Thomas Manns "Zauberberg" in der (Post-)Moderne

Christian Gloystein sucht in einem kühnen Spagat nach den wesentlichen Themen des Romans im Lichte des 11. September 2001

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den 'heiligen Terror', dessen grässliches Angesicht der westlichen Welt spätestens seit dem 11. September 2001 zugewandt ist, kannte, zumindest in der Theorie, schon Thomas Mann. Als eine Art Denkexperiment brachte er ihn in seinem 1924 erschienenen Roman "Der Zauberberg" unter, wo er vor allem von Leo Naphta verkörpert wird. Seit den Bürgerkriegserfahrungen des Autors in München im Frühjahr 1919 trägt Naphta jüdische, konservativ-revolutionäre Züge. Thomas Mann hat im Tagebuch vielsagend von der "sprengstoffhaften Mischung aus jüdischem Intellektual-Radikalismus und slawischer Christus-Schwärmerei" gesprochen. Naphta bejaht den Krieg als den großen Beweger, verteidigt die Inquisition und den Scheiterhaufen, das Heilige Offizium gegen Galilei, die eiserne Disziplin und die Lust des Gehorsams, den Terror gegen die Liberalität, den "christlichen Gottesstaat" gegen den Kapitalismus. Er bezeichnet die "Diktatur des Proletariats" als den "Sinn des Reiches". Ursprünglich modelliert nach dem Vorbild von Georg Lukács und dessen idealistisch-kommunistischer Weltanschauung, personifiziert und chiffriert die Figur des zum Jesuitentum übergetretenen Ostjuden Naphta in ihrer synkretistischen Ausrichtung den subversiv-kontradiktorischen Zeitgeist der Weimarer Republik. Verwurzelt in den religiösen Orthodoxien talmudisch-jesuitischer Provenienz, steigert Naphta seine Weltentwürfe zu einem chiliastischen Blendwerk, in dem mittelalterliche Gottesstaatsutopie, jesuitische Gegenreformation und kommunistische Gesellschaftsdoktrin schillernd ineinander übergehen. Sein heilsgeschichtlicher Zion gipfelt in der zelotischen Forderung nach der "Aufhebung der Gegensätze von Geist und Macht im Zeichen des Kreuzes". Naphtas mystisch-alchimistisch inspirierten und als regressiv-asiatisch identifizierten Weltvisionen setzt Lodovico Settembrini die progressiv-aufklärerischen Traditionen der westlichen Zivilisation entgegen, die sich im wissenschaftlichen Fortschritt und der gesellschaftlichen Emanzipation des Invividuums konkretisieren.

Diese kulturhistorische Dialektik der Widersprüche und ihrer ost-westlichen Gegensätze hat gegen Ende des 20. Jahrhunderts an Dynamik und Relevanz verloren und versprach sich im vielberufenen "Ende der Geschichte" zunehmend selbst aufzulösen. Angesichts der Ereignisse seit dem 11. September 2001 gewinnen die Antinomien der "Zauberberg"-Kontrahenten neuerliche Brisanz. Naphtas Abscheu vor den zeitgenössischen Demokratisierungs- und Liberalisierungstendenzen in Politik und Gesellschaft verdichten sich zum blindwütigen Hass auf das, was ihm schließlich zum Inbegriff allen Fortschritts wird, nämlich die freie, expansive Marktwirtschaft der westlichen Welt. So scheinen ihm "alle Greuel des modernen Händler- und Spekulantentums" verwirklicht in der "Satansherrschaft des Geldes, des Geschäfts". Naphtas reaktionär-revolutionäre Rabulistik und seine theokratischen Tiraden gegen die systematische Säkularisierung und materialistische Orientierung der westlichen Zivilisation begegnen heute - natürlich in abgewandelter Form - in der Dschihad-Chimäre von Amerika als "Großem Satan". Gegen Settembrinis Modell einer modernen Weltrepublik individueller Freiheiten und internationaler Menschenrechte setzt Naphta manichäisch die mittelalterliche Ordo-Pädagogik eines miles christianus, die ausgerichtet ist nach den Maximen von "absolutem Befehl", "eiserner Bindung", "Disziplin", "Opfer", "Verleugnung des Ich" und "Vergewaltigung der Persönlichkeit". Nicht Freiheit wolle die Jugend, "ihre tiefste Lust ist der Gehorsam". Naphtas Verschränkung von Frömmigkeit und Gewalt verabsolutiert sich schließlich zur "heiligen Grausamkeit". Dass diese auch heute noch gottesstaatsbildende Macht besitzt, zeigte sich im Terror der Taliban und ihres Schreckensregimes über Afghanistan. So offenbart sich Naphta, der princeps scholasticorum des "Zauberbergs", als exemplarische Fallstudie für die Psychogenese des "Heiligen Kriegers", seines Fundamentalismus und seiner absoluten Gewalt- und Herrschaftsphantasien sowohl über sich selbst als auch über die anderen. Sein Seelenunheil ist die mentale Matrix für die Kreuzzüge, Inquisitionen, Religionskriege und Pogrome des Abendlandes, über deren Ausmaß sich das islamische Morgenland Jahrhunderte lang nur wundern konnte.

