Medizin und Moral

Frank Nager über den "heilkundigen Dichter" Goethe und Klaus Pfeifer über den Arzt Hufeland

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Fach "Medizingeschichte" wird heute an den Universitäten zunehmend durch die "Medizinethik" verdrängt. Das entspricht dem offensichtlich gewachsenen Bedarf an Orientierungen für die ethischen Aspekte ärztlichen Handelns. Die in Göttingen ansässige "Akademie für Ethik in der Medizin" empfiehlt dem neuen Fach etliche "Lernziele". Eines heißt: "Sensibilität für die moralischen Dimensionen des Handelns in der Medizin" (http://www.gwdg.de/~ukee/lehrziele.pdf).

Was die Medizinethik mit solchen und ähnlichen Lernzielen nicht im Blick hat, ist ein ganz anders gearteter Zusammenhang von Medizin und Moral. Sensibilität für ihn kann die Medizingeschichte verschaffen - wenn sie nicht ganz so distanzlos und verehrungsvoll mit ehemaligen Heroen der Heilkunst umgeht wie in zwei Büchern von Ärzten über die Medizin um 1800.

Im 18. Jahrhundert, als die Aufklärung dem diesseitigen Heil der Menschen eine größere Bedeutung zuzuschreiben begann als dem jenseitigen, wurde die Sorge um die Gesundheit des Einzelnen und der Gesellschaft zur Obsession. Medizinisches Wissen gewann in dieser Zeit eine das Bewusstsein und das Verhalten der Menschen normierende Macht wie vorher nur die Religion. Die höchste metaphysische Instanz, auf die sich die Religion berief, wurde durch eine andere ersetzt: die Natur.

"Die Natur giebt uns, wenn wir unsere Bedürfnisse nach ihrer Vorschrift einrichten, einen starken und gesunden Körper dafür zur Belohnung", belehrte der berühmte Lausanner Arzt Simon Andre Tissot 1770 die Leser seiner erfolgreichen gesundheitspolitischen Schriften. Er rechtfertigte damit die "Sitten des Landlebens", die "die Natur selbst vorgeschrieben hat". Die Sprache, in der die Natur ihre Vorschriften kundtut, bedarf freilich, wie die 'Sprache' Gottes, professioneller Vermittler, die sie zu entziffern und zu übersetzen verstehen. Der Arzt avanciert zu einer Art Priester, er "predigt", so formulierte es 1772 ein Medizinalprofessor aus Jena, "die Gesetze der Lebensordnung, der Gesundheit und des bürgerlichen Glücks."

Die Gesundheitsbewegung des 18. Jahrhunderts setzte moralisch abweichendes Verhalten vielfach mit Krankheit gleich. Krankheiten wurden moralisch gedeutet und Amoralität pathologisiert. Beifällig konstatierte denn auch der in Frankreich wie in Deutschland hochangesehene Arzt Philippe Pinel "eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen der Moralphilosophie und der Arzneikunde", und er fügte emphatisch hinzu: "O wie wichtig ist es um der Hypochondrie, der Melancholie, der Tollheit vorzubeugen, die unveränderlichen Gesetze der Moral zu beobachten, sich selbst zu beherrschen, seinen Leidenschaften zu gebieten". Gleiches galt auch im Hinblick auf physische Krankheiten.

Der Arzt und Aufklärer Christoph Wilhelm Hufeland erklärte gleich in der Vorrede zu seinem ungemein erfolgreichen Buch über "Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern", "daß physische und moralische Gesundheit" unmittelbar "verwandt" sind, betonte die Unentbehrlichkeit "der moralischen Gesetze [...] zur physischen Erhaltung und Verlängerung des Lebens" und unterstellte die Schrift dem "doppelten Zweck", "nicht bloß die Menschen gesünder und länger lebend, sondern auch durch das Bestreben dazu besser und sittlicher zu machen!" Dem praktischen Teil seines Buches stellte er als Motto einige Sätze aus Goethes "Wilhelm Meister" voran: "Wenn die Natur verabscheut, so spricht sie es laut aus. Das Geschöpf [...], was falsch lebt, wird früh zerstört. Unfruchtbarkeit, kümmerliches Dasein, frühzeitiges Verfallen - das sind ihre Flüche, die Kennzeichen ihrer Strenge. Nur durch unmittelbare Folgen straft sie. Da! Seht um euch her, und, was verboten und verflucht ist, wird euch in die Augen fallen."

