Im Flechtwerk der Geschichte

Marguerite Yourcenars Memoiren "Gedenkbilder"

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Wesen, das sich 'ich' nennt, kam an einem Montag, dem 8. Juni 1903 gegen 8 Uhr morgens in Brüssel zur Welt ." So weit der Beginn der auf drei Bände angelegten Memoiren von Marguerite Yourcenar. Der hier besprochene erste Teil erschien im französischen Original bereits 1974 unter dem Titel "Souvenirs pieux".

Der runde Geburtstag einer literarischen Einzelgängerin, deren Realismus sie als Tochter des 19. Jahrhunderts ausweist und deren Werke sich an den Stoffen der Geschichte inspirieren, mag dazu angetan sein, wieder einmal in Erinnerung zu rufen, dass ästhetische Entwicklung unbeeinflusst von literarischen Strömungen statthaben kann. Mit dem steten Blick zurück in die Vergangenheit - unverwechselbares Signum ihrer Schriften - verfasst sie eine literarisierte Familiensaga, die ins Spätmittelalter zurückreicht und in schneller Abfolge illustre Ahnen vorbeidefilieren lässt, um endlich gegen 1850 Halt zu machen. Der Zeitraum danach bis zum Ende des Ersten Weltkriegs wird entsprechend dem reichlich vorhandenen Archivmaterial detailliert geschildert und gerät so zur Sozialgeschichte des belgisch-französischen Landadels, dem Yourcenar entstammt und schließlich den Rücken kehrt. Ihr Pseudonym - ein Anagramm des väterlichen Namens Crayencour - verdeutlicht diesen Bruch mit einer versunkenen Welt, in der eine Schriftstellerin von Weltrang wurzelt. Das Rätsel dieser und unser aller Herkunft spricht aus dem buddhistischen Motto, das den "Gedenkbildern" vorangeht: "Was war dein Gesicht, ehe dein Vater und deine Mutter einander begegneten?"

Yourcenar, die sich gegen die "psychologie de drugstore" verwehrte, zieht keinerlei Schlüsse. Sie rekonstruiert auf der Grundlage von Fotografien und Archivmaterial schemenhafte Porträts ihrer Vorfahren, von denen sie dreien besondere Beachtung schenkt. Zum einen fokussiert sie das kurze Leben ihrer Mutter Fernande, zum andern hält sie liebevoll vor den Großonkeln Rémo und Octave Pirmez inne.

Sie aufgrund ihrer Methode als Historikerin auszuweisen, wie dies in der kurzen biografischen Notiz der Taschenbuchausgabe geschieht, oder sie gar mit dem Etikett Literaturwissenschaftlerin zu versehen, geht am Wesen der Romanciere, Essayistin, Gelegenheitspoetin und Dramatikerin entschieden vorbei.

Hier wird trotz umfangreicher Recherchen, die Yourcenar vor allem für ihre großen Romane obsessiv betrieb, zuvörderst Literatur geschrieben. Fremder als ein liebgewonnener Protagonist muss ihr daher wohl auch das Neugeborene erscheinen, das die Schriftstellerin siebzig Jahre später aus den Tiefen des Gedächtnisses und verstreuten Andenken birgt: "Wenn ich jedoch, zumindest teilweise, das Gefühl der Irrealität loswerden will, das mir aus dieser Identifizierung erwächst, dann muß ich mich, wie bei dem Versuch des Nachempfindens einer historischen Persönlichkeit, an Erinnerungsfetzen aus zweiter oder zehnter Hand klammern".

Die Unmöglichkeit, das historische Subjekt einzuholen, korreliert mit der eingefleischten Scheu, sich mehr denn in bloßen Andeutungen zu offenbaren. Insofern trifft der in der französischen Ausgabe gewählte Untertitel "Mémoires" den Kern dieses quasiautobiografischen Unterfangens: In Wahrheit camoufliert die Trilogie das Ich der Erzählerin. Sie verbleibt am Rande des Geschehens ihrer Zeugenschaft verhaftet.