Von der sich im "Zauberberg" abzeichnenden kriegerischen Auseinandersetzung, dem drohenden Untergang Europas und seiner dekadenten Kultur verspricht sich Naphta die göttliche Katharsis. Es ist die Vorstellung vom Krieg als Gladius Dei, als Schwert Gottes im Sinne des Dominikanerpredigers Savonarola, Naphtas fernen Geistesverwandten aus der florentinischen Renaissance. In Thomas Manns gleichnamiger Novelle hatte sein asketisch-verquälter Mönch dieses Racheschwert Gottes über das leuchtende München der Jahrhundertwende heraufbeschworen, und zwar zur himmlischen Bestrafung für die sinnenfrohe Verweltlichung seiner Kultur.

Seit 1921 beobachtete Thomas Mann den Missbrauch der bürgerlichen Kulturwerte durch eine konservative nationalistische Ideologie. Das zentrale Kapitel "Schnee", im Frühsommer 1923 geschrieben, entblößt die Wurzeln von Kultur, bringt noch einmal in Erinnerung, was Mann bereits in einem Brief vom 3. August 1915 an den österreichischen Philologen und Pazifisten Paul Amann hervorhob: "Ich hatte vor dem Kriege eine größere Erzählung begonnen [...], - eine Geschichte mit pädagogisch-politischen Grundabsichten, worin ein junger Mensch sich mit der verführerischsten Macht, dem Tode, auseinanderzusetzen hat und auf komisch-schauerliche Art durch die geistigen Gegensätze von Humanität und Romantik, Fortschritt und Reaktion, Gesundheit und Krankheit geführt wird, aber mehr orientierend und der Wissenschaft halber, als entscheidend. Der Geist des Ganzen ist humoristisch-nihilistisch, und eher schwankt die Tendenz nach der Seite der Sympathie mit dem Tode." Vier Jahre später, am 17. April 1919, findet sich in Manns Tagebüchern eine lebensfreundliche und zukunftsweisende Formel: "Unterdessen bedenke ich den Zbg, den wieder in Angriff zu nehmen jetzt wirklich erst der Zeitpunkt gekommen ist. Im Kriege war es zu früh, ich mußte aufhören. Der Krieg mußte erst als Anfang der Revolution deutlich werden, sein Ausgang nicht nur da sein, sondern auch als Schein-Ausgang erkannt sein [...]. Die Entlassung Hans Castorps in den Krieg [...] bedeutet seine Entlassung in den Beginn der Kämpfe um das Neue [...]." Das "Neue" ist nach Manns Vorstellungen eine umfassende Synthese der dichotomischen Strukturen; es bestehe in einer "neuen Konzeption des Menschen als einer Geist-Leiblichkeit", einer umfassenden Synthese von "Seele und Körper, Kirche und Staat, Tod und Leben", einer "Erneuerung des christlichen Gottesstaates ins Humanistische gewandt".