Goethe und Hufeland sind die 'Helden' der beiden medizingeschichtlichen Bücher, auf die ich hier ein wenig eingehen möchte, auch weil sich an ihnen zeigen lässt, dass der Moralismus der aufklärerischen Medizin noch heute von vielen Ärzten fortgeschrieben wird. Der Arzt Frank Nager veröffentlichte erstmals 1990 sein inzwischen neu aufgelegtes Buch "Der heilkundige Dichter. Goethe und die Medizin". Der Chirurg Klaus Pfeifer hatte 1968 in der damaligen DDR eine Hufeland-Biografie vorgelegt. Aus ihr ist das Buch "Medizin der Goethezeit. Christoph Wilhelm Hufeland und die Heilkunde des 18. Jahrhunderts" erwachsen. Beide Bücher gleichen sich darin, dass sie einerseits auf einem profunden Wissen basieren, andererseits insofern dilettantisch sind, als sie die bisherige Forschung zu ihren Gegenständen fast völlig ignorieren. Beide enthalten eine Fülle von historischem Material und sind so geschrieben, dass sie jeder versteht. Und beide Autoren sympathisieren mit jenen Formen 'ganzheitlicher Medizin', die keine Erfindung der Gegenwart, sondern der Goethezeit ist.

Und die beiden Helden der Bücher kannten sich gut. Hufeland praktizierte ein Jahrzehnt lang in Weimar, bevor er nach Jena und später nach Berlin berufen wurde. Er war in dieser Zeit der Arzt Goethes und ließ ihm alle Exemplare seiner wissenschaftlichen Publikationen zukommen. Goethe wiederum lud Hufeland, so berichtet Klaus Pfeifer, zur ständigen Teilnahme an der von ihm initiierten "Freitagsgesellschaft" ein. Über diese Gesellschaft und über einen Vortrag Hufelands in ihr schrieb Goethe 1796: "Wie fruchtbar diese Anstalt selbst für die Universität geworden, geht aus dem einzigen Beispiel schon genugsam hervor, daß der Herzog, der in einer solchen Sitzung eine Vorlesung des Dr. Christian Wilhelm Hufeland angehört, sogleich beschloß, ihm eine Professur in Jena zu erteilen, wo derselbe sich durch mannigfache Tätigkeit zu einem immer zunehmenden Wirkungskreise vorzubereiten wusste."

Hufeland hatte in der "Freitagsgesellschaft" Auszüge aus seiner "Makrobiotik" vorgetragen. Auf diese geht Pfeifer besonders ausführlich ein. Bei allen Verdiensten, die sein Buch hier wie auch in seinen so informativen wie anschaulichen Darstellungen der Diskurse und Alltagspraktiken der Medizin um 1800 hat, stört doch die verehrungsvolle Distanzlosigkeit zu Hufelands Lehren. Dieser Arzt verdient gewiss noch heute viel Respekt, doch der missionarische Moralismus seiner makrobiotischen Botschaften hat eine Penetranz, deren kulturelle Macht der Normierung und Disziplinierung nicht zu unterschätzen ist. Ohne Kommentar zitiert Pfeifer ausführlich Hufelands ironische Anleitungen zur Verkürzung des Lebens. Sie klingen witzig und harmlos, doch hinter ihnen steht die medizinisch argumentierende Drohung frühzeitigen Sterbens. "Man verschwende die Zeugungskräfte so häufig wie möglich." So lautet eine dieser Anleitungen. Gefährlich sind "anhaltendes Tanzen, durchwachte Nächte", und "für das weibliche Geschlecht insbesondere ist das Ranzen ein sehr gewöhnliches Mittel, sich im Galopp zu konsumieren und zu veraltern." "Spielsucht" und überhaupt "alle Arten von heftigen Leidenschaften" sind wie das "recht fleißige" Trinken von Wein und Likör dazu geeignet, "den Körper auszutrocknen und kraftlos zu machen."

Hufelands Patient Goethe hat sich mit seinem fleißigen Weinkonsum nicht an seinen Arzt gehalten. Frank Nager, der den "heilkundigen Dichter" sonst überaus bewundert, rechnet ihm dies als eine der wenigen großen Schwächen vor. Zwei Kapitel seines Buches widmen sich den organischen und den psychischen Krankheiten Goethes: innere Blutungen, Nierenkoliken, Gichtanfälle, ständige Zahnbeschwerden, die zu seinem Tod führende Arteriosklerose und nicht zuletzt die ihn sein Leben lang begleitenden Depressionen. Das über zwei Jahrhunderte tradierte "Heroenbild ausgeglichener körperlicher Gesundheit und seelischer Hamonie" will Nager zerstören, malt jedoch ein neues, noch grandioseres Heldenbild aus, das Bild eines seine Krankheiten erhaben meisternden Menschen. Er beschreibt Goethe als "einen Leidgeübten, dessen meisterhaft gelungenes Leben durch eine schicksalshafte Verflochtenheit mit Krankheit und durch eine vorbildliche Meisterung, ja schöpferische Nutzung körperlicher und seelischer Leiden geprägt ist." Gesundheit sei Goethe nie geschenkt worden, sondern sie sei sein Verdienst: "herbeigerufen, herbeigezwungen durch Tugenden." Die Vokabeln, mit denen diese Tugenden benannt werden, lauten: Selbstbeherrschung, Mäßigung, Verzicht, Opfer oder Entsagung.

Beifällig zitiert Nager Hufelands Goethe-Bild "des vollkommensten Menschen". Und zu diesem Bild gehört, in der Formulierung Hufelands, "daß selbst die bei ihm so lebendige, so schöpferische Phantasie durch die Herrschaft des Verstandes gemäßigt und gezügelt wurde." Im 18. Jahrhundert galt dies als Ausweis moralischer Kompetenz und Autonomie. "Immer wieder und in höchst merkwürdiger Weise", konstatiert Nager, "setzte er [Goethe] Tugend und Gesundheit geradezu gleich". Aus dem "West-östlichen Divan" zitiert er als Beleg dafür: "Was ist Tugend? Ein schöner Name für das einfachste Ding: Gesundheit."

Zu den Tugenden Goethes rechnet Nager auch dessen Fähigkeit "der strikten Abgrenzung gegenüber allem, was er als ungesund, als krank, als 'kontagiös' empfindet." Enthusiastisch preist er den "fanatischen Antiraucher". Die Konsequenzen, die Goethes Abgrenzung von allem 'Krankhaften' für seinen persönlichen und literaturkritischen Umgang mit gefährdeten Dichterexistenzen wie Lenz, Kleist, Hölderlin oder auch E.T.A. Hoffmann hatte, erwähnt Nager zwar, doch zeigt er keine Distanz zu ihren fragwürdigen Konsequenzen. Zu ihnen gehören Goethes berühmt-berüchtigten und literarhistorisch folgenreichen Äußerungen über die "kranke" Romantik.

Die schroffe, immer wieder zitierte Gegenüberstellung von gesunder Klassik und kranker Romantik, die Eckermann unter dem Datum des 2. April 1829 festhielt, ist, wie der entsprechende Satz in den "Maximen und Reflexionen" bestätigt, ihrem Sinn nach authentisch. Zu Eckermann soll er gesagt haben: "Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke. [...] Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist. Wenn wir nach solchen Qualitäten Klassisches und Romantisches unterscheiden, so werden wir bald im reinen sein." Dem entspricht die Maxime: "Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke."

Goethe war freilich in seinen literarischen und literaturkritischen Äußerungen mit den Attributen 'gesund' und 'krank' ungleich vielschichtiger umgegangen als in solchen Sätzen, vielschichtiger auch als die meisten, die sich später auf sie beriefen. Goethes Krankheitsbegriff, wie er aus dem Werk und einer Vielzahl verstreuter Äußerungen rekonstruiert werden kann, steht dem seiner romantischen Zeitgenossen überraschend nahe. Denn wie sie wertete er Krankheiten positiv auf, indem er sie zur Bedingung einer höheren Form der Gesundheit erklärte. Davon weiß auch das Buch von Nager.

1813 schrieb Goethe in einem Brief: ,,Krankheiten, wenn sie glücklich vorübergehen, bringen mehr Nutzen als Schaden." Und gegenüber Eckermann soll er sich am 14. März 1830 nach einer Kritik der ,,allerneusten ultraromantischen Richtung" in der französischen Literatur in einer Weise geäußert haben, die wie von Novalis abgelesen wirkt: ,,Ich vergleiche die jetzige literarische Epoche dem Zustande eines heftigen Fiebers, das zwar an sich nicht gut und wünschenswert ist, aber eine bessere Gesundheit als heitere Folge hat."

