Das Antlitz als Testfeld

Christa Blümliners und Karl Siereks Prolegomena zu einer Kulturgeschichte der Gesichtsdarstellung

Von Andreas BaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Baumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Großaufnahme: Ein Hammer landet im Gesicht eines Straßenkämpfers. So beginnt Samuel Fullers Film "Street of No Return". Die Straße ist gewiss ein kritischer Durchgangsort für die Bilder. Vollends wurde sie dazu durch den Film, nach allem, was dieser der Zerstreuung der städtischen Massen schuldet. Kaum weniger ist das Gesicht ein solcher Ort. Jean Epstein hat im Hinblick auf das filmisch bewegte Bild des Gesichts von "Photogénie" gesprochen. Er meinte damit, grob gesagt, die Kraft, mit der die Dinge durch ihre filmische Bewegtheit und Vergrößerung Fragen stellen an die moralische Oberfläche der Welt. Die Photogénie des Gesichts ähnelt in manchem der Physiognomie. Auch sie geht vom menschlichen Gesicht aus, gestattet aber ebenso bildhafte Lesarten der Welt überhaupt. Nun steht jedoch am Horizont des modernen Gesichtsbildes dessen Zerschlagung. Welche Konsequenzen kann und soll der Film, können und sollen die untrennbar mit dem Film verknüpften anderen modernen Künste aus jener Erschütterung ziehen? Diese Fragestellung verbindet die Aufsätze des von den beiden Filmtheoretikern Christa Blümlinger und Karl Sierek herausgegebenen Sammelbands "Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes". Kann man in ihm aber mit Recht den "Entwurf einer Kulturgeschichte der Gesichtsdarstellung" erwarten, als den die Herausgeber ihr Sammelwerk im Vorwort ankündigen?

Bestimmt eignet sich die Idee der Photogénie dazu, den Blick des Films auf sich selbst in seiner Schärfe zu regulieren. Das zeigt Christa Blümlinger in ihrer Untersuchung. An zwei Filmbeispielen würdigt sie die Leistung sogenannter "Archivkunstfilme": filmischer Analysen anderer, vorgegebener Filme. Indem er die Photogénie der verfertigten Bilder in Gang setze, veranlasse der Archivkunstfilm die untersuchten Filme dazu, ihre ideologische Bestimmung selbst auszusprechen. Tom Gunning rekapituliert in einem informierten Beitrag die Karriere, die die Physiognomie in der psychologischen Klinik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gemacht hat. Duchenne, Charcot u. a. setzten photographische Einzel- und Serienbilder der verzerrten Gesichter von Kranken in der psychiatrischen Lehre und Diagnostik ein. Wenig später amüsiert man sich im Jahrmarktskino bei der Vorführung Fratzen schneidender Schauspielergesichter. Dass sich beide Praktiken trotz des Vorwurfs fehlender Seriosität gegenseitig inspirieren konnten, um zur Etablierung der Filmkunst beizutragen, wertet Gunning als Symptom für die Krise der Repräsentation. Hier kämen ein erstes Mal ästhetische Normen zur Geltung, welche sich in "Kontrast zu den traditionellen Rezeptionsmodi von Kontemplation und Versenkung" befänden. Im Mittelpunkt steht das Spektakel des Gesichtsbilds in Frank Kesslers Aufsatz "Das Attraktions-Gesicht". Er lässt den Aufstieg der Großaufnahme des Gesichts im Film mit der Irritation herkömmlicher Erzählweisen beginnen, die das affektive Gesichtsbild in den Handlungsfilmen der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts bewirkt hatte. Ausgehend von der Ethik des Antlitzes bei Emmanuel Levinas versucht Karl Sierek, den affektiven Wert des Gesichtsbilds - gegen dessen propagandistische Indienstnahme in gewissen offiziellen Filmen des Ersten Weltkriegs - weiter zu differenzieren. Was bei der hier stattfindenden Funktionalisierung des Attraktionsgesichts verloren gehe, sei die Intersubjektivität des Antlitzes. Sie in den filmischen Blick zu rücken, hält er für die Aufgabe einer theoretisch noch übersehenen Bildform: der Ausstellung des Antlitzes in seiner Fremdheit.

