Brecht als Prosa-Autor

Der dritte Band von Jan Knopfs neuem Brecht-Handbuch

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gemessen am Lyriker und am Dramatiker Brecht steht der Prosa-Autor Brecht auch heute im Hintergrund - obwohl ihn gerade eine Erzählung, "Bargan läßt es sein", schon 1921 im literarischen Zentrum Berlin bekannt machte, obwohl der im Exil entstandene "Dreigroschenroman", der weit mehr ist als eine Nacherzählung der früheren "Dreigroschenoper", vor und nach 1945 eine Fülle von Ausgaben und Übersetzungen erlebte und trotz der Bekanntheit der "Kalendergeschichten" und der Geschichten von Herrn Keuner. Wie wenig dies Urteil dem vielfältigen Werk gerecht wird, belegt der dritte des auf fünf Bände angelegten neuen Brecht-Handbuchs.

Der Zugewinn gegenüber dem ersten, zweibändigen Handbuch liegt zunächst in der Quantität: Mussten sich die Prosatexte, zu denen damals wie heute auch die Filmentwürfe gezählt werden, 1984 noch mit etwa 200 Seiten in einem Band begnügen, der auch den Gedichten und Schriften Raum bot, so steht heute weit mehr als das Doppelte zur Verfügung. Davon profitiert in gewissem Maße auch die Vorstellung der großen Prosawerke und Sammlungen: Neben dem "Dreigroschenroman" die wichtigen Fragmente "Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar" und zum Tui-Roman, einer Intellektuellen-Satire - deren Rezeption heute produktiver denn je wäre - sind dies die Gruppen der Keuner-Geschichten und aus dem "Buch der Wendungen", zudem die "Flüchtlingsgespräche". Mehr noch aber besteht nun die Möglichkeit, auch einzelne, heute weitgehend unbekannte Erzählungen vor allem aus der Zeit vor dem Exil ausführlich vorzustellen.

Neben dem Zugewinn steht der Austausch, der hier vor allem die Filmentwürfe betrifft. Brecht bedurfte des Kollektivs, um arbeiten zu können; keine Kunstform ist dem einsamen Schöpfer feindlicher als der Film. Entsprechend prekär ist, angewendet auf Filmentwürfe, der tradierte Werkbegriff, zumal es sich bei ihnen stets nur um ein Vorstadium handelt und das Ziel, die visuelle Wirkung, in der Dimension des sprachlichen Mediums nur skizziert ist. Im neuen Handbuch führt die Problematik zum kompletten Austausch der behandelten Skripte; die Auswahl ist nun stärker daran orientiert, welche Projekte tatsächlich realisiert wurden.

Verschiebungen zeigt auch die inhaltliche Anlage des Bandes. Vor zwei Jahrzehnten war Jan Knopf, der nun als Herausgeber fungiert, Alleinautor. Sein Engagement für einen unverfälschten Brecht, das sich bis ins sprachliche Detail ausdrückte, war wertvoll und erhellend selbst da, wo man Argumenten nicht bis ins Detail folgen mochte. Die Polemik gegen Fehldeutungen ist nun zurückgetreten, Knopf überlässt meist anderen das Wort. Das Unbehagen liegt nahe, in der Milderung zeige sich nicht nur Brechts Beförderung zum Klassiker, die freilich auch vor zwanzig Jahren kaum mehr in Frage stand, sondern auch, dass die Inhalte, literaturhistorisch eingehegt, nun niemanden mehr aufzuregen vermögen.

Ein zweiter Blick zerstreut den Verdacht. Jan Knopfs Können beweist sich nun darin, dass er Autoren zu versammeln vermochte, die in ihrer Vielstimmigkeit zeigen, mehrfach auch gegen Knopfs Thesen, welche produktiven Widersprüche Brechts Werk enthält. Es fehlt die Verklärung Brechts als Zeugen einer angeblich besseren, linkeren Vergangenheit, und es fehlt der naseweise Tadel, nicht alles sei so gekommen, wie der Kommunist Brecht es erwartete, jedenfalls vorsichtig zu hoffen wagte. Gerade die sachliche Wiedergabe durch die Autoren, zumeist erfahrene Brecht-Forscher, erschließt, angesichts fortdauernder kapitalistischer Verhältnisse und imperialistischer Kriege, die Radikalität der Texte. Was man heute gegen die Realität einwendet, wurde vor Jahrzehnten von Brecht schon besser und klüger gesagt.