Christian Gloystein kommt in seiner Untersuchung zur Figurenkonstellation im "Zauberberg" zu einem damit korrespondierenden Ergebnis, wenn er bemerkt, dass sich die im Abschnitt "Schnee" geformte Vorstellung von Humanität nicht im Nichts auflöse, sondern in der Ausnahmestellung Hans Castorps zum Leben erweckt werde. Im "Zauberberg", so Gloystein, habe Thomas Mann mit Castorp einen Helden der Moderne geschaffen und sich von der im Brief an Amann anklingenden übermächtigen "Sympathie mit dem Tode" freigeschrieben. Getragen von dem Anliegen, eine Antwort auf die Frage nach dem "Stand und Staat des Menschen" zu finden, erlebe "der schlichte Hans Castorp dank der Krankheit, dank der Erfahrung des nunc stans, dank des ordnenden dualistischen Prinzips und dank der Erforschung der beiden Bewandtnisse mit dem Tode eine 'Steigerung', die in der Erkenntnis mündet, daß dem Tod um der Liebe und Güte willen nicht die Herrschaft über die Gedanken des Menschen eingeräumt werden soll", wobei allein der für alle Versuchungen offene Hans Castorp zu dieser Erkenntnis gelange, während alle anderen Figuren des Romans sich jedweden Erkenntnis steigernden Experimenten verschließen. Darüber hinaus leite Castorp aus dem Gebot des Gedankentraums eine Vorstellung von Humanität ab, die über das dualistische Prinzip erhaben sei und den Menschen als "Herrn der Gegensätze" definiere. Nach dem Gedankentraum distanziere sich Castorp von Handlungs- und Denkweisen, die seiner "neuen" Vorstellung von Humanität nicht entsprechen und hinter denen sich ein "absoluter Geist", Zeichen der Herrschaft des Todes über die Gedanken, verbirgt. Den "absoluten Geist" demaskiert er beispielsweise in der "gesellschaftlichen Haltung" seiner intellektuellen Mitstreiter Settembrini und Naphta. Der Schneetraum - als intellektuelle Summe aus den Gesprächen mit Settembrini und Naphta - entlarvt die Pädagogen als "Schwätzer"; ihre pädagogischen Programme, in den Augen Hans Castorps entwertet, gelten nicht mehr. Gleichwohl ist diese Synthese nicht frei von Ambivalenzen. Liest man den Gedankentraum genau, so zeigt sich deutlich, dass er emotional bejaht (Treue zum Tod), was er gedanklich verneint: "In der Mitte ist des Homo Dei Stand - inmitten zwischen Durchgängerei und Vernunft [...]. Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken! [...] Vernunft steht albern vor ihm da, denn sie ist nichts als Tugend, er aber Freiheit, Durchgängerei, Unform und Lust [...]. Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, daß Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren."

Zu Recht unterstreicht Gloystein in einem abschließenden Ausblick, dass die schwer fassliche Mehrdeutigkeit des "Zauberberg" Programm und Botschaft zugleich sei. Unter Rekurs auf die wegweisende Studie des englischen Soziologen Zygmunt Bauman, "Ambivalenz und Moderne" (1995), unterstreicht Gloystein die Bedeutung des Terminus 'Ambivalenz' im "Zauberberg", der zum einen als wesentliches Merkmal der im Roman geformten Vorstellung von Humanität fungiere und zum anderen als Widerpart zum Streben nach Ordnung ein Charakteristikum der Moderne darstelle. Die Essenz, "dem Tode keine Herrschaft einräumen über die Gedanken" lasse sich als "Entideologisierung" begreifen, die "Widerständigkeit" gegenüber absoluten Ansprüchen jeglicher Art zur Folge habe. Castorp nehme Ambivalenz bewusst wahr und beziehe sie in seine Denk- und Vorgehensweise mit ein. In seinem Verständnis von Menschlichkeit definiere sich der Mensch über die Akzeptanz von Gegensätzen und Mehrdeutigkeiten, umgekehrt werde im "Zauberberg" der Versuch, eine Entscheidung zwischen den Gegensätzen herbeizuführen und Mehrdeutigkeit auszuschalten, als "lebensfeindlich" dargestellt. Interessant ist Gloysteins Fazit, nach dem Castorps Umgang mit Ambivalenz einerseits modern sei, weil er sie in einer Ordnung integriere, andererseits aber auch postmodern, weil diese Ordnung nicht das Ziel habe, der Ambivalenz entgegenzuwirken. Den modernen Kampf gegen die Ambivalenz führt Castorp unter Anleitung von Settembrini und Naphta vor dem Abschnitt "Schnee", nach dem Gedankentraum jedoch weiß er um die Aussichtslosigkeit dieses Kampfes. Am Ende sind die "Sendboten geistiger Bezirke" nur noch "Sendboten" der Macht des Todes. Folgerichtig sterben sie oder verbleiben auf dem Zauberberg, während Hans Castorp die Tragweite seiner Experimente mit der Macht des Todes abschätzen und dem "neuen" Humanitätsverständnis zuwider laufenden Kräften entgegenwirken kann. Für Gloystein ist Thomas Mann "die Implementierung der Abkehr von einer gedankendominanten 'Sympathie mit dem Tode' nachvollziehbar gelungen. Um die Gesinnungsänderung nachzuvollziehen, ist der Rezipient allerdings aufgefordert, den Verlauf der 'Steigerung' Hans Castorps zu verfolgen. Mit dieser Wirkungsintention verbunden ist die Hoffnung Thomas Manns, daß der Rezipient schließlich selbst den Weg Hans Castorps über den Tod zum Leben einschlagen möge."

