Der literarische Körper

Die ausgedehnte Psyche in Jean-Luc Nancys "Corpus"

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon", hatte Sigmund Freud in einer posthum veröffentlichten Notiz vermerkt. Jene Notiz ist nicht bloß ein Hinweis darauf, dass Geist, Psyche, Seele und Bewusstsein eine räumlich-leibliche Seite haben und von körperlichen Bedürfnissen durchdrungen sind. So wäre sie nur ein weiteres Bonmot zu einem altbekannten Sachverhalt, der in dieser Form keinem nachidealistischen Philosophen mehr Schwierigkeiten bereiten dürfte. Selbstverständlich sind - wie spätestens seit der von Paul Ricœur so genannten "Hermeneutik des Verdachts" niemand mehr bestreiten kann - Geist, Psyche, Seele etc. nicht anders zu denken als von leiblichen Regungen und handfesten Interessen bestimmt. Nicht zuletzt die Freudsche Theorie hat zu einer solchen Deutung des Geistes ihren Teil beigetragen. Dass das "Ich" nicht "Herr im eigenen Hause" sei, dass es sich deswegen über seine Untermieter Rechenschaft ablegen möge - das ist längst zum philosophischen Gemeinplatz geworden. Freuds aphoristisches Statement geht jedoch nicht vollständig in der domestizierten Psychoanalyse auf. Psyche selbst sei ausgedehnt, heißt es, Seele sei selbst Leib, Körper und Geist. Das ist radikal, will erst einmal gedacht werden und fordert die volle Anstrengung des Begriffs heraus.

Mit Jean-Luc Nancy fühlt sich ein Denker zum radikalisierten Denken des Body-Mind-Problems herausgefordert, dessen philosophischer Rang außer Frage steht, der, neben seinem Ziehvater Jacques Derrida und seinem Widersacher Alain Badiou, heute der bedeutendste französische Philosoph überhaupt sein mag. Und er erkennt mit gewissem Recht in jenem Aphorismus das "faszinierendste und vielleicht (ohne übertreiben zu wollen) entscheidendste Wort Freuds".

Nancy denkt im Jargon der dekonstruktiven Literaturtheorie. Signifikationssysteme und symbolische Ordnungen sowie der performative Akt des Schreibens, in dem dieselben überschritten werden, das sind gängige Vokabeln und Denkfiguren, die in Nancys Diskurs zum Tragen kommen. Aber Text ist nicht gleich Text, und was ist, wenn nicht erst der manifeste Text, auf Papier gedruckt, sondern bereits der lebendige Leib eine textuelle Struktur aufweist? Immerhin ist er bezeichneter Körper, der in der sozialen Praxis unter eine Vielzahl deutender Systeme subsumiert wird, der in einem differenzierten Deutungshorizont auf vielfältigen sozialen Feldern steht. Er ist der politische Körper, der ökonomische Körper, der religiöse Körper und vieles mehr. Körper hat Bedeutung, weil er bezeichnet wird. Das steht außer Frage. Doch Körper im Sinne Nancys ist auch bezeichnender Körper. Er spricht. Und er spricht nicht nur durch das Sprechen, sondern gibt selbst Zeichen. Er ist ein Körper unausschöpflich vieler Gesten, die Bezug nehmen und antworten. Der Körper ist auf diese Weise nicht nur Text. Er ist auch das Schreiben. Er ist, in anderen Worten, zugleich Habitus (Bourdieu) und Performanz (Butler).

Der Begriff der Geste mag beides zusammenfassen. Und er erläutert den Freudschen Aphorismus in größtmöglicher Deutlichkeit. Denn durch was anderes als durch Gesten wäre uns Psyche präsent? Was anderes als ausgedehnt wäre Psyche in der Geste? Psyche ist also ausgedehnt. Wir beginnen zu verstehen: Denken ist für Nancy eine Körperhaltung, so wie der Körper als eine Geisteshaltung erscheint. Der Körper, so schreibt er, "ist die Archi-Tektonik des Sinns" (26). Er ist es, so wäre hinzuzufügen, als Geste. Vilèm Flusser, Gilles Deleuze und zuletzt Giorgio Agamben haben sich eindringlich dem Begriff der Geste gewidmet; Agamben, so könnte man sogar zuspitzen, hat seine ganze Philosophie um ihn herumgebaut. Jean-Luc Nancy schreibt den Körper als bezeichnet-bezeichnenden, ohne diesen semiotischen Sinn allerdings auf den Begriff der Geste zu bringen. Aber er schreibt um diesen Begriff herum und seine philosophischen Verwandtschaftsbeziehungen bleiben dabei deutlich erkennbar.

