Ein Versuch bleibt ein Versuch

Martin Walser "Versuch über die Schüchternheit"

Von Kathrin Frances ClarkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kathrin Frances Clarke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus einer Schwäche eine Stärke machen. Martin Walser schreibt einen Abriss über die Schüchternheit, die er mit dem Anspruch auf Absolutheit aus allen Perspektiven beschreiben zu können glaubt. Dass ein schüchterner Mensch das reale Glück durch die wahre Anerkennung durch die Gesellschaft erfahren kann, erscheint ihm absurd. Der Schüchterne ist der Schwache, der Ausgegrenzte, der Charakterlose. Ist Schüchternheit denn keine Charaktereigenschaft?

Wo der Autor die wahre und reale Welt von einer Gedankenwelt und Illusion der Schüchternen zu unterscheiden gelernt hat, verrät er leider nicht. Offensichtlich schwebt er über der Gesellschaft, kann von einer Metaebene ein System objektiv beschreiben, dessen Teil er selber ist. Und das alles auf 50 Seiten. Eine erstaunliche Leistung.

Der Schüchterne baut sich seine eigene Welt auf, in der er der Gute sein kann, weil er nicht fähig ist, sein Ich zu ändern. Da er in Wahrheit der Verlierer der realen Welt ist, weil diese aus Machtverhältnissen besteht, in deren Rangordnung er sich ganz unten anzusiedeln hat, negiert er die Realität zu Gunsten seines Konstrukts. Diese These begründet Walser dadurch, dass der Schüchterne im Besonderen in der Lage ist, diese Strukturen aufrecht zu erhalten, weil er durchschaut, dass sich jeder Mensch nur für sich selbst interessiert. Der Schüchterne kündigt seinen "Ich-Propaganda-Dienst", den sonst ein jeder lebt.

Walsers allumfassende Urteile sind von überwältigender Einfachheit und stecken voller offensichtlicher Widersprüche: 1. Die ganze Gesellschaft, sowie alle Menschen sind schlecht. Ausnahmen gibt es keine. Ganz klar. 2. Wenn der Schüchterne die Strukturen der menschlichen Psyche und der Gesellschaft durchschaut, wie kann er dann gleichzeitig ein unrealistischer Träumer sein, der die wahre Welt nicht erkennt? Die Dialektik besteht demzufolge darin, dass die reale Welt, in der die mächtigen, selbstbewussten Menschen leben, ohne die Schüchternen, die in einer anderen Welt - der Wörterwelt des "Schönredens" leben - nicht existieren könnte. Ihre reale Welt ist also ein Teil derer, die sie verleugenen.

Der "Versuch" über die Schüchternheit ist eben nur ein Versuch. Doch dem nicht genug, streift Martin Walser in seinem kurzen Werk noch ein weiteres Thema, dem er ganze zwei Seiten widmet. Sicher, große Autoren und Dichter haben sich seit Jahrhunderten mit dem Thema Liebe auseinandergesetzt. Alle Menschen bewegt es und jeder möchte es gerne erklären können. Da gibt es Bücher über Logik, Psychologie, Philosophie, Romane, Gedichte und so weiter. Aber nun kommt Walser: Er braucht nur zwei Seiten für sein vernichtendes Urteil. Ein Naturereignis des zwischenmenschlichen Gefühls so allumfassend und einseitig darzustellen, übersteigt seinen Horizont. Denn ist es nicht gerade die Faszination des Unerklärlichen, des Irrationalen, Widersprüchlichen, die dieses Thema so spannend macht?

Ist vielleicht nicht der schüchterne Mensch in unserer Gesellschaft der Unglückliche, weil Beschränkte, sondern vielmehr Herr Walser?

Titelbild

Martin Walser: Über die Schüchternheit. Ein Versuch.
Edition Klaus Isele, Eggingen 2000.
62 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3861421453

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