schmierigen Teppich zusammen. Er schafft es gerade noch, dem Portier Maras Telefonnummer auf einen Zettel zu schmieren.

Titelbild

Joseph Zoderer: Der Schmerz der Gewöhnung. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2002.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3446201378

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