In Übersteigerung sprachlichen Sinns schreibt Nancy: "Körper haben weder im Diskurs noch in der Materie statt. Sie bewohnen weder ,den Geist', noch ,den Körper'." Sie seien eben die Grenze zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit und an den Körper heranzuschreiben, den Körper selbst zu schreiben, heißt, in alter Bataillescher Figur, an diese Grenze heranzuschreiben. Mit dieser Grenze aber eröffnet sich die Leerstelle der symbolischen Ordnung, die der Körper ist. Deshalb sagt Nancy, dass der Körper "eine Stätte gibt, sich zu ereignen". Denn selbstverständlich ist Nancy, als gründlicher Leser Martin Heideggers, ein Denker des Ereignisses. So wird ihm der Körper, der seine Zeichen unterläuft, zum Realen selbst. "Entschreiben" des Körpers nennt Nancy diesen Prozess, der nicht nur Sterben und Tod, sondern jedes wahrhafte Körper-Ereignis meint, in dem an dessen Sinn gerührt wird. Man mag sich dabei auch an Adornos Nashorn erinnert fühlen, das diesem als Beleg für ein begriffsloses Sein jenseits der Interdependenz der Zeichen diente und über das es in der "Ästhetischen Theorie" heißt: "So scheint ein Nashorn, das stumme Tier, zu sagen: ich bin ein Nashorn." Das ist ein einfacher Satz, an den jedoch schwer heranzudenken ist.

Immer geht es mit der Rede über den Körper, über, wenn man so will, den literarischen Körper auch um den Textkörper. Alles, was über materielle Strukturen (denn Zeichen haben materielle Träger) und die Archi-Tektonik des Sinns gesagt wird, ist zugleich auch als eine Texttheorie gemeint. Der poetologische oder ästhetische Gehalt der Schrift lässt sich in folgenden Thesen paraphrasieren: Dass die performative Gestalt des Denkens, anders gesagt: die Struktur seiner leiblichen Äußerung mit seinem Gehalt zusammengeht. Das ist eine starke und kraftvolle These. Zweitens aber gilt: Wenn Schreiben als ein Schreiben des Körpers gezeichnet wird, das ihn berührt, indem sie am Sinn rührt, dann ist Schreiben Ereignis. Das ist, angesichts der philosophischen Traditionen, die sich in Nancys Denken kreuzen, keine verblüffende These, aber sie vervollständigt das Bild.

Etwas dünn bleiben vor diesem Hintergrund die Andeutungen, wie die sozialen Einschreibungen in den Körper in ihrem politischen Gehalt zu verstehen seien. Bemerkungen dieser Art fehlen nicht, sie spielen auf Foucault und Agamben an; aber sie bleiben unklar. Die philosophische Geste Nancys bleibt insofern vom materialistischen Pathos einer "Kritik im Handgemenge" recht weit entfernt. Auf den Straßen immerhin würde man wohl von ihr erwarten, dass sie sich to the point und auf dem Boden bewegte. Nancys Stärken liegen anderswo: Sein Stil ist spielerisch und wortgewitzt, lebendig und originell. Manchmal allerdings ist Psyche dabei vielleicht ein bisschen zu ausgedehnt.

Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen: im Dunstkreis der jüngsten französischen Philosophie wird Denken derart lebendig, dass man sich auf neuere Veröffentlichungen nur freuen kann. Dass sich Nancy der Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist im Sinne einer Semiotik des Körpers stellt, kann ihm nicht hoch genug angerechnet werden. Jean-Luc Nancys "Corpus" enthebt die Physiognomik auf diese Weise ihrer reaktionären und grobschlächtigen Nebentöne, die sie im 18. und 19. Jahrhundert gehabt hat und öffnet ihr den Weg ins 21. Jahrhundert. Denn selbst die Zukunft virtuell ins Unermessliche verlängerter Zeichen wird leiblich bleiben.

Titelbild

Jean-Luc Nancy: Corpus.
Übersetzt aus dem Französischen von Nils Hodyas und Timo Obergöker.
Diaphanes Verlag, Berlin 2003.
136 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3935300123

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