Ein Paar Schuhe für die Hände

Der zweite Band der Erinnerungen des Romanisten Johannes Hösle: "Und was wird jetzt?"

Von Manfred StuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Stuber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Augen des emeritierten Professors für Romanistik an der Universität Regensburg blitzt so etwas wie der Schalk. Es ist die ungebrochene Lebenslust in Gestalt der Ironie. "Ich weiß nicht", grinst er einen an, "ob ich ein großer Wissenschaftler bin. Es ist mir auch wurscht. Ich gebe zu, ich saß lieber mit den Studenten in der Pizzeria. Ich war gefürchtet, weil ich sie alle Daumenlang auf einen Capuccino einlud".

Da hat einer seine Funktionsmaske nie ganz ernst nehmen können und ist im Universitätsbetrieb tatsächlich Mensch geblieben. Das kommt gar nicht so häufig vor - und nicht etwa nur an der Universität. Wir müssen gespannt sein, wie er von diesem Ort der bewahrten Menschlichkeit aus in einem eventuell dritten Band seiner Lebenserinnerungen den Campus durchleuchten wird. Kostproben gibt er bereits bei seinen öffentlichen Lesungen.

Johannes Hösle hat vor einigen Jahren begonnen, diesen Menschen zu bewahren, indem er seine Lebensgeschichte erzählt. Nach den Kindheitserinnerungen "Vor aller Zeit" (2000) liegt nun der zweite Band seiner Autobiographie vor: "Und was wird jetzt?" Hösle berichtet darin über seine Jugend bei Kriegsende und zu Beginn des deutschen Wirtschaftswunders, von 1944 bis 1952. Und auch in diesem Band wird der bloße Lebenslauf komisch durch feine Ironie überhöht. Zwar erreicht er nicht immer die Kompaktheit des ersten Bandes, aber auch hier spiegelt politische Geschichte sich witzig in den Kuriositäten des Alltags. So erkennt man etwa daran, dass die Mütter anfangen, aus den Hakenkreuzfahnen Badeklamotten zu schneidern, dass das Reich des Bösen sich unweigerlich dem Untergang nähert.

Hösle ist im schwäbischen Dorf Erolzheim aufgewachsen, und es war ihm gewiss nicht an der Wiege gesungen worden, dass er Professor werden würde. Das Buch beginnt mit dem plötzlichen Tod des Vaters, der ein einfacher Schumacher war. Erzählt wird die Beerdigung im Dorf, und noch lange hängt der Schusterschurz in der Werkstatt am Haken: Keiner wagt ihn anzufassen. Die väterliche Autorität hat ein Nachleben. Es ist Krieg. Nur noch Alte und Kinder leben in der Dorfgemeinschaft. In den Ställen krepieren die Kühe an Maul- und Klauenseuche. Es gibt die ersten Gefallenen. Die Kriegskrüppel humpeln durchs nahe Lazarett, an dem die Dorfschönen balzend vorbei streichen.

Das ist knapp, einfach und dicht erzählt. Bestechend ist der Reichtum an Details und Besonderheiten, die Hösle sich gemerkt hat. Das ist nicht bloß die Gnade des Alters, in dem die Jugend wieder frisch aufleuchtet. Hösle sagt von sich, er habe immer Glück gehabt in seinem Leben. Seine Biographie gefällt ihm, und daran konnte auch die Diphterie nichts ändern und nicht die Multiple Sklerose, die heute seinen Bewegungsradius erheblich einschränkt. Weil ihm sein Leben gefällt, erinnert er sich gern und gut an die Spanne, die ihm auf Erden gegeben war.

Einer, der 1929, im Jahr der großen Weltwirtschaftkrise geboren wurde, wäre eigentlich disponiert gewesen für die persönliche Pleite, so witzelt Hösle. Aber er hatte, wie wir jetzt wissen, das Glück des Tüchtigen. Er sei, so sagt er weise, vor allem keinem wirklich bösen Menschen begegnet in seinem Leben. Er weiß gut, was diese Spezies in einer Menschenexistenz anrichten kann. "Eine böse Vergangenheit macht die Leute selber böse oder sie zerbrechen daran", sagt er. Das blieb ihm erspart.

Hösle hat selber noch beim Schuhmachen geholfen, wie er erzählt. Er rät aber heute dringend davon ab, bei ihm Schuhe zu bestellen. "Die würden Sie bald in der Hand tragen!" Er erzählt von seinen ersten Begegnungen mit Büchern in einem kleinstbürgerlichen Haushalt, der nur die Bibel und das Doktorbuch kannte. Er besorgte sich Karl May, Heinrich Heine (der verboten war), Eichendorff, Thomas Mann und Freud (auch nicht gerade erwünschte Autoren). Die Lektüre ist ja nicht unwichtig in der Biographie eines Intellektuellen. Und natürlich waren da erste unschuldige erotische Experimente. Hösle berichtet hier unbefangen und ehrlich. Es war eine sagenhafte Zeit, in der es noch Maikäfer gab, die man dem Lateinlehrer hinterrücks an den Kopf werfen konnte.

Wie schon Sebastian Haffners "Geschichte eines Deutschen" ist Hösles Autobiographie ein schönes Beispiel für erlebte Geschichte. Nur so kann Vergangenheit plausibel und sinnlich erfahrbar gemacht werden. Während der kleine Johannes mit der Tante Frida in den Füramooser Schlägen Tannenzapfen und Reisig für ein kärgliches Herdfeuer sammelt, schrillen am Volksempfänger die Sondermeldungen über das Stauffenberg-Attentat auf Hitler. Der Pfarrer, der dem Jungen nach der Kapitulation den ersten Lateinunterricht gibt, kommt soeben aus einem Lager namens Dachau. Die Entnazifizierung durch die Franzosen erscheint ihm als bornierte Kolonisation. Seinem Interesse für die französische Sprache tat dies keinen Abbruch.

Natürlich ist es auch der exemplarische Entwicklungsroman eines jungen Schwaben, der sich aus der Scheinsicherheit eines halbwegs funktionierenden Katholizismus befreit. "Vom Bittsteller wurde ich zum Fragesteller". Um ein Haar wäre Hösle nach dem Wunsch seiner Mutter Priester geworden, hätte ihn nicht eine Assistenz in dem französischen Kleinstädtchen Niort zur Welt bekehrt. Schopenhauer war es, der seinen naiven Kindheitsglauben zertrümmerte. Er wendet sich den Sprachen und der Philosophie zu, studiert in Tübingen, wo er der Aura von Walter Jens erliegt, der gegen Obskuratismus und Fanatismus zu Felde zieht. Seine Prüfung legt er bei Wilhelm Weischedel ab. Er ist heute nicht sehr stolz auf seine damalige Leistung.

Dieser zweite Band endet mit dem Aufbruch nach Arkadien, nach Italien. Hösle war zehn Jahre lang der Leiter des Goethe-Instituts in Mailand. Es war die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders, als alle Teutonen, befreit von der zwölf Jahre währenden Knute, gesegnet von einer explosionsartigen Prosperität, "ihr" Italien entdeckten. Aber nicht alle machten aus dieser Entdeckung soviel wie Hösle. Von ihm gibt es eine Geschichte der italienischen Literatur. Und er hat in Italien, so sieht er das heute, sein heiteres Lebensgefühl erworben.

Titelbild

Johannes Hösle: Und was wird jetzt? Geschichte einer Jugend.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3406487998

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