Tabubruch im Frühling

Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen"

Von Monika NowickaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Nowicka

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Moritz, in schulischen Schwierigkeiten steckend, wird von seinem Freund Melchior durch eine Aufklärungsschrift in sexuellen Angelegenheiten unterrichtet. Doch Moritz ist verstört, er kann die körperlichen Empfindungen nicht zulassen, da die stark tabuisierte Sexualität große Schuldgefühle bei ihm hervorruft. Dieser Zwiespalt, sowie die Tatsache, dass er in der Schule nicht versetzt wird, bewirken, dass er schließlich Selbstmord begeht.

"Geschrieben im Herbst 1890 bis Ostern 1891" thematisiert "Frühlings Erwachen" von Frank Wedekind schulische aber vor allem sexuelle Probleme pubertierender Jugendlicher. Kein Wunder also, dass die spießige und verklemmte Gesellschaft des Wilhelminismus das Buch als Provokation ansah.

Im Mittelpunkt der Handlung stehen drei Personen: die 14-jährige Wendla und die zwei Schulfreunde Moritz und Melchior. Sexus, Homosexualität, Masturbation, sadomasochistisches Verlangen und Abtreibung - absolute Tabuthemen der damaligen Zeit - werden in den Mittelpunkt des recht knappen, gestrafften Stücks gestellt.

Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" entspricht nicht der klassischen Form der Tragödie und der drei Einheiten. Ständige Ortswechsel und typisierte Figuren, die unterschiedliche Probleme repräsentieren, sorgen dafür, dass Spannung aufkommt. Doch nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt bricht mit den Konventionen. Durch Neugier getrieben lassen sich Melchior und Wendla aufeinander ein: Wendla wird schwanger, ihre Mutter veranlasst sofort die Abtreibung, an deren Folgen das noch sehr junge Mädchen stirbt, Melchior landet, vom Vater verbannt, in einer Besserungsanstalt.

Wedekinds Intention war es offenbar, die gesellschaftliche Ordnung seiner Zeit zu kritisieren. Der von Hansgeorg Schmidt-Bergmann kommentierte Textband der Suhrkamp-Basis-Bibliothek bietet eine Fülle von Dokumenten, die dazu einladen, sich mit "Frühlings Erwachen" eingehender zu beschäftigen. Der immerhin 60seitige Kommentar enthält eine Zeittafel, einen Essay des Herausgebers, Daten zur Entstehungsgeschichte, eine Wiedergabe der wichtigsten Handlungsstationen, eine Darstellung des dramatischen Modells (Gattungstheorie), Dokumente zu Wedekinds Autorentheorie, zum damaligen Umgang mit Sexualität, Brief- und Rezeptionszeugnisse, eine Darstellung der zeitgenössischen Aufführungspraxis sowie Litearturhinweise und einen Stellenkommentar. Außerdem bietet Schmidt-Bergmann Worterklärungen und andere Kommentare in der Marginalspalte zum Dramentext. Der Verlag, in dessen Basisbibliothek schon zahlreiche Klassiker für Schüler und Studenten erschienen sind, hat zusätzlich ein Lesezeichen mit Benutzerhinweisen beigelegt. So ist es eine brauchbare, schlüssige, kompakte Edition geworden.

Die erwachenden Lebenstriebe der Jugendlichen werden in dem Stück durch die erstarrte Moral der Erwachsenen zurückgedrängt. Die jungen Menschen fallen der Prüderie und der Verlogenheit der Gesellschaft sowie dem strengem Erziehungssystem zum Opfer.

Trotz der starken Dramatik enthält das Buch viele komische Aspekte, zum Beispiel die satirische Darstellung der Erwachsenenwelt, die sich unter anderem in der Namenssemantik manifestiert: Rektor Sonnenstich, Pastor Kahlbauch usw. Die unbeholfene Weise der Jugendlichen über Sexualität zu sprechen, obwohl ihnen das nötige Vokabular fehlt, kann aber auch als tragisch empfunden werden.

Als Besonderheit seines Werkes hat Wedekind die Realitätsnähe seines Werkes betont: "Fast jede Szene entspricht einem wirklichem Vorgang." Diese Äußereung aus dem Jahre 1911 wirft nicht zuletzt die Frage nach seiner Aktualität auf, auch für uns. Sicherlich kann angenommen werden, dass neben dem Hauptaspekt auch viele der anderen angeschnittenen Themen (gewaltfreie, moderne, offene Erziehungsmethoden, frühe und ungewollte Schwangerschaft usw.) weiterhin aktuell sind. Allerdings wird die Lektüre nicht mehr den gleichen Effekt haben wie damals - gleichwohl kann die Inszenierung des Stoffes auf der Bühne noch immer schockieren. Insofern ist Wedekind nach wie vor gefragt.

Der schmale, sehr ereignisrreiche Text ist schnell gelesen. Wedekind war es wohl wichtig, so viele Tabus wie möglich zu brechen; auf die einzelnen Problematiken ging er nicht genauer ein.

In der Schlussszene begegnen sich der geflohene Melchior und sein verstorbener Freund Moritz an Wendlas Grab. Moritz versucht seinen Freund zum Selbstmord zu bewegen, doch hier erscheint ein vermummter Herr, der das Leben verkörpern soll. Es gelingt ihm, Moritz von seinem Vorhaben abzubringen. So bleibt schließlich wenigstens eine der Hauptfiguren am Leben.

Titelbild

Frank Wedekind: Frühlingserwachen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
148 Seiten, 5,50 EUR.
ISBN-10: 3518188216

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