Brechts Postulat seit seiner Wendung zum Marxismus war das des gesellschaftlich Nützlichen, wobei er stets fragte, was für wen nützlich sei und sich dem abstrakten Nützlichkeitspostulat des Kapitalismus entzog - wie schon in seiner Distanz zur Neuen Sachlichkeit. So und dennoch mag nach dem Nutzen einer Neuausgabe des Handbuchs gefragt werden.

Kaum etwas einzuwenden ist gegen die Gliederung des Gesamtvorhabens nach Gattungen. Dem historischen Brecht war sie fremd, seine "Versuche"-Hefte brachten Texte unterschiedlichster Anlage zusammen, an denen er vielfach über Jahrzehnte hinweg änderte. Eine Reproduktion nach originalen Publikations-Zusammenhängen verursachte jedoch ebenso wie ein ausschließlich chronologisches Prinzip ein Chaos, das heute den Zugang zu den Werken verstellte, Brechts Absichten also gerade entgegenliefe. Die Autoren reflektieren das Problem und rufen so die Historizität der Texte in Erinnerung. Indem sie die systematische Konsequenz zurückweisen und die Nutzbarkeit bewahren, handeln sie brechtisch.

Nützlich ist eine Neuausgabe des Handbuchs auch, weil nach fast zwanzig Jahren die Wirkungsgeschichte vieler Texte fortzuschreiben ist und weil verschiedenste Forschungen und nicht zuletzt die Vorarbeiten zur neuen Brecht-Ausgabe Erkenntnisse gebracht haben, die nun einzufügen waren. Dennoch sind die Nachteile des Bandes nicht zu verschweigen.

Der Handbuch-Charakter des Ganzen war schon in der Erstausgabe gefährdet, gerade in den umfangreicheren Artikeln. Knopf folgte damals einer Logik der Sache wie vielleicht mehr noch die Autoren in der Gegenwart. Das hat zur Folge, dass in beiden Fällen eine große Zahl wertvoller Interpretationen vorliegt, der Nutzer jedoch, der nur einzelne Informationen sucht, kaum Orientierungshilfen erhält; nun ist sogar die Untergliederung der längeren Artikel, die durchaus mehr als dreißig Seiten umfassen können, aus dem Inhaltsverzeichnis entfernt. Der klarer gegliederte Kommentarteil der neuen Brecht-Ausgabe dürfte in vielen Fällen eine raschere Orientierung ermöglichen.

Den Rahmen eines Handbuchs sprengt auch die gemessen an der früheren Einleitung zum Prosa-Teil aufs Zehnfache aufgeblähte Einleitung voller Redundanzen, die zudem mit einer allzu schematischen Entgegensetzung vom modernen Brecht hier, dem Hauptstrom der Moderne dort, aufwartet: beim Materialisten Brecht bestimme die reale Welt die Subjekte, im modernen Roman der Idealisten Musil, Broch und Thomas Mann dagegen sei die Welt von der Wahrnehmung des Subjekts aus konstruiert. Abgesehen davon, dass diese Dichotomie etwa der vertrackten Welt im "Mann ohne Eigenschaften" mit ihren Realitätskonstruktionen und Ironisierungen kaum gerecht wird und der für Brecht bedeutendere Kafka gleich ganz wegfällt: Es fragt sich, ob der moderne deutschsprachige Roman für Brecht wirklich der wichtigste Bezugspunkt war. Trivialliteratur und angelsächsische Schriftsteller, aber auch moderne Medien wie der Film, in dem meist die von Brecht freilich auch wieder problematisierte Außensicht auf die Dinge dominiert, dürften eine größere Rolle gespielt haben. (Das legitimiert nicht die Rede von einer "filmischen Schreibweise", die immer noch hier und da durchs Handbuch geistert. Brecht selbst hat darauf hingewiesen, dass entsprechende Stilmittel entwickelt wurden, bevor der Film sich durchsetzte, also nicht eine intermediale Verkoppelung, sondern ein sozialgeschichtlich begründetes Bedürfnis zu untersuchen wäre.)

Detailkritik ändert nichts am Wert des Bandes insgesamt. Das Handbuch richtet sich weniger an eilige Nutzer als an Leser, die zu einem bestimmten Text Genaueres erfahren möchten. Diesem Kreis von Interessenten bietet das Buch solide Information und anregende, durchweg treffende Einzelanalysen.

Titelbild

Jan Knopf (Hg.): Brecht Handbuch. Band 3. Prosa, Filme, Drehbücher.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2002.
XXII, 495, 74,90 EUR.
ISBN-10: 3476018318

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