Solche Äußerungen haben in vielen Werken Goethes literarische Entsprechungen. Krankengeschichten erzählen und Arztfiguren enthalten sie in großer Zahl. Frank Nager hat das Material dazu kenntnisreich zusammengetragen. Sein Buch ist eine Fundgrube für jeden, der sich für das Thema interessiert. In den literarischen Krankengeschichten Goethes sind diejenigen, die, wie etwa Werther, an ihrer Krankheit zugrunde gehen, von denen, die geheilt werden, deutlich unterschieden. Der Krankheit zum Tode setzt Goethe immer wieder Beispiele geglückter Krankheitsüberwindungen entgegen, und er verweist dabei wiederholt auch auf seine eigene Lebensgeschichte. ,,Daß Pathologisches nicht immer nur Zerstörung heißt, sondern ein Schritt zur Stärkung des psychischen Apparats sein kann", wie der Psychoanalytiker Kurt R. Eissler mit Blick auf Goethe meint, entspricht ganz Goethes Konstruktionen der eigenen Lebensgeschichte und der Geschichte etlicher literarischer Figuren. Geheilt wird ebenfalls der wahnsinnige Orest in dem "Iphigenie"-Drama. Und auch die Titelfigur selbst, die, getrennt von der Heimat, in der Fremde leben muss und dabei (gleich in den ersten Auftritten) etliche Symptome der Melancholie zeigt, bedarf der Heilung. ,,Das ist's warum mein blutend Herz nicht heilt." Dem damals so überaus beliebten triadischen Schema ,,Einheit - Entzweiung - Neue Einheit" und einer entsprechenden topographischen Modellierung in Erzählungen über die ganze Menschheitsgeschichte oder die Entwicklungsgeschichte einzelner Subjekte folgt auch dieses klassische Drama und führt an seinen Protagonisten vor, daß der Zustand der Entzweiung ein pathologischer ist und die am Ende neu gewonnene Einheit mit Gesundheit und individueller Autonomie einher geht. In "Wilhelm Meisters Lehrjahre" steht der Satz: ,,Alle Übergänge sind Krisen, und ist eine Krise nicht Krankheit?" Das Konzept der Bildung, das diesem Roman zugrunde liegt, setzt das Durchlaufen von Krisen und Krankheiten voraus. Und so muss Wilhelm, der so fasziniert ist von dem Bild des ,,kranken Königssohns", der sich mit dem schwermütigen Prinzen Hamlet identifiziert und seine eigenen Gefährdungen in Figuren wie dem Harfner und Mignon gespiegelt findet, von körperlichen Krankheiten und psychischen Krisen geheilt werden, bevor er selbst zum Wundarzt wird.

"Wilhelm Meister" ist der literarische Text Goethes, der wohl am intensivsten in die medizinischen Diskurse seiner Zeit involviert ist. Die 1998 erschienene Habilitationsschrift von Rudolf Käser "Arzt, Tod und Text" mit exemplarischen Untersuchungen über die "Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur" des 19. und 20. Jahrhunderts zeigt in einem ausführlichen und lesenswerten Kapitel über Goethes Roman, wie dieser den Moralismus der damaligen Medizin immer wieder unterläuft. Den Typus des moralisierenden, 'ganzheitlich' denkenden Arztes repräsentiert hier die Figur des "Medikus", der der kranken Mignon seine Diagnose stellt. In Nagers Perspektive ist dieser Arzt, der manche Ähnlichkeiten mit Hufeland hat, eine vorbildliche Person. Käser schätzt die Perspektive, die der Roman vermittelt, als doppelbödiger ein. Was Käser über diesen Arzt schreibt, kennzeichnet nicht nur diesen, sondern die Doppelbödigkeit vieler realer Repräsentanten einer ganzheitlichen Medizin - um 1800 und oft auch noch in der Gegenwart: "Dem weichen, humanen Gehalt ihrer Rede widerspricht die schneidende moralische Schärfe ihrer kommunikativen Funktion".

Titelbild

Rudolf Käser: Arzt, Tod und Text. Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur.
Wilhelm Fink Verlag, München 1998.
355 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3770532902

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Frank Nager: Der heilkundige Dichter. Goethe und die Medizin.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf und Zürich 1999.
288 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3760812090

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Titelbild

Klaus Pfeifer: Medizin der Goethezeit. Christoph Wilhelm Hufeland und die Heilkunst des 18. Jahrhunderts.
Böhlau Verlag, Köln/ Weimar/ Wien 2000.
293 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3412131997

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