Vom "Strategen im Literaturbetrieb" zum grimassierenden Medienclown

Ein "SITZ"-Sonderheft steckt "Positionen der Literaturkritik" ab

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Literaturkritik steckt in einer Krise. Freilich tut sie das schon, seit es sie gibt. Weshalb "Kritik" und "Krise" tendenziell synonym zu sein scheinen. Dennoch: Die Natur der Krise ändert sich, ebenso die Argumente der "Kritik der Kritik". Und die strukturellen Rahmenbedingungen, mit denen Rezensenten in der täglichen Berufspraxis innerhalb des expandierenden Medienkosmos zu kämpfen haben.

Von Sigrid Löffler stammt die Anekdote, wonach ihr das nahende Ende der Literaturkritik bewusst geworden sei, als sich einmal "eine dieser Hochglanz-Postillen an mich gewandt [habe] - ich glaube, es war 'Cosmopolitan' oder 'Vogue'. Die Redaktion wünschte sich von mir eine Buchkritik. 'Können Sie für uns Susan Sontags Roman Der Liebhaber des Vulkans besprechen?', fragte das Blatt ganz aufgeregt per Fax. 'Das Buch erscheint im Hansa-Verlag. Es hat 550 Seiten. Wir bieten Ihnen ein angemessenes Honorar. Ihre Rezension sollte eine Länge von ein bis drei Zeilen haben'. / Ich habe mir das verlockende Angebot ernsthaft überlegt. Zumal mich in diesem Falle das Zeilenhonorar interessiert hätte. Dann aber habe ich mich entschlossen, mit Karl Kraus zu antworten: 'Sehr geehrte Redaktion. Ihr Angebot, für Sie Susan Sontags Roman Der Liebhaber des Vulkans zu besprechen, ehrt mich. Ich nehme es gerne an. Jetzt sind die drei Zeilen voll'. Kontonummer. Auf das Honorar warte ich leider bis heute."

Im Januar 2001, mehr als ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung und dem deutsch-deutschen Literaturstreit und über 30 nach Walter Boehlichs "Autodafé" von 1968, zogen Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler auf einem Symposium mit dem Titel "Kritik 2000" im Literarischen Colloquium Berlin (LCB) eine Zwischenbilanz zum aktuellen Stand des deutschsprachigen Rezensententums. Exklusiv für dieses Treffen oder im Umfeld dafür sowie für ein Hauptseminar zum Thema "Literaturkritik - gestern, heute und morgen" am Berliner Institut für Literaturforschung entstanden die Beiträge, die nun in einem Sonderheft der Zeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter" publiziert wurden. Herausgeber sind Norbert Miller und Dieter Stolz. Allgegenwärtiger Hintergrund der Beiträge ist die Depotenzierung des Kritikers vom "Strategen im Literaturbetrieb" (Walter Benjamin) zum "Zirkulationsagenten" (Enzensberger), zum grimassierenden Medienclown und Publikumsanimateur. "Das einst geforderte Feuilleton der Avantgarde", so wird bereits im Vorwort klagend konstatiert, "das weithin für jeden Schreibenden, der auf sich hält, der Maßstab geblieben ist, hält den von Einschaltquoten und Abonnentenzahlen aufgestellten Kriterien nicht stand."

Wie kaum anders zu erwarten, wo es um Literaturkritik in Deutschland geht, ist in den Beiträgen des öfteren von IHM die Rede (der übrigens selbst offenbar nicht eingeladen war), auffallender- wie amüsanterweise jedoch meist so, dass SEIN Name gar nicht explizit genannt wird. Vermutlich weil ohnehin jeder weiß, wer gemeint ist. So resümiert etwa der Kritiker Martin Lüdke resigniert: "Er hat die öffentliche Vorstellung von dem, was Kritik ist und sein soll, wesentlich geprägt und dabei stilbildend gewirkt. Ja/Nein, Daumen hoch, Daumen runter. Kritik steht im Dienst der Leser, ist Orientierungshilfe. Klare Urteile, deutliche Aussagen sind gefordert. Um der Wirkung willen sind Differenzierungen zurückzustellen. Die praktische Konsequenz, schnell vollzogen: Nicht der 'lange Riemen', eine ausführliche, auch in Nuancen noch genaue Analyse, 'DIE ZEIT', sondern der 'knackige Hinweis', 'Brigitte', wurde zum mächtigsten Instrument einer sich als Distributionsagentur verstehenden Kritik."

