Intellektuelle und Antiintellektuelle

Pierre Bourdieu und sein soziologischer Selbstversuch

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt viele Intellektuelle, die die Welt in
Frage stellen, es gibt wenige, die die
intellektuelle Welt in Frage stellen.
Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch

I. Das intellektuelle Feld

Während französische Tageszeitungen wie "Le Monde" dem Tod Pierre Bourdieus am 23.1.2002 die Headline auf der Titelseite widmeten, berichteten deutsche Blätter über dieses Ereignis bestenfalls mit einer Kurznotiz. Verspätet veröffentlichte man schließlich, irritiert über das enorme Echo und die multimedialen Würdigungen jenseits des Rheins, in deutschen Tages- und Wochenblättern ein paar halbherzige, wenig kompetente Nekrologe, die peinlich offenbarten, daß Hauptwerke dieses Intellektuellen per excellence und Klassikers der Soziologie wie "Les règles de l'art" ("Die Regeln der Kunst") nie grundlegend in Deutschland diskutiert wurden. Die Gründe für dieses Desinteresse, das auch Züge simpler Ignoranz aufwies, waren vor allem in dem Bemühen zu suchen, die Mängel älterer sozialhistorischer Konzepte mittels systemtheoretischer Anleihen zu überwinden. Die einseitige, mitunter gläubige Festlegung auf die Konzepte Niklas Luhmanns und kaum nachvollziehbare Fehlurteile in Lexikonartikeln und Zeitungskritiken von Dieter Pfau, Clemens Pornschlegel, Karlheinz Stierle und anderen haben dazu beigetragen, Bourdieu ungeachtet aller Initiativen des Romanisten Joseph Jurt längere Zeit aus der deutschen literaturwissenschaftlichen Diskussion zu verbannen. Die Phalanx genereller Ablehnung vermochten zunächst auch das positive Votum Georg Jägers und die wegweisenden Beiträge von Jurt und Markus Schwingel im "Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur" (IASL) nicht aufzubrechen. Erst in letzter Zeit versuchen jüngere Kollegen wie Markus Joch oder Norbert Christian Wolf verstärkt, die kultursoziologischen Prämissen Bourdieus in das Zentrum der literaturwissenschaftlichen Debatte zu rücken.

II. Distanz gegenüber dem großen Spiel

Soziologisch gesehen charakterisiert der Terminus Intellektueller eine status- und berufsunabhängige Rolle, die mit einer höheren Bestimmung, mit einer Mission in Verbindung gebracht wird. Die Konkretisierung des Begriffs ist an Leitvorstellungen gekoppelt, die im selbstreferentiellen Diskurs um die weltanschauliche Benennungsmacht zu bestimmenden Werten und Normen erhoben werden: "Jeder Versuch, Intellektuelle zu definieren", so Zygmunt Baumann, "ist ein Versuch der Selbstdefinition; jeder Versuch, den Status eines Intellektuellen zu gewähren oder zu verweigern, ist ein Versuch der Selbstentwerfung. Definieren und über Definitionen zu streiten sind das Kernstück der Produktion und Reproduktion des intellektuellen Ich". Die Anerkennung und Konsekration des Intellektuellen bemisst sich, wie Bourdieu in seinem Essay "Das intellektuelle Feld" betont, "weder am kommerziellen Erfolg - sie ist eher deren Gegenteil - noch an der bloßen sozialen Anerkennung - Wahl in Akademien, Empfang von Preisen usw. -, noch an der schlichten Bekanntheit, die ja durchaus ins Negative schlagen kann." Der Intellektuelle versucht, so Bourdieu weiter, die dominierenden "Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien" einer Weltsicht zu problematisieren, also "die Konstruktionsprinzipien von sozialer Welt, die Definition dessen, was wesentlich und was unwesentlich ist, was würdig ist, repräsentiert, dargestellt zu werden, und was nicht."

Da sie die "Idee der Universalität" für sich reklamieren, werden Intellektuelle, so Jean-François Lyotard, als "Geister" begriffen, "die vom Standpunkt des Menschen, der Menschheit, der Nation, des Volks, des Proletariats, der Kreatur oder einer ähnlichen Entität aus denken und handeln. Sie identifizieren sich mit einem Subjekt, das einen universellen Wert verkörpert; sie beschreiben und analysieren von dieser Position aus eine Situation [...] und folgern, was getan werden muß, damit dieses Subjekt sich verwirkliche oder wenigstens seine Verwirklichung voranschreite." Diese problematische Diskrepanz zwischen universellem Anspruch und selbstreflexiver Standortbestimmung eines intellektuellen Ich läßt sich anhand der zwischen Oktober 2000 und September 2001 auf Drängen von Freunden und Kollegen zu Papier gebrachten, "Ein soziologischer Selbstversuch" ("Esquisse pour une auto-analyse") betitelten "Anti-Autobiographie" von Bourdieu exemplifizieren. Auch wenn die insgesamt 127, von Stephan Egger übersetzten und Franz Schultheis kommentierten Seiten bisweilen einem Erinnerungsbuch ähneln, unterscheidet sich der Text vom klassischen Typus einer Autobiographie im Gattungsverständnis Philippe Lejeunes. Programmatisch erklärt Bourdieu zu Beginn: "Ich beabsichtige hier nicht, einer Schriftgattung zu huldigen, von der ich oft genug gesagt habe, wie gefällig und trügerisch sie ist: die Autobiographie. Statt dessen möchte ich lediglich versuchen, Elemente einer soziologischen Selbstbeschreibung zu liefern, und ich verhehle dabei nicht meine Sorge, die weit über die üblichen Befürchtungen hinausgeht, schlicht mißverstanden zu werden."

