Die Ordnung der Undinge oder Lynchologie für Fortgeschrittene

Stefan Höltgens über Strategien der ästhetischen Verdopplung bei David Lynch

Von Christiane MathesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christiane Mathes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das filmische Universum des David Lynch ist ein hochgradig komplexes, bevölkert von absonderlichen, zudem inkohärenten Gestalten und anti-linearen Erzählverfahren, und dass es sich allzu gängigen Interpretationsmöglichkeiten versperrt, muss wohl nicht weiter thematisiert werden. Für den größten Teil des Kinopublikums sind Lynchs Filme ein entweder faszinierendes oder abstoßendes Mysterium, für den medienwissenschaftlich Fachkundigen, der sein theoretisches Instrumentarium zur Entschlüsselung enigmatischer Strukturen einsetzen möchte, ergibt sich eine wahre Fülle von denkbaren Analyseansätzen. So ist es auf erschreckende Weise beeindruckend, wie einseitig und mit welcher Ausschließlichkeit sich oft die Sekundärliteratur zu den Filmen Lynchs und seiner Person äußert und infolgedessen sich in entfesselten, von jedweder Logik befreiten Deutungen und freudianischen Klischees verliert. Man kann fast den Eindruck gewinnen, dass so mancher Sekundärliterat von den verschlungenen Werken Lynchs geradezu berauscht ist, so berauscht, dass sein Elaborat den beschriebenen Gegenstand seiner Deutungskunst an Mystik weit übertrifft. Objektivität wird durch Trance ersetzt, wo das geschärfte Auge das Filmmaterial in den Blick nehmen müsste; und siehe da, beim Blättern in einem Band über Psychoanalyse lichtet sich schlagartig der Nebel in Lynchland; was bedrückend düster war, erweist sich als ödipale Konstellation. Das ,wilde Denken' interpretiert bei "Blue Velvet" den Wandschrank, in dem Jeffrey Beaumont ein bizarres und sexuell gewalttätiges Mommy-Daddy-Spiel beobachtet, als Gebärmutter, in der ein Jüngling auf den Abschluss seines Geburtsvorgangs wartet. Mit einer solchen Begabung scheint es auch ein Leichtes zu sein, in der blauen Gesichtsfarbe der Leiche Laura Palmers in "Twin Peaks - Fire walk with me" die amerikanische Flagge zu erkennen.

Verwirrt? Noch Fragen? Dann sollten Sie die Beantwortung lieber Stefan Höltgens überlassen, denn sein Buch bildet in jenem Kontext eine erholsame Ausnahme, und wird der Bezeichnung Sachbuch gerecht. In Gegensatz zu dem gewohnten emphatischen Übereifer, mit dem Lynch bedacht wird, wirkt die vorliegende Analyse angemessen distanziert und kritisch, was es ihr ermöglicht, die Fallstricke gelassen zu durchschauen, die Lynch selbst innerfilmisch, im Bewusstsein seiner Wirkung auf die Rezeption, auf zu ausgetretenen Pfaden mit Freud und Freuden legt. Höltgen widmet sich dem Aspekt der ästhetischen Verdopplung und untersucht drei Filme: den bereits erwähnten "Blue Velvet", "Twin Peaks - Fire walk with me" sowie "Lost Highway". Zur Einführung dient ein kurzer bio- und filmographischer Abriss, der zu verführerisch naheliegenden, plakativen Deutungen jedoch nicht herangezogen wird. Jeder Analyse vorangestellt ist sinnvoller Weise eine knappe Zusammenschau der wissenschaftlichen Theorien, die im Folgenden vorausgesetzt werden, um den zu behandelnden Gegenstand einzugrenzen.

Die ästhetische Verdopplung zählt zu den Merkmalen postmodernen Kinos. Eines ihrer Verfahren ist das Konzept der Doppel- bzw. Mehrfachcodierung, das auf mehreren Ebenen filmischen Erzählens zur Anwendung kommt. Die einfachste ist die Herstellung von filmgeschichtlichen Referenzbeziehungen mittels Anspielungen und Zitaten; weiterhin lässt sich das Verfahren der Doppelcodierung anwenden auf den Plot, auf das Genre und auf das Medium Film selbst. Höltgen destilliert aus verschiedenen Strategien der Doppelcodierung eine umfassende Neubestimmung der Wahrnehmung, die sich in Lynchs gesamtem Werk niederschlägt und sich in den Phänomenen der Zeitlosigkeit (bzw. der Unmöglichkeit, Lynchs Filmhandlungen zeitlich zu verorten), der Negation und Aufsplitterung von personaler Identität und Räumlichkeit, der Unabhängigkeit von Bild und Ton, sowie verschiedenen Arten der visuellen Spiegelung und Selbstreferentialität äußert.

Stefan Höltgen dechiffriert mit Hilfe dieser Verfahren Strategien der ästhetischen Verdopplung in verschiedenen Intensitätsgraden, es kristallisiert sich heraus, dass Lynchs gesamtes Schaffen als ein Projekt der ästhetischen Verdopplung deutbar ist. Um diese Theorie im Detail zu verifizieren, wird jedem Film jeweils eine bestimmte Strategie der Verdopplung zugeordnet. Die Verdopplung der Erzählung wird in "Blue Velvet" durchleuchtet, der Referenzen von "Wizard of Oz" über Buñuels und Dalís "Un chien andalou" bis hin zu Alfred Hitchcocks "Rear Window" enthält; die Bezüge zur Ikone Hitchcock werden gesondert in einem Zwischenkapitel vertieft. Anhand von "Twin Peaks - Fire walk with me", der nach seiner undurchsichtigen Struktur aus Referenz und Selbstreferenz als semiologischer Lückentext fungiert, wird mit der Verdopplung des Genres eine Kritik an zu eng gefassten Genrebegriffen formuliert. "Lost Highway" schließlich potenziert sich zu einem selbstreflexiven Diskurs über Medien. Lynchs Filme erhalten somit den Charakter von Essays, die filmische Theorien in sich aufnehmen und diese konstruktiv bearbeiten.

Stefan Höltgen gelingt ein Vorhaben, an dem vor ihm viele gescheitert sind: nämlich Klarheit zu schaffen, statt sich distanzlos in spekulativ-kryptischen Deutungen zu verlieren. Er bleibt ganz nah am filmischen Text und legt großen Wert auf die Belegbarkeit seiner Thesen. Gleichzeitig zieht er zu seinen Untersuchungen die schon vorhandene Literatur heran, führt Aussagen zur Verifikation seiner Erkenntnisse an oder zerstreut und falsifiziert zum Zwecke der Abgrenzung. Auch damit erreicht er eins: Er stiftet eine Ordnung der Dinge, die man für unentwirrbar gehalten hatte. Statt in guter Gesellschaft an der Oberfläche zu kratzen, dringt Höltgen in die Metaschichten vor. Er begreift David Lynch fernab aller optischen Schockeffekthascherei und gewollten psychologischen Verunsicherung als einen Filmanalytiker, der mit seinem Gesamtwerk den Versuch unternimmt, Filmtheorie abzubilden.

Eine willkommene Serviceleistung bietet der hilfreiche Anhang, in dem ein ausführliches Literaturverzeichnis, eine Segmentübersicht sowie Sequenzprotokolle Unterschlupf finden, die der empirischen Stütze dienen.

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Stefan Höltgen: Spiegelbilder. Strategien der ästhetischen Verdopplung in den Filmen von David Lynch.
Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2001.
156 Seiten, 64,50 EUR.
ISBN-10: 3830002769

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