Das Gros der Beiträge besteht aus Erfahrungsberichten und Positionsbestimmungen namhafter Kritiker. Unter ihnen Volker Hage, Martin Lüdke, der SZ-Rezensent Albert von Schirnding, die NZZ-Redakteurin Andrea Köhler und die F. A. Z.-Kritikerin Eva Menasse. Viele der Texte sind mit erhellenden Beispielen aus der eigenen Rezensionspraxis angereichert. Zu den Highlights des Bandes gehört ein von Tilla Fuchs und Elise Clement vorgelegter Überblick über die Literaturkritik in Frankreich, der deutlich macht, dass der Literaturbetrieb im Nachbarland nach anderen Regeln funktioniert. Literaturkritische "Schnellschüsse" und Vorabrezensionen werden dadurch eingedämmt, dass Literaturbeilagen nur einmal in der Woche erscheinen. Auch die Auswahl der zu rezensierenden Bücher funktioniert anders: Während in Deutschland ein Rezensent häufig das Buch bespricht, das ihm der Redakteur zusendet, ob er nun mit dem Autor etwas anfangen kann oder nicht, rezensieren französische Kritiker meist nur die Titel, die sie sich selbst auswählen. Frankreich, du hast es besser, werden da wohl viele Rezensenten hierzulande seufzen.

Der spannendste Teil des Bandes ist jedoch die Wiedergabe einer Podiumsdiskussion, an der Reinhart Baumgart, Helmut Böttiger, Sigrid Löffler, Jörg Magenau, Joachim Scholl und Gustav Seibt teilgenommen haben. Die Kontroverse entzündete sich gerade an den Kassandra-Rufen Sigrid Löfflers, die ihre seit einigen Jahren vertretene These vom zunehmenden Reputationsverfall und Renommee-Verlust der Kritik im deutschsprachigen Raum (ein Prozess, der sich in den USA bereits seit längerem vollziehen soll) erneuerte. Die Benjamin'sche Denkfigur vom Verlust der Aura des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit aufgreifend, behauptet die "Literaturen"-Herausgeberin, dass in Zeiten von allmächtigen Top-Ten-Listen und Verkaufszahlen die Autorität der Kritik verfällt. "Wo sich jeder Laie als Kritiker fühlt, wo Politiker, Minister, Präsidenten, Fernseh-Talkmaster, Schauspieler, Haubenköche und Society-Friseure öffentliche Kunsturteile fällen und wo Teenager über Rockbands auf deren Homepage delirieren, dort hat der Berufskritiker seine Aura des Respekts verloren." Nicht nur, dass die Kritik heute unter dem Diktat des Buchmarkts stehe und der Kritiker mehr und mehr vom Service-Journalisten bedroht werde, sie arbeitet - so Sigrid Löffler - auch noch selbst fleißig daran, die eigene Glaubwürdigkeit zu untergraben.