Das Problem, als berichtendes Ich soziologischer Selbstbeschreibung zugleich Subjekt und Objekt der Beobachtung und Analyse zu sein, warf ebenso wie der erklärte Anspruch des Sozialwissenschaftlers Bourdieu, nicht nur Rechenschaft abzulegen, sondern auch "alle Merkmale zu berücksichtigen, die aus Sicht des Soziologen erheblich" sind, Fragen auf, die für den Leser von großem Interesse sind: die Mystifizierung von intellektueller Introspektion und das Problem einer Stilisierung der eigenen Existenz, das tatsächliche Verhältnis von Fiktion und subjektiver Authentizität, Selbstreflexion und Selbsttäuschung sowie die vom Autor ostentativ intendierte Abgrenzung zu vergleichbaren Textzeugnissen (Memoiren, Autobiographie u. a.). Bourdieus Selbstbeschreibung ist tatsächlich keine Autobiographie eines Gelehrten der "allseits anerkannten Bildungsaristokratie" Frankreichs, sondern eine Laufbahnbeschreibung, die sich ganz bewußt der "mondänen und akademischen Form" widersetzt und die universitären Gepflogenheiten drastisch als Varianten "eines halbmafiosen, abgekarteten Spiels" attackiert. Schon während seines Studiums steht Bourdieu dem "allgegenwärtigen" und glanzvollen "Bild des totalen Intellektuellen" skeptisch gegenüber und fühlt sich zu den "Randgestalten" der philosophischen Lehre hingezogen: nicht Jean-Paul Sartre, sondern Gaston Bachelard, Georges Canguilhem, Alexandre Koyré, Jules Vuillemin und Eric Weil stehen im Zentrum seines Interesses.

Obwohl sich Bourdieu "in permanenter Dissidenz" zu den akademischen Traditionen Frankreichs sieht, nimmt er 1960 eine Assistentenstelle bei Raymond Aron an und versucht, ähnlich wie Aaron Cicourel, "eine Art materialistische Theorie der Erkenntnis zu begründen". Prägend für ihn wird vor allem Canguilhem, der ihm "eine weniger weltfremde Möglichkeit" eröffnet, für sich "das Leben eines Intellektuellen" als Existenzform anzustreben. Ungeachtet seiner radikalen Kritik an der Konsekration des Intellektuellen sieht Bourdieu gerade in dieser Rolle die eigene Berufung. Für ihn bleibt der "Mythos des Intellektuellen und seiner universellen Mission doch eine der Listen der historischen Vernunft, die gerade die Intellektuellen mit dem besten Gespür für die Gewinne der Universalität dazu bringt, im Namen von Antrieben, die wenig Universelles an sich haben, zum Fortschritt des Universellen beizutragen." Die "starrsinnige Haltung gegenüber allen Einordnungsversuchen und Anpassungszwängen" hält er freilich für eine leicht durchschaubare, ja fast modische intellektuelle Habitusform und versucht demonstrativ, eine klassische Außenseiterposition zu beziehen, "etwa ganz offen weberianisch oder durkheimianisch, wenn es zwingend schien, sich als Marxist zu bestimmen." Sein Credo bleibt durch eine doppelte Abgrenzung definiert: "Distanz gegenüber dem großen Spiel der französischen Intellektuellen, die sich an jeder aufsehenerregenden Petition, jeder schicken Demonstration beteiligen, ohne das Vorwort für einen Kunstkatalog zu vergessen, aber auch gegenüber dem großen Spiel der professoralen Machtausübung [...] bei den Spieleinsätzen der Herrschaft über die universitäre Reproduktion."

III. Zum Text und zur Edition des Buches

Bourdieus autobiographische Skizze "Ein soziologischer Selbstversuch" ist eigentlich kein eigenständiges Werk, sondern als Abschluß seiner letzten Vorlesungsreihe zum Thema "La science de la science" am Collège de France konzipiert. Anläßlich der Verleihung der Huxley-Medal stellte er in London am 6. 12. 2000 eine erste Problemskizze zum Thema vor. In seiner letzten Vorlesung am Collège de France präsentierte er schließlich eine erweiterte Fassung, die am 30. 3. 2001 ausführlich in "Le Monde" besprochen wurde. Wenig später entschloß sich Bourdieu, die deutsche Version aus kritischer Distanz zum "ethnocentrisme franco-français" und unter Berufung auf die transnationalen Traditionen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung vor der französischen Buchausgabe zu publizieren. Der vorliegende Text ist demnach die Erstausgabe. Die Entstehungsgeschichte des Buches erhellt, dass Bourdieus Versuch einer Autobiographie weniger als intellektuelles Vermächtnis, sondern tatsächlich als selbstreflexives Schlusswort seiner Vorlesungsreihe anzusehen ist. Viele Fragen, nicht zuletzt auch die Problematik des intellektuellen Feldes, sind deshalb ungeachtet des auffallend apodiktischen Tons nicht im akademischen Sinne en détail beantwortet. Die Thesen sollen zu Diskussionen anregen und sowohl den intellektuellen Kosmos wie die soziale und politische Welt in Frage stellen. "Ein soziologischer Selbstversuch" ist als autobiographisch inspirierte, wissenschaftskritische, aber keineswegs widerspruchsfreie Skizze im Rahmen einer materialistischen Theorie der Erkenntnis und Selbsterkenntnis zu sehen. Es handelt sich keineswegs, wie der Nouvel Observateur glauben machen wollte, um das intellektuelle Testament des großen Soziologen und Europäers Bourdieu.

Titelbild

Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch.
Übersetzt aus dem Französischen von Stephan Egger.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
151 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3518123114

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