Wie für Tränen gemachte Stille

Der neue Rothmann führt viele kleine Alltagsdramen auf vielen kleinen Alltagsbühnen auf

Von Christina LangnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Langner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Simon DeLoo ist der Held in Ralf Rothmanns neuestem Roman "Hitze". Das muss hier so deutlich gesagt werden, denn offensichtlich ist seine Rolle zunächst durchaus nicht. Sogar wenn klar geworden ist, dass es sich um ihn dreht: Scheinwerferlicht bestrahlt ihn kaum. Auf den vielen Bühnen, die ihn Rothmann hier betreten lässt, steht er stets im Abseits. Im Dunkeln, kaum wahrnehmbar, ja beinahe sprachlos nimmt er den Platz am Rande ein. Der lesende Zuschauer muss sich den Hals verrenken, will er ihn erkennen. Und selbst dann wird sein Blick immer wieder abgelenkt, hin auf andere Bühnen mit anderen Akteuren.

Gleichwohl würde der Roman ohne DeLoo nicht funktionieren. Als Kameramann würde er wesentlich mehr verdienen, doch strebt er, aus sich erst im Laufe des Romans erschließenden Gründen nach keinem Ziel mehr im Leben und beliefert lieber hungrige Berliner zur Mittagszeit mit abgepackter Großstadtküchenkost. Es ist als würde Rothmanns Schattenheld dabei eine Tour durch die Theater von Berlin machen, um kurz eine Szene, vielleicht auch mal einen ganzen Akt zu sehen und sich alsdann zum nächsten Drama aufzumachen. Während der Kunde sein Essen bekommt, öffnet sich der Vorhang zu dessen vergangenem Leben und für den zuschauenden Leser tut sich auf, warum dieser Mensch gerade so geworden ist, wie er ihm jetzt begegnet.

Rothmann weiß vor allem, was es zu erzählen gilt. Er eröffnet dem Leser einen Blick auf soziale Existenzen und Milieus mit hohem Wiedererkennungswert. DeLoos Welt, das ist vor allem seine Aufmerksamkeit für die vielen kleinen Dramen, die sich um ihn herum auf den verschiedensten Bühnen abspielen. Unterschiedlichste Menschen, die alle nur eines verbindet - das gleiche Essen zum Mittag -, vermag DeLoo lediglich durch seine Anwesenheit zu bezaubern. Er hinterlässt Menschen "aufs schönste verwundert", er schenkt ihnen den Blick, den sie mögen.

Eine christliche Weltsicht wird mit jedem neuen Werk Rothmanns immer dringlicher als sein Thema spürbar. In der deutschen Gegenwartsliteratur stellt er auch mit seiner Tendenz zur Mythologisierung eine Ausnahmeerscheinung dar. Es ist durchaus ein heikles - und so viel sei verraten: ein überaus gelungenes - Unterfangen, dem Leser in DeLoo einen neuzeitlichen Heiligen vorzuführen, der es vermag, die Seelen der Menschen ganz ohne Wunder gesunden zu lassen. DeLoo ist nach "Milch und Kohle" ein weiterer Rothmann-Protagonist, der Simon heißt - so wie der Apostel Petrus vor seiner Berufung.

Details alltäglicher Lebensaugenblicke von unauffälligen Menschen werden minutiös und dennoch wie nebenbei und vorsätzlich löcherig erzählt. Allein die Schilderungen von Gestik und Mimik lassen das Innere von den zumeist im Leben zu kurz gekommenen und von der Arbeit zerstörten Charaktere aufscheinen. Der Leser spürt zarte Annäherung: Banale Situationen, nichts Aufregendes spielt sich vor ihm ab, und dennoch oder gerade deswegen verfolgt er diese Leben voller Anspannung, erfühlt Glück und Leid. Das ist kein Mitlesen mehr, das ist Miterleben. Die Buchstaben auf der Seite werden durchbrochen, verschwimmen, lösen sich auf und wandeln sich in bewegte Bilder. Alles nur für Momente, um wenige Augenblicke später den Theatersaal zu verlassen, hin zur nächsten Aufführung.

Rothmanns lakonischer Erzählstil passt zu DeLoo. Beide, der Autor wie sein Held, reden nicht viel, nur das Nötigste. Und wenn sie reden, dann sicherlich nicht das Entscheidende. Das bleibt ungesagt und steht doch - wenn auch unsichtbar, so doch nicht unfühlbar - zwischen den Zeilen.

Der Held wandelt durch das Buch, berührt dabei kaum einmal die Seiten und hinterlässt dennoch seine Spuren. Gerade durch das "Nichterzählte" wird er einem vertraut. Er hinterlässt sich und sein Inneres nicht in Form von Buchstaben auf dem Papier. Dass, was wir erfahren, sind zarte Schatten zwischen den Worten, zarte Schatten von wundersam großer Aussagekraft. Rothmann erweist sich als großer Künstler beim Erzeugen von Stimmungen, die sich nicht in Worten ausdrücken lassen und daher ungesagt und "nur" fühlbar wahrzunehmen sind: "Wie für Tränen gemachte Stille."

So dauert es zwar gute neunzig Seiten, bis DeLoo das erste Mal vom Tode seiner Geliebten spricht, der ihn aus allen Zusammenhängen gerissen hat, dennoch scheint es nichts Neues zu sein für den Leser. Die scheinbare Gleichgültigkeit DeLoos gegenüber dem Leben ist als seelentiefste Traurigkeit längst nachgefühlt.

In der polnischen Stadtstreicherin Lucilla glaubt er seine Geliebte wiederzufinden. Sie lässt es nicht zu. In einem der gelungensten und gleichsam erotischsten Kapitel findet er Lucilla, durch sie sich selbst und so Zufriedenheit. Dieser Abschnitt des Großstadtromans spielt bezeichnender Weise in einem polnischen Kaff. In "Das Ganze Leben" vollziehen sich die wundersamsten Momente, alles erscheint wie im Traum und ist doch näher an der Wirklichkeit als alles zuvor Geschehene. Natur, Stille, Reinheit, Nacktheit - der bald ekstatische Sex zwischen DeLoo und Lucilla bricht alles auf, ermöglicht zumindest eine Ahnung von Freiheit.

Rothmanns Ausdrucksformen der sexuellen Erregung beschränken sich nicht auf einen Gedankenstrich. Im Gegenteil: Die Schilderungen sind derartig offen-detailliert und realistisch nachgezeichnet, dass sie sich ansteckend - zwischen Faszination und peinlicher Berührtheit - auf den Leser entfalten.

Die Geschichte von Simon DeLoo braucht lange, bis sie als die seine erkannt wird, und sie endet, als wäre sie nie die seine gewesen. Aus dem Dunkel ist der Schattenheld kurz ins Licht getreten, um am Ende des Romans wieder ins Dunkel abzutauchen.

Titelbild

Ralf Rothmann: Hitze. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
290 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518413961

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