Frei von kommunikationstheoretischer Befangenheit beschreibt Hanns Zischler die Bindung filmischer Zeit in seinem kurzen Essay als Akt der Enteignung. Der Körper verliere, von der Filmaufnahme erfasst, buchstäblich das Gesicht. Das Filmbild des Gesichts werde zu einer "Zeitschleuse" (Zischler), die Räumliches in genuin Zeitliches verwandle. Diese konzentrierte Beobachtung der apparativen Vereinnahmung des Gesichts will es bei dem bloßen Hinweis auf die öffentlichen Auswirkungen belassen. Giorgio Agamben hingegen bestimmt den Kampf um die Aneignung des Gesichts anthropologisch als Bewegungsform der Geschichte. Zwar bereichert sein Essay "Das Antlitz" die Problematik des vorliegenden Bandes wegen des Versuchs einer Deduktion des Politischen aus der Medialität des Gesichts, staatlicher Macht aus der Kontrolle des Spektakels. In seiner aphoristischen Abstraktheit ist dieser überlegte Text aber fast zu eingängig, als dass er nicht noch im Zusammenhang der politischen Theorie Agambens, dem er entstammt, geprüft werden sollte. Ähnliches gälte für den Artikel Serge Daneys, würden aus der in ihm mitgeteilten Beobachtung ähnlich weitreichende politische und theoretische Schlüsse gezogen. An den Fernsehbildern gefangengenommener US-Soldaten im Golfkrieg von 1991 verdeutlicht Daney seine andernorts ausgearbeitete Unterscheidung zwischen dem Bild und dem Visuellen. Die Bilder der Gefangenengesichter stünden in ihrer Unwillkürlichkeit im Gegensatz zur Visualität des Krieges, die vielmehr von der organisierten Selbstdarstellung der Kombattanten und ihrer Sicht der Dinge abhängig sei. Aneignung des Körpers, Aneignung seiner medialen Form: Daneys politische Beurteilung der Ereignisse geht hier los.

Was bei Daney fast als Anwendungsfall erscheint, die Differenz zwischen Gestaltung und Ereignis des Gesichts, wird in Gertrud Kochs fundierter Studie zum Ausgangspunkt für eine "anthropomorphe Ästhetik" der Moderne. Die ästhetische Befähigung des Gesichts zur Leinwand für Ausdrucksereignisse lasse sich sozialpsychologisch auf eine Entwicklung zurückführen, die bereits Georg Simmel vermerkt habe. Die urbane Öffentlichkeit nämlich entziehe der Kommunikation der Städtebewohner die sprachliche Substanz. Sie seien zunehmend dazu gezwungen, sich in der Begegnung anonymer Gesichter visuell zu orientieren. Gestützt auf diese Massenerfahrung, sowie ihre Bestätigung durch die Entwicklungspsychologie, wird eine Ästhetik diskutiert, die eine unpersönliche Gesichtshaftigkeit als Testfeld für die Dialektik von Individuum und Gesellschaft legitimiert; eine Ästhetik, dem Film wie auf den Leib geschrieben, solange er sich nicht aus dem kommunikationspsychologischen Bann löst.