Quomodo? Der gegen Ende seiner Untersuchung getroffenen Feststellung, Thomas Manns Werk sei in Bewegung und werde es auch bleiben, begegnet Christian Gloystein schließlich noch durch einen interessanten Diskurswechsel: von der eben vorgestellten wissenschaftlichen Untersuchung zu der im Anschluss daran angefertigten und bereits ein Jahr später publizierten Romanskizze "Castorps Erbe", in der er die Ergebnisse seiner Dissertation fortschreibt und die Grundpositionen des "Zauberberg" in die Gegenwart transponiert. Das Buch dreht sich im Wesentlichen um die Grundthemen des Mannschen Romans im Lichte der Terroranschläge in den USA. "Castorps Erbe" ist unterteilt in sieben Kapitel und einen vierseitigen Vorsatz, in dem Gloystein die Verbindungen seiner Romanskizze sowohl zum "Zauberberg" als auch zu - möglicherweise - dem einschneidenden Datum der Postmoderne, dem 11. September 2001, zu verdeutlichen bestrebt ist: "Die Geschichte Hans Castorps endet [...] mit einer Szene im Ersten Weltkrieg, mit einem für die Menschheit einschneidenden Ereignis also, dem eine besondere Rolle zukommt: der letzte Satz des Romans bringt die Hoffnung zum Ausdruck, dass aus dem Weltfest des Todes Liebe resultieren möge. [...] Der mühsam erarbeitete, mit einem Fragezeichen versehene letzte Satz des Zauberbergs ist lesbar als Hoffnung auf eine Welt, die grundsätzlich offen ist. Eine Hoffnung, die im vergangenen Jahrhundert Gestalt angenommen hat, in entscheidenden Fällen aber maßlos enttäuscht, ja auf grausamste Weise missachtet worden ist. Nun steht sie grundsätzlich in Frage: der Terror hat das Fundament der Offenheit erschüttert: der Tod, wenn wir ihn einmal nicht nur als physiologisches Ende, sondern übertragen als Offenheit beschneidende Fixierung betrachten - beherrscht den Gedanken der Menschen, zu vieler Menschen." Was sich hier noch als philosophischer Anschluss an die wissenschaftliche Arbeit lesen und verstehen lässt, nimmt im nächsten Moment eine überraschende Wende, wenn Gloystein den "mittelmäßige[n] Hans Castorp" nicht nur den Krieg überleben und heiraten, sondern auch Kinder in die Welt setzen lässt. In den Fokus der Betrachtung gerät der letzte noch lebende Castorp, der Homöopath Dr. Marten Castorp, dessen hier erzählte Geschichte zwar nicht sieben Jahre, aber immerhin noch sieben Monate umfasst. Die verwandtschaftlichen Bande von Hans und Marten Castorp sind mehr inhaltlicher Natur, hinter der die thematischen Konnexe deutlich zurückstehen. Der Plot ist schnell erzählt: Der Homöopath Marten Castorp verliebt sich in seine Patientin, die studierte Germanistin und nunmehrige Werbekauffrau Katarina Lehte. Nicht nur deren Nachname (tauscht man jedenfalls die mittleren Konsonanten) spricht vom Vergessen, sondern auch die schon im Vorsatz deutlich gewordenen Bemühungen, die Geschichte Hans Castorps nicht dem Vergessen anheim fallen zu lassen; etwa wenn der Erzähler gedankenschwer ausführt: "Aber sie [die Geschichte Hans Castorps; A. S.] neigt sich, droht in Vergessenheit zu geraten, - ach nein, vergessen ist nicht gut gewählt, denn Castorps Erkenntnisse kann man nicht vergessen - also besser: seine Geschichte droht, verdrängt zu werden." Umso besser trifft es sich daher, dass die Protagonistin - der Symbolik ihres Nachnamens zum Trotz - bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit mechanisch nach "einer beige gebundenen Ausgabe des Zauberbergs" greift und sich intensiv in die Lektüre des Textes vertieft. Katarina Lehte steht, nachdem sich in wenigen Behandlungsgesprächen, einigen gedankenreichen Ausflügen und schließlich einem viel versprechenden Kurzurlaub auf Hiddensee die Liebe beider entwickelt hat, am Beginn eines mehrmonatigen Praktikums bei der Agentur Mdesign in New York. Als Castorp schließlich bereit ist, seine hermetische Welt zu verlassen und Katarina nachzureisen, ist diese unter den Opfern der Terroranschläge auf die Twin Towers, und der Enkel Hans Castorps sieht sich in die Wirren - nein, nicht des Ersten Weltkriegs, sondern des internationalen Terrorismus versetzt.