Die Hauptakteurin dieses ersten Bandes stirbt kurz nach der Geburt von Marguerite Yourcenar am Kindbettfieber. Eine sepiafarbene Aufnahme liefert den späten Impetus zur Schrift: "Diese liegende Grabmalsfigur ist in ein an Ärmeln und Kragen spitzenverziertes Batistnachthemd gekleidet; ein durchsichtiger Tüll verschleiert unmerklich ihr Gesicht und verwandelt ihr Haar, das im Kontrast zur Weiße der Wäsche sehr dunkel erscheint, in einen Heiligenschein."

Einer aufgebahrten Heiligen gleicht die Tote. Weder wird die Ähnlichkeit mit ihr beschworen, noch ihre Absenz beklagt. Im Gegensatz zu der weit verbreiteten Meinung, der vorzeitige Verlust der Mutter werde von der verlassenen Tochter schmerzlich empfunden, besteht Yourcenar auf jener Indifferenz, mit der man einer Unbekannten und folglich nie Geliebten gegenübertritt.

Fernande verschwindet dreißigjährig von der Familienbühne und hinterlässt neben dem Säugling den nunmehr zweifachen Witwer Michel de Crayencour, der sich mehr recht als schlecht der kleinen Marguerite annimmt. Von dieser für Yourcenar prägenden Persönlichkeit berichten die "Gedenkbilder" allerdings nur im Kontext der kurzen ehelichen Verbindung zwischen dem viel Älteren und der unbedarften jungen Dame, deren Schicksal, wenngleich auf privilegiert aristokratischer Ebene, exemplarisch jenem aller Frauen des Fin de Siècle korrespondiert. In einem katholischen Mädchenpensionat erzogen, durchschnittlich gebildet, erfüllt sich ihre Bestimmung in der Rolle der devoten Gattin und pflichtbewussten Mutter, die das männliche Sinnlichkeitsmonopol nicht in Zweifel zieht. Fernandes Gedenkbild, auf dem vermutlich Michels Verse zu lesen sind, verhehlt nicht den patriarchalischen Gestus, in dem sich das Verhältnis der Geschlechter manifestiert: "Sie war immer bestrebt, ihr Bestes zu tun."

Viel näher stehen Yourcenar die Brüder Octave und Rémo. Während sich jener als mittelmäßiger Literat einen Namen macht, zerbricht dieser an dem Widerspruch zwischen hochfliegenden Idealen und einer realen verdorbenen Gesellschaft, der mittels Philosophie nicht beizukommen ist. Aber Rémos schwärmerischer Weltschmerz verstrickt sich nicht im Gestrüpp hohler Phantasmagorien, sondern zielt auf eine Veränderung der Lebensbedingungen der Unterdrückten und Entrechteten. Nüchtern bereist er Süditalien und zeigt - anders als Goethe - das Elend der Bevölkerung auf. Seine Begeisterung für den Hellenismus teilt er mit der Nachgeborenen, die wie er die antiken Klassiker studiert hat. Beiden eignet die Illusionslosigkeit, die zwar Rémo in den Suizid treibt, Yourcenar hingegen in der Fiktion bändigt: "Ich bin schon früh an seinen Ufern gewandelt; das beweisen mir meine ersten Bücher, schon zu einer Zeit, in die meine Erinnerung kaum noch zurückreicht. Doch erst gegen mein fünfzigstes Jahr hat seine Bitterkeit mir Leib und Seele durchtränkt."

Mit "Gedenkbilder" gelingt Yourcenar eine subtile Milieustudie, die sie mit dem Figureninventar ihrer Ahnen bevölkert. Sie sind eingebunden in eine Epoche, welche die Autorin scharfsinnig charakterisiert: "Wo man geht und steht herrscht die Lüge. Die Gestalt, in der sie im 20. Jahrhundert auftritt, ist vor allem die des brutalen, unverhüllten und schