Die Lust im Häcksler

Eva Christina Zellers neuer Gedichtband "Tübingen, Stiftsgarten"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

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Wo die "Stiftsköpfe" Kepler, Hegel, Schelling, Hölderlin, Mörike, Vischer, Strauss Mußestunden suchten und fanden, wo heute Abertausende Touristen den genius loci tottrampeln, da wohnt Eva Christina Zeller und macht die Augen auf und dichtet: "Stiftsgarten, Tübingen". Lyrisches Scheitern oder Epigonalität scheinen fast zwangsläufig, beherrscht doch die Tradition von Hölderlin bis Celan das poetische Gebiet. Zeller nimmt selbst die Kritik im Gedicht vorweg:

zu antiquiert sing ich sagen die richtigen
zeitgemäßen wo sind die brüche?

Wer nur auf Reizworte reagiert, wird rasch Rückwärtsgewandtes, Glattes, Nachfolgertum und Naturfrommes bemerken: Specht und Kuckuck kehren ein ums andere Mal wieder, ebenso das Heraklit-Wort vom Identischen des "Auf und Ab", Wolken, Luft und Winde durchziehen die Zeilen wie manche Anspielung auf Kirchenlied und Bibel, sogar "blaue Schlüsselblumen" und andere mythenschwere Blümelein werden bei ihrem Namen gerufen, Dornröschen beschwört Zeller wie Aschenputtel. Und wer stakt über den Neckar? Klar, der alte Styxexperte Charon.

Wer sich dann enttäuscht abwendet, verkennt die Tatsache, dass Glattes auch wohlgefügt sein kann, dass - wie Robert Gernhardt einmal klarstellte - nicht unbedingt der ein Genie ist, der alte Reime wie "Liebe - Triebe" vermeidet, sondern derjenige, der dem scheintoten Reim neues Leben einflößt. Wenn Rimbaud sich seines Ausspruchs "Je est un autre" so freute, dass er ihn nur zwei Tage später wiederholte, warum sollte Zeller nicht spielerisch mitdichten "ich wollt wohl ich sein aber da ich ich bin will ich bloß fort"? Man muss den Mut begrüßen, die lyrischen Formen, Motive und ehrwürdigen Rhythmen nicht aufzugeben, sondern aufzunehmen, fortzuwirken an dem Textkorpus, statt auf Patchwork zu setzen. Tod, Sterben, Erinnerung, Natur, Liebe, der Wort-Hochseilakt - Zellers Themen sind alle nicht neu, doch ihr gelingen neue Beobachtungen.

Nicht nur die sechzehn Gedichte des Titelzyklus dokumentieren, wie sehr es sich lohnt, Assonanzen zu ehren, Binnenreime einzustreuen, Inversionen und Ellipsen zu hegen, Motivketten zu pflegen, statt gesuchten Bildern Bilder zu finden, Kalauernähe in ernsten Versen zu wagen und die moderne Welt in genaue Naturschilderungen zu integrieren. Obwohl sie über einen langen Zeitraum hin entstanden, wirken die sieben Zyklen und elf weiteren Gedichte vielfach verwoben durch Lieblingswörter, Naturrhythmen, Freude am Kontrast zwischen Um- und Menschenwelt. Es eint sie zudem, dass neben dem "delectare" nicht selten das "prodesse", gar das "docere" steht:

gärtner spritzen gift
auf die wege
sollen sie freibleiben für
gedanken schritte bibellektüre
wo kommen wir da hin
immer im kreis
dünger auf gras damit es grüner
wer gießt wer dünkt mir sprießen nur ein paar
worte kinderaugen wasserkreise
eine spur in der luft
die weidentriebe schmecken nach
lust im häcksler verstummt alles zerstückelt und
ein ende
wo kämen wir da hin
wenn die jungen triebe ungestutzt
an land gewännen

Zellers Lyrik klärt darüber auf, dass Moose und Flechten in zwanzigtausend Arten vorkommen, der Mensch nur in einer; dass die weiteste Pilgerfahrt nach Mekka unfreiwillig tausende Opferlämmer aus Neuseeland antreten; dass der Mond in Neuseeland aufhört, ein deutscher Trabant im Morgenstern'schen Sinn zu sein. Solche Erkenntnisse verdanken sich Zellers Zeit "down under"; antipodisch sieht man anders: "Welt im Reisebüro / plan an der Wand / fällt oben links Europa ins Nichts." Gesucht eher denn gelungen wirkt allerdings ihre Rezeption maorischer Mythologie in "Land der langen weißen Wolke". Dennoch gelingen ihr dort überzeugende Naturbeobachtungen: "Ohne müd zu werden liefen die Meerkämme / [...] / Als wollten alle Wellen / das Meer verlassen."

Zeller beweist hier, was man im 18. Jahrhundert "Einbildungskraft" oder "Witz" genannt hätte. Konsequenter eingesetzt, ersparte ihr diese Fähigkeit manche zu pathosschwere, zu konventionelle, zu oberflächliche oder zu hermetische Formulierung, die ihr zuweilen unterlaufen.

Titelbild

Eva Christina Zeller: Stiftsgarten, Tübingen. Gedichte.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002.
96 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3421057184

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