Dafür lassen sich in der Tat Belege finden. Alles andere als glaubwürdig wirkte die deutschsprachige Kritik etwa im letzten Jahr mit ihren unmotivierten und überraschenden Neubewertungen von Autoren wie Günter Grass oder Christa Wolf [s. dazu auch den Beitrag in literaturkritik.de 5/2002 https://literaturkritik.de/txt/2002-05/2002-05-0089.html]. Zu diesen Umwertungen, die wenig mehr als die elaboriertere Version des bekannten Hoch- und Niederschreibens von Prominenten in der Boulevardpresse zu sein scheint, liefert Löfflers Beitrag Erhellendes: "Unmittelbar, ehe die Grass-Novelle ["Im Krebsgang"; OP] im Buchhandel erschien, las ich in einem verräterischen Stück Selbstreflexion über das Tun und Treiben heutiger Literaturkritik in Deutschland. Ich erfuhr daraus, daß jeder Literaturkritiker, der auf sich hält, dem Anti-Grass-Verein anzugehören hat. Jetzt aber, so wurde dekretiert, sei es an der Zeit, aus dem Anti-Grass-Verein wieder auszutreten. Denn jetzt sei angesagt, daß man ab sofort dem Verein der Nicht-Mitglieder des Anti-Grass-Vereins beitritt. Anderntags, bei der Lektüre der Kritiken zur Grass-Novelle 'Im Krebsgang' konnte man wirklich das Gefühl bekommen, daß der Anti-Grass-Verein jetzt geschlossen in den Pro-Grass-Verein übergetreten ist. Die Kritiken lasen sich wie die konstituierende Versammlung des Vereins. [...] Die Kritiker scheinen sich freiwillig zu einem Meinungskartell zusammenzuschließen, als ob sie nicht mehr wüßten, daß Kritik von der Distinktion lebt, von der interessanten, also von der abweichenden Meinung."

Keine Frage, Löfflers These vom Reputationsverfall der institutionellen Kritik hat einiges für sich. Freilich, ob und inwieweit jene "Aura des Respekts", so sie tatsächlich im Schwinden begriffen sein sollte, nur ein Verlust wäre oder nicht auch ein Gewinn, müsste erst noch geklärt werden. Denn war es nicht auch diese elitäre Haltung der Literaturkritik, gegen die 1968 rebelliert wurde? Sollten nicht gerade die Leser selbst zu Kritikern werden, wie es jetzt, dem Internet und Amazon sei dank, jedem möglich ist?

Denkbar jedenfalls, dass die neuen, elektronisch vernetzten Medien nach den Buchhändlern, Musikproduzenten und der Filmindustrie auch die Literaturkritik unter Druck bringen werden. Neue, kostenfreie Rezensionsmagazine im Internet einerseits, so genannte "Leserrezensionen" bei Online-Buchhändlern andererseits - solche und andere Neuerscheinungen könnten, zumal im Zeichen einer andauernden Wirtschaftskrise gerade im Bereich der Printmedien, über kurz oder lang durchaus zumindest für Teile des Publikums die Literaturkritik in den Tageszeitungen substituieren und für das breite Lesepublikum entbehrlich werden lassen. Es wäre untersuchenswert, ob etwa solche "Leserrezensionen", die ja einer Medienutopie Brechts folgen ("Jeder Empfänger kann auch ein Sender werden"), nicht einem Teil des Publikums Bedürfnisse nach Information, Orientierung und Entscheidungshilfen für den Kauf besser befriedigen, als es noch so umfangreiche Sonderliteraturbeilagen in den renommierten Feuilletons je können werden. (Zu den neuen Formen der Literaturkritik im Internet siehe auch den Beitrag "Kritik und Kommerz" von Sebastian Domsch im "Börsenblatt" 4/2003.)

Übrigens: Von Sigrid Löffler entdeckte ich vor kurzem eine Rezension in der Financial Times Deutschland. Sie war schätzungsweise zehn Zeilen lang, sicher nicht mehr als fünfzehn. Vom Ende der Kritik trennen uns also noch immer zwölf beruhigende Zeilen.

Titelbild

Positionen der Literaturkritik. Sonderheft der Zeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter".
Herausgegeben von Walter Höllerer, Norbert Miller, Joachim Sartorius und Dieter Stolz.
SH-Verlag, Köln 2002.
210 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3894981245

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