Es wird ihr Leben verändern!

Doris Dörries Roman "Das blaue Kleid"

Von Andrea DienerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Diener

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So ganz einfach ist es nicht mit Werken, die vor autobiografischem Hintergrund angesiedelt sind. Wie können tatsächlich empfundene Emotionen beurteilt werden? Was wissen wir schon, wie es ist, einen Partner zu verlieren? Gar nichts weiß ich, aber nach der Lektüre von "Das blaue Kleid" kann ich es mir zumindest vorstellen.

Doris Dörrie schreibt über den Verlust, über die Lücke, die ins Leben der Überlebenden gerissen wird und die sich erst langsam wieder schließt. Sie selbst kennt diese Erfahrung, gleichwohl ist das Buch keine Lebensbeichte geworden, denn Dörrie ist eine viel zu erfahrene Autorin, als dass sie sich allein auf die Tragkraft der Emotionalität verließe. Sie findet vielmehr zwei Parallelhandlungen, in denen der Grundgedanke des Verlusts in unterschiedlichen Facetten gespiegelt wird. Beide Handlungsstränge werden verknüpft durch das im Titel benannte blaue Kleid.

Da ist einmal die etwas verhuschte Babette, die am 23. März 2000 ein blaues Kleid kauft, das der Kollektion des Modeschöpfers Alfred Britsch entstammt. "Das Kleid wird ihr Leben verändern!" ruft Alfred aus, und er wird Recht behalten: In Babettes Leben verändert sich alles, als ihr Mann bei einem Unfall im Urlaub plötzlich ums Leben kommt.

Und auch in Florian Webers Leben verändert sich alles, als Alfred, sein langjähriger Lebensgefährte, an Krebs erkrankt und stirbt. Florian organisiert eine Gedächtnismodenschau für ihn und läutet dabei auch an Babettes Tür, um das blaue Kleid aus der Frühjahrskollektion auszuleihen.

Trotz der Gemeinsamkeit ihrer Trauer konkurrieren beide auch: Etwa darin, ob es schlimmer ist, einen Partner plötzlich zu verlieren oder durch einen allmählichen Prozess, durch Krankheit. Auch ihr Umgang mit dem Verlust ist unterschiedlich: Während Florian sich ganz auf den toten Alfred konzentriert, beginnt Babette eine Beziehung mit Thomas, den Potenzschwierigkeiten plagen, was Babette wiederum in Zweifel stürzt. Um den Stier bei den Hörnern zu packen, buchen Babette und Florian einen Flug nach Mexiko, wo am 2. November der Tag der Toten gefeiert wird. Durch den viel offensiveren Umgang mit dem Tod, der in Form von Zuckerschädeln präsent und essbar ist, nimmt das Nichtvorhandene, die Lücke, der Verlust plötzlich Gestalt an. Die Toten werden besucht, man picknickt mit ihnen am Grab, Kinder und Erwachsene verkleiden sich als Skelette und tanzen über den Friedhof - und Babette und Florian tanzen mit.

Um Bewältigungsprosa mit Happyend handelt es sich hier jedoch nicht. Das Ende bleibt offen, denn der Prozess ist ein langwieriger, der womöglich niemals ganz abgeschlossen sein wird. Auch Patentrezepte bietet Doris Dörrie nicht an, denn die Trauer ist individuell und bei jedem anders. Hier ist auch nichts aufgesetzt, nichts gewollt gefühlig, aber alles ehrlich und ungeschönt. Leicht, ohne ins Seichte abzugleiten, beschreibt Dörrie in unprätentiös schlichter Sprache komplexe Gefühlslagen mit ebensolcher Sicherheit, wie sie die großen Themen Liebe und Tod behandelt: klug, aber nicht dozierend und ohne jede Sentimentalität.

Titelbild

Doris Dörrie: Das blaue Kleid. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2002.
178 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3257063199

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch