Lesewut und Sterbenssucht

Sechs Erzählungen Hermann Burgers, posthum als Geburtstagsgeschenk

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der exzentrische Melancholiker aus der Schweizer Provinz würde heute in einem Namen mit Thomas Bernhard genannt - hätte er nicht 1989, vier Jahre nach dem literarischen Durchbruch beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt, seinem Leben ein Ende gesetzt. Nun hat der Züricher Ammann Verlag ein Taschenbuch mit sechs Erzählungen herausgegeben, das die Bände "Diabelli" von 1979 und "Blankenburg" von 1989 umfasst.

Burger ist ein ganz außerordentlicher Erzähler, ein musikalisch geschulter Virtuose der Prosodie als auch unerschöpflich beim Heranziehen immer neuer Fachsprachen, deren Sinn und Klang seine Prosa genießerisch speisen. Dazu gehören allen voran die Sprachen der Musik, aber auch der Geophysik und der Gewässerkunde, der professionellen Nachtwächter und der Botanik.

Neben dem ausgedehnten Monolog, den der Hotelportier im Klagenfurter Siegertext "Die Wasserfallfinsternis von Badgastein" aufzeichnet, gibt es da etwa die Adoleszenzgeschichte eines schüchternen Eisläufers, der im Strudel seiner eigenen Ängste untergeht, das Einstellungsgesuch eines Musikers an den Generalmusikdirektor ("Der Orchesterdiener") oder die kunstvoll musikalisch komponierte Erzählung "Diabelli".

Der außergewöhnlichste dieser außergewöhnlichen Texte ist jedoch der ausgedehnte ,Zustandsbericht eines Leselosen', "Blankenburg", eine Krankheitsgeschichte: Der Erzähler leidet am Morbus lexis, Leselosigkeit, denn er hat sich überlesen und geht nun daran zugrunde, dass er nichts mehr zu lesen hat. In der Geschichte wird eine Gräfin zu Blankenburg seine Retterin, die sich, gleichsam Nachfahrin der verschiedenen adeligen Gönnerinnen Rilkes, um den Dichter kümmert und über eine riesenhafte Bibliothek verfügt, die sich der Leidende mit Hilfe gelehrter Zitat-Anspielungen vor Augen hält. Dabei bereitet der überdrüssige Germanist in gleichsam implodierenden Zusammenführungen von Ideen seinen Kollegen einen riesenhaften Nachlass vertrackter Intertextualität: Wenn es z. B. heißt, dass "am Anfang nicht das Wort sondern der Satzbau war, der Turmbau zu Babel zwar in die Höhe, aber die Chinesische Mauer der Grammatik in die Tiefe wuchs", so löst Burger ganz nebenbei eines der Rätsel, das die Kafka-Forscher des längeren beschäftigt. Diese uferlose, von Burgers Musikalität gehaltene Meditation über Sprachkunst, Sprache und Verdammnis wird vergleichsweise abrupt beendet: Nachdem ihm die Wohltäterin die Bände des Grimm'schen Wörterbuchs schickt, glaubt sich der Leselose gesundet und kündigt der reichen Bibliothekarin seinen Besuch an. "Ich komme, Frau Menscha, ich bin schon unterwegs" - lautet der letzte Satz. Wer Burger kennt, wird darin wohl den Entschluss zum Abschied sehen, mit dem sich Burger der jenseitigen "Herrin auf Blankenburg" überantwortet hat. "Blankenburg" ist wohl das gehaltvollste Vermächtnis Burgers: Unschwer enttarnt man den Kranken, der am Zustand des Ausgelesen-Habens laboriert, als den Autor selbst. Verschiedene Todesarten werden im Monolog erwogen, und obwohl zum Zeitpunkt der Abfassung die Faszination des Wasserfalls, mit dem man sich in die Tiefe werfen könnte, überwiegt, enthält "Blankenburg" schon Gedankenspiele mit dem rasanten Bugatti, mit dem sich Burger einige Jahre später tatsächlich umbringen wird. Literarisch gibt es allerdings eine Rettung: Durch den Schatzfund der Worte, den die fiktive Gräfin dem Dichter ermöglicht. Ihn hat Burger, der einzigartige Zu-Tage-Förderer verschütteter und vergessener Leckerbissen deutschsprachiger Ausdrucksvielfalt, schon zu Lebzeiten geborgen.

Titelbild

Hermann Burger: Diabelli-Blankenburg. Erzählungen.
Ammann Verlag, Zürich 2002.
275 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-10: 3250300098

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