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"Das Jahrhundert der Angst" unter der Sowjetherrschaft - eine Abrechnung von Daniil Granin

Von Viola HardamRSS-Newsfeed neuer Artikel von Viola Hardam

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Saal ist zum Bersten gefüllt, die Luft knistert vor Spannung. Gleich wird Michael Sostschenko die Tribüne betreten, um sich vor dem Schriftstellerverband für sein Fehlverhalten zu entschuldigen. Wie hungrige Wölfe lauern die Mitglieder der Versammlung darauf, über den kleinen, zerbrechlichen, blassen Mann herzufallen, ihn zur Strecke zu bringen. Er, der es gewagt hat, einem sowjetischen Parteifunktionär in aller Öffentlichkeit zu widersprechen, soll sich vor ihnen allen ducken, Reue bekennen. Dabei ist klar, dass alles, was er auch sagen wird, verkehrt ist, er sich nur herausreden will.

Als Sostschenko die Bühne betritt, kommt Bewegung in den Saal. Alle warten gespannt, was passieren wird. Wird er Selbstkritik üben, sich unterordnen und entschuldigen? Doch das Unglaubliche geschieht - er wagt es, sich zu verteidigen, anzugreifen. Seine Stimme ist schwach und brüchig: "Formales Reden liegt mir nicht. Und was soll euch mein formales Fehlerbekenntnis?" Doch genau das erwartet man von ihm. "Ich werde sagen, was ich denke, nur dann kann man richtig verstehen, mit was für einem Menschen man es zu tun hat."

Gebannt hat der russische Schriftsteller Daniil Granin 1954 miterlebt, wie ein Mensch in einer existentiellen Situation die Angst überwindet. Statt sich zu fügen und zu ducken, tritt er den Weg nach Vorne an. Er greift an und wehrt sich. Ein anderer konnte es nicht: Alexander Twardowski. Er duldete schweigend, dass seine Eltern der Entkulakisierung zum Opfer fielen und litt bis zum Tode unter der Tragödie seines Versagens. Doch er ist nicht der Einzige, der nicht genügend Kraft aufbringen kann, sich gegen die eigene Angst aufzulehnen. Es handelt sich um eine Angst, die sich nicht genau definieren läßt. Sie tritt überall in Erscheinung, immer auf unterschiedlichste Art und Weise: im Krieg, in Alpträumen, als Angst vor der Atombombe, dem Erwachsenwerden, vor Krankheit und Tod, Verrat und Verleumdung, vor dem Ausschluß von der Partei, vor den "Organen" im Staat. "Seit Iwan dem Schrecklichen lebte Rußland in Angst. Mal war sie geringer, mal wieder größer, aber immer gab es eine Geheimpolizei, eine 3. Abteilung, eine Tscheka, GPU oder ein KGB." Die Menschen haben Angst vor Bespitzelung, Lüge, Verrat, Ausgrenzung.

"Nirgends fühlten sich die Menschen sicher. Sie glaubten ständig, von wachsamen Augen und Ohren beobachtet zu werden, ohne sich verkriechen zu können. Alles wurde durchleuchtet. Überall Röntgenstrahlen - lautlos und unsichtbar, aber irgendwo stand ein Bildschirm, und dort sah man bis in unser Innerstes."

Einschüchterung, Mißtrauen, Neid, Feigheit und Denunziation sind Mechanismen der Diktatur, die das Leben der Menschen in Russland beherrschen und kontrollieren. "Die Angst, die ein gesichtsloser Begriff von Macht und Staat einflößt, verursacht entsetzliche Qualen. Sie läßt den in ihr Gefangenen keinen Augenblick los, dringt ein in seine Träume, in seine Familie, in seine Freizeit."

Daniil Granin setzt sich in seinem neuesten Buch mit der Frage auseinander, wie Angst das Handeln der Menschen bestimmt. Und er will mit diesem Gefühl abrechnen. Es sind Aufzeichnungen über "die Angst, die so wunderbare geistige Impulse in meiner Generation erstickte, unsere Charaktere verbog, uns kraftlos machte und so bittere Erinnerungen hinterließ". Auf spannende Art und Weise in einer Mischung von Erzählung und geschichtlicher Aufbereitung - von Sophokles, über Tolstoi bis hin zu Stalin - geht Granin den Ursachen der Angst auf den Grund und analysiert ihre unterschiedlichen Formen.

Titelbild

Daniil Granin: Das Jahrhundert der Angst.
Verlag Volk & Welt, Berlin 1999.
151 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3353010904

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