So ist der Leser im abschließenden Kapitel mit dem Homöopathen zusammen im verwüsteten Manhattan unterwegs und darf noch einmal der "Zauberberg"-Essenz aus dem 'alten Europa' lauschen: "'Mit Gut und Böse kommen wir nicht weiter', schließt Marten Castorp mit erhobenem Zeigefinger vor einem Schaufenster stehend und seine Silhouette betrachtend, 'der Mensch steht über den Gegensätzen. Sie sind widersprüchlich, der eine wie der andere, wir Menschen sind widersprüchlich, das ist ein Zug, der uns Menschen eigen ist, der uns ausmacht. Das muss man hinnehmen - und man muss es nutzen!'" Castorp läuft erzählend durch "leere, eingestaubte Straßen" und bedient sich in seinen Selbstgesprächen "der Erkenntnisse seines Vorfahren" und wendet sie "auf die grausigen Geschehnisse des Tages" an: "Marten Castorp allerdings empfindet eine weitgehende Berechtigung, dies zu tun, weil es sich nach seinem Ermessen um Gedanken handelt, die allgemein-menschliche Gültigkeit haben." Zugleich bietet er eine passende Erklärung für die conditio humana fanatischer Terroristen, die "jeglichen Sinn für die Vervielfältigung des Daseins [verlieren], Wahrnehmung und Bewusstsein verengen sich. Sie betrügen sich, sich und andere um ihr Leben. Wenn sie in das Flugzeug steigen, verschmelzen Geist und Körper, ausgerichtet auf das eine Ziel. Es ist fatal, der Mensch ist nicht mehr Mensch, steht unter Zwang, ist nur noch ausführendes Organ, ein Werkzeug." Im erzählerischen Brennglas dieses abschließenden Kapitels, im Angesicht der dramatischen Folgen von dogmatischem Denken, fundamentalistischer Ausrichtung der Welt und terroristischem Anschlag auf die Freiheit der Menschen, lotet Gloystein die Tragfähigkeit offener Weltbilder und toleranter Lebensformen aus. Mit einigem Pathos kriecht der Erzähler zum Ende der Romanskizze nach einmal in die Gedanken Marten Castorps: "Er hat eine Hoffnung, die Hoffnung, dass aus diesem Fest des Todes, aus der schlimmen Feuersbrunst, die rings alles verwüstet hat und so vielen Menschen das Leben geraubt hat, endlich Liebe steigen wird." Der zweifelsohne kühne Spagat Christian Gloysteins zwischen akademischem und literarischem Diskurs dürfte - um im Bild zu bleiben - zu einer schmerzhaften Zerrung geführt haben. Bietet die wissenschaftliche Untersuchung über die Ausnahmestellung Hans Castorps im "Zauberberg" einige recht interessante Neuansätze in der Deutung der Figurenkonstellation, so wirkt die nachgeschobene Romanskizze doch über weite Strecken - trotz mancher aparter Sequenzen - eher uninspiriert und im Stile einer lectio ex cathedra. Gleichwohl: Der Versuch, die Erkenntnisse des Gedankentraums aus Thomas Manns Roman in den Kontext des 11. September 2001 zu stellen, entbehrt nicht eines gewissen Reizes. Möglicherweise wäre der umgekehrte Weg Erfolg versprechender gewesen, den "Zauberberg" nach den Präfigurationen des internationalen Terrorismus abzusuchen.

Titelbild

Christian Gloystein: "Mit mir aber ist es was anderes." Die Ausnahmestellung Hans Castorps in Thomas Manns Roman "Der Zauberberg".
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2001.
199 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3826019628

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Christian Gloystein: Castorps Erbe. Der Homöopath. Romanskizze.
Axel Dielmann Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
156 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3933974291

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