Freiheit, Gleichheit, Anarchie

Ein Sammelband zu zeitgenössischen Gerechtigkeitstheorien

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass gleiches Recht nicht unbedingt gerecht sein muss ist eine schon etwas ältere Erkenntnis. Ähnlich erklärte bereits Aristoteles in der "Nikomachischen Ethik", dass Personen, die einander nicht gleich sind, nicht Gleiches erhalten dürften. Ein solch negativer Befund gewährleistet natürlich noch nicht die positive Beantwortung aller Fragen gerechter Verteilung. So hält denn auch die philosophische Auseinandersetzung um Gerechtigkeit und Gleichheit und der mit ihnen verknüpften Problemata der Freiheit und Autonomie unverändert an. Ihnen gilt auch ein von den Wiener Philosophinnen Herlinde Pauer-Studer und Herta Nagl-Docekal herausgegebener Sammelband, dessen Titel "Freiheit, Gleichheit und Autonomie" den vierten zur Debatte stehenden Begriff, die Gerechtigkeit, nicht zufällig unterschlägt, herrscht doch unter den Herausgeberinnen ebenso wie unter den Beitragenden weithin Einigkeit darüber, dass eine egalitaristisch begründete Ethik abzulehnen und Gleichheit kein intrinsischer Wert sei.

Zwar sucht man die von den Herausgeberinnen in der Einleitung angekündigte Bibliographie zur Egalitarismus-Debatte vergeblich, doch liefert Angelika Krebs im umfangreichsten Beitrag des Bandes einen mehr als nur kursorischen Überblick über Argumente und Stand der Debatte zwischen Egalitaristen und Anti-Egalitaristen, ohne ihre eigene, strikt antiegalitaristische Position zu verbergen. Der Egalitarismus, so lautet ihr zentraler Kritikpunkt, verwechsle Allgemeinheit mit Gleichheit. Dass die "besonders wichtigen elementaren Standards der Gerechtigkeit nichtrelationaler Art sind und Gleichheit nur als Nebenprodukt ihrer Erfüllung mit sich führen" begründet sie ebenso anschaulich wie überzeugend mit dem Hinweis, dass einem Menschen, der unter Hunger oder Krankheit leide, nicht etwa deshalb zu helfen sei, weil es anderen Menschen besser geht, sondern "weil Hunger und Krankheit für jeden Menschen schreckliche Zustände sind".

Herlinde Pauer-Studer vertritt ähnlich wie in ihrem kürzlich erschienen Buch "Autonom Leben" (vgl. literaturkritik.de 3-2001) den Standpunkt, dass Freiheit ein "Wert an sich" sei und distributive Gleichheit in einer "instrumentellen Relation zu Freiheit" stehe. Distributive Gleichheit sei nur ein Mittel, um Freiheit zu ermöglichen. Ähnlich wie Pauer-Studer wendet sich auch die zweite Herausgeberin, die feministische Kantianerin - oder vielleicht besser: die kantianisierende Feministin - Herta Nagl-Docekal, dem Begriff der Autonomie zu und unternimmt zudem die Beantwortung der Frage "Warum es sich lohnen könnte, dem Verhältnis von Moral und Recht bei Kant erneut nachzugehen".

Wenn auch nur am Rande, so bezieht sich auch Matthias Kaufmann auf den Königsberger Transzendentalphilosophen. Doch interessiert ihn Geschichtsphilosophie und Teleologie mehr als Tugend- und Rechtslehre. Ähnlich wie Kant hoffte, dass die "Künstlerin Natur" nicht nur die Perfektibilität des Menschen garantiere sondern auch zum ewigen Frieden führe, vermutet der aufgeklärte Anarchist, dass dem egalitärer Liberalismus eine Tendenz zur Anarchie innewohnt, die zur "Optimierung einer freien und gerechten Gesellschaft" führt. Ohne gleich auf Anarchie zu setzen, macht sich auch Ulrich Steinvorth für die liberale Tradition der Idee gleicher Freiheit stark, die der Forderung nach gleichen Rechten vorgängig sei. Jürgen Habermas geht unterdessen der Frage nach, ob der Rechtsstaat an einer "paradoxe[n] Verbindung widersprüchlicher Prinzipien" leidet und wie Demokratieprinzip und Rechtstaatlichkeit zu vereinbaren sind.

Titelbild

Herlinde Pauer-Studer / Herta Nagl-Docekal: Freiheit, Gleichheit und Autonomie. Wiener-Reihe 11.
Akademie Verlag, Berlin 2003.
395 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 305003601X

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