Die hermeneutische Verlegenheit, mit dem "inneren Gesicht" hinter der gedeuteten Oberfläche nur eine neue Oberfläche zu entdecken, eine Seele, erfährt nach Ansicht Raymond Bellours vorbildlich für die Moderne eine schöpferische Wendung in der Malerei. Künstler wie Picasso oder Bacon zeigten das menschliche Gesicht zerstört und "von gewaltigen Kräften heimgesucht" (Bellour). In Henri Michaux" literarisch reflektierter Malerei verfließe das "innere Gesicht" zum Trugbild. In ihm kündigten sich jedoch - jenseits psychologischer oder soziologischer Identität - Wesenheiten an, die durch diese Sichtbarkeit überhaupt erst möglich würden. Der Film scheue vor derartigen Verfahren noch weitgehend zurück. Daher ist es kein Zufall, dass Bellour deren avanciertesten filmischen Gebrauch bislang vornehmlich in der Videokunst feststellt. Eine gleichwohl gegenwärtig kaum zu übersehende Durchdringung filmkünstlerischer und objektkünstlerischer Schlaglichter ergibt sich für den Film, so Jacques Aumont, aus dem gewachsenen Selbstbewusstsein seinem industriellen Ursprung gegenüber. Durch ihn habe seine Modernität immer auch im Ruch bloß modischer Aktualität gestanden. Mit seiner wiederholten Autonomisierung mache sich der Film aber nur erneut abhängig - von einer Situation, in der die Bildkunst einen konzeptuellen Sinn gewonnen habe, in der es nicht um das Dargestellte gehe, sondern um das Bild in seiner Medialität. Nachdem der Film mit seinen Bildverfahren die Malerei zugleich zerstört und vollendet habe, werde er so in den selbst erzeugten Strudel mit hineingerissen. Ein aufgeklärter Konservativismus, wenn man will, der sich in der Klage über den Verlust des "humanistischen Bezugs auf das menschliche Gesicht" (Aumont) in diesem Geschehen erklärt: Anders als für Bellour wird ihm das Gesicht dabei zum leeren Ort, durchlässig für alles mögliche.

Auch Nicole Brenez faßt in ihrer sorgfältigen strukturalen Analyse von Pier Paolo Pasolinis Christusfilm "Il Vangelo Secondo Matteo" die Durchlässigkeit des Gesichtsbilds ins Auge. Ermöglicht wird sie hier durch die Gegenüberstellung der Gesichter des von Laienschauspielern dargestellten Volkes mit dem Gesicht Christi. Weitestgehend gereinigt von den Rückständen sakraler Ikonographie, stehe die Christusfigur im Werk des Marxisten Pasolini an zentraler Stelle als Gleichnis für eine energische Reformation, für die Bestreitung des je gegenwärtig Sichtbaren durch das Unanschaubare. In der Schuss-Gegenschuss-Sequenz mit dem abstrakten Christusgesicht zeigen die Ereignisse ihre Schatten auf der Ausdruckslandschaft der Gesichter wie die über die kalabrische Landschaft gleitenden Schatten der Wolken: das Gesicht als affektiver "Bildeffekt". Der hat jedoch strukturierenden Wert: Brenez demonstriert den präzisen rhetorischen Plan, durch den Pasolinis Film eine politische Blickhaltung provoziert. Genau besehen rekonstruiert sie mit ihrer Analyse des Films ein erinnerungswürdiges Gegenstück zu Agambens an Carl Schmitt geschulter Anschauung, wo diese in politischem Fatalismus verharrt.

Der Eingriff der Kunst in die geistigen Abhängigkeiten der Gegenwart erfordert eine besondere Aufmerksamkeit. Das vorliegende Buch erscheint zwar zunächst als Justierung einer Filmgeschichte. Vielleicht hat der "Entwurf einer Kulturgeschichte der Gesichtsdarstellung", den dieser lesenswerte Band versuchen will, aber noch einen darüber hinaus gehenden Sinn: als Vorschlag, die Photogénie des Gesichts der Moderne zu erkunden. Sie träte an die Stelle einer Physiognomie der Epoche. Die öffentliche Gegenwart des Films gehört schon zur Pflege eines solchen Organs historischer Erfahrung. Geschwindigkeit und Gewalt der Passagen durch das Bild der Öffentlichkeit sind variabel. Einige werden hier trassiert. Zumindest für die derzeitige gemeinsame Situation von Kunstfilm und Objektkunst wäre das zu gewinnende Bild nicht ohne Vorteil.

Kein Bild

Christa Blümlinger / Karl Sierek (Hg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes.
Sonderzahl Verlag, Wien 2002.
287 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3854491808

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch