Parmigianinos Handreichung

John Ashberys Gedichte

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

John Ashberys Durchbruch liegt beinahe 30 Jahre zurück. Zuvor war der 1927 in Rochester, N.Y., geborene Dichter vor allem als Kunstkritiker wahrgenommen worden. Für seinen bereits siebten Gedichtband, "Self-Portrait in a Convex Mirror" (1975) erhielt er dann neben weiteren bedeutenden Auszeichnungen den Pulitzer Prize for Poetry. Seine internationale Bekanntheit beruht nicht zuletzt auf dem damals titelgebenden Langgedicht, das auch das Zentrum der von Joachim Sartorius zusammengestellten, zweisprachigen Auswahl an Gedichten darstellt. Es handelt sich dabei um eine geduldige poetische Reflexion über das Selbstbildnis des manieristischen Malers Francesco Mazzola, genannt Parmigianino, "sein Spiegelbild, von dem das Porträt, / Die Spiegelung zweiten Grades ist."

Das Gemälde zeigt den Maler, wie er seine Hand scheinbar - eindrücklich durch die optische Verzerrung - dem Betrachter entgegenstreckt und dennoch, "leicht im Rückzug" bleibt, "wie um das, von dem / Sie kündet, zu schützen". Ashbery inspiziert das Bild von Vasaris epochalen Berichten ausgehend aus verschiedenen Perspektiven; er hebt Details hervor wie die leeren unwissenden Augen, um deren "Polarstern" herum das Chaos seines Spiegels alles ordnet, um diese Einzelheiten wiederum von unterschiedlichen Seiten zu begutachten. Das notwendige Scheitern an der Oberfläche - denn die "Augen erklären, / Daß ein jedes Oberfläche ist" - wird schließlich Anlass einer Spekulation über die Funktion der Sprache, deren Wörter dem "was da ist / Und es kann nichts existieren außer dem, welches da ist" niemals angemessen zu sein vermögen. So legt der Dichter ein ums andere Mal ästhetische oder philosophische Probleme aus, um sie für sich selbst neuerlich fruchtbar zu machen.

In diesem Langgedicht ist Ashbery als Museumsbesucher noch merkwürdig persönlich zu entdecken, auch wenn er sich hinter Zitaten von Gelehrten und Künstlern wie Vasari, Alban Berg oder Sydney Freedberg versteckt. Hat man jedoch alle Gedichte dieses Bandes gelesen, so werden Ashberys Konturen immer diffuser. Andere Masken kommen hinzu, Alltagsfetzen, formale Traditionen und stets komplizierte, ineinander verschränkte Sichtweisen, während die Polyphonie der Zitate, die gern als Signum der Postmoderne angeführt wird, in diesem Versteckspiel eher in den Hintergrund tritt. Das thematische Schreiben, das Epische, wird dabei seltener interessant, vielmehr rücken "angesichts einer sich durch Überfülle auszeichnenden Welt" für Ashbery "die Möglichkeiten der Rekombination des bereits Vorhandenen" in den Vordergrund, wie Sartorius in seinem Nachwort berichtet: "Forschungen haben ergeben, daß Balladen durch das Zusammenwirken aller / Mitglieder der Gesellschaft / entstanden sind. Sie sind nicht einfach passiert", heißt es in "Hotel Lautréamont", das nach diesem Beginn mit der Wiederholung und Variation des in zweierlei Hinsicht bereits Geschriebenen spielt; zum einen werden neben dem Vorläufer des Surrealismus im Titel zum Beleg gemeinschaftlich verfasste Balladen genannt, zum anderen wird der gerade entstehende Text fortlaufend neu montiert, korrigiert und melodiös kombiniert.

Die Auswahl "Mädchen auf der Flucht" liefert einen bewundernswerten Querschnitt durch Ashberys Werk, wobei unterschiedliche Einflussnahmen wie die der New York School, des französischen Surrealismus oder auch der Jazzimprovisation durchscheinen. Beinahe die Hälfte der Gedichte wurde für diesen Band neu übersetzt, und da die amerikanischen Originale daneben stehen, sollte man nicht allzu streng mit mancher Übersetzungslösung umgehen. Trotz der zuweilen deutlichen Unzugänglichkeit der Gedichte wird man dennoch über die "Kanaillienvögel" stolpern, um dann beruhigt festzustellen, dass es doch einfach "canaries" sind, Kanarienvögel. Die Eigentümlichkeit von Ashberys Texten bleibt aber in den meisten Fällen erhalten: der Vorzug der in der Schwebe bleibenden, suggestiven Andeutung gegenüber dem eingängigen Bonmot und die so mühsame Aneignung der Realität. Die Wirklichkeit selbst wird dabei immer bruchstückhafter und flüchtiger, ihre Erkundung aber wird immer präziser und akribischer, selbst wenn das Gedicht am Ende "uneinholbar" bleibt, da es sich "wie jedes Kunstwerk dem Verstehen zunächst widersetzt und damit den Austausch erst wirklich in Gang setzt", wie Sartorius weniger resignativ als tröstlich Ashberys Statement weitergibt. Dieses Trosts wird man bei der ersten Lektüre mitunter bedürfen, später aber überwiegen Vergnügen und Faszination.

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John Ashbery: Mädchen auf der Flucht. Ausgewählte Gedichte, amerikanisch und deutsch.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Joachim Sartorius.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Erwin Einziger, Matthias Göritz, Durs Grünbein, Michael Krüger, Klaus Reichert und Joachim Sartorius.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
164 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446202269

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