Glasstückchen eines Lebens

György Konrád breitet einen Nachlaß aus

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Antal Tombor mein Name, früher war ich Regisseur, heute bin ich Bürgermeister der Stadt Kandor." Mit großer Geste stellt er sich vor, der Ich-Erzähler in Konráds neuem Roman. Die ganze Stadt ist sein Theater, er führt Regie, aber nicht für einen Film der Zukunft, sondern im Jetzt. Er führt den Leser in alle Bereiche seiner Tätigkeit ein, die Amtstuben und Sitzungssäle, die Kontakte mit den Bürgern, die Freunde und Feinde, seine Arbeits- und Lebensphilosophie. Das so entworfene Bild des tatkräftigen, vielgereisten Machers weist aber von Anfang an Brüche auf, innere Widersprüche. Ganz klar wird es im letzten Drittel des Romans: hier schreibt einer seine Lebensbilanz, im Angesicht des Todes. Sein Körper, von einer unheilbaren Krankheit gezeichnet, lässt ihn bereits im Stich, er nimmt Abschied von der Welt.

In vielen kleinen Abschnitten werden Erinnertes und Gegenwärtiges, Gesehenes, Gefühltes und Gedachtes nebeneinandergestellt. Dabei ist das Ausbreiten der Erfahrungen wesentlich, nicht das Klären und Ordnen. Zwar werden Lebensweisheiten und Aphorismen überall im Text verstreut, aber sie ergeben kein logisches Ganzes, immer ist alles möglich, auch das Gegenteil. "Die bunten Glasstückchen des Guckkastens ordnen sich nach jedem Schütteln zu interessanten neuen Gebilden."

So entsteht eine Atmosphäre der Gelassenheit, des Gewährenlassens, aber auch der Auflösung und Unerheblichkeit. Am besten, der Leser vertraut sich dem Fluß des Textes an, schwimmt mit, oft im Kreis, inmitten von Wiederholungen und Redundanzen, lässt sich treiben in der Fülle eines bewegten Lebens, während Tombor, eine Rosskastanie in der hohlen Hand, atmet, spürt, lebt und liebt und ein Glas ums andere trinkt im herbstlichen Weinberg.

Einige Lebensstationen lassen sich in diesem Strom fixieren. Das Geburtsjahr 1933 (das Tombor mit dem Autor teilt), die Deportation der jüdischen Eltern ins Konzentrationslager 1944, die Liebe zu Melinda, seiner Frau (die andere Lieben nicht ausschließt), die Revolution 1956 und die Frage, warum er nicht emigriert ist (vielleicht aus Faulheit), die Lebensbedingungen im "gemäßigten Polizeistaat", die Wende 1989 und damit der Beginn seiner politischen Karriere, der mafiöse Nachbar Baba Dudu als Exponent des nun allesbeherrschenden Geldes. Der "Nachlaß" bietet somit auch eine Verdichtung von sechzig Jahren ungarischer Geschichte.

Zeitgleich mit dem "Nachlaß" gibt der Suhrkamp Verlag eine leicht revidierte Übersetzung von Konráds Debutroman "Der Besucher" (1969) heraus. So lässt sich vergleichend der Bogen spannen über dreißig Jahre. Während der Debutroman die Menschen und ihre Schicksale sehr konkret, mit engagierter, expressiver Sprache darstellt, sozusagen in Ölfarbe malt, geht der Autor im "Nachlaß" auf größere Distanz zu seinen Figuren, abstrahiert mit dem Bleistift fast bis zum Essay.

In György Konráds Schaffen verbindet sich der Schriftsteller mit dem Essayisten und auch dem Politiker. Als Konrád in diesem Frühjahr in seiner Funktion als Präsident der Berliner Akademie der Künste gegen den Nato-Einsatz im Kosovo Stellung bezog, distanzierte er sich als Mitteleuropäer von Westeuropa. Sein Mitteleuropa bezieht den Balkan mit ein. Der Gedanke findet sich auch im "Nachlaß". Für einen Monat wird Tombors Stadt Kulturhauptstadt Europas. "Das kleine Europa kann sich nicht erweitern, wenn nicht eben in Richtung Kandor". Ungarn - und das ist nicht nur ironisch gemeint - ist der "Nabel Europas".

Titelbild

György Konrád: Der Besucher. Roman. Aus d. Ungar. v. Mario Szenessy.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
200 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3518410849

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Titelbild

György Konrád: Der Nachlaß. Roman. Aus d. Ungar. v. Hans-Henning Paetzke.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
300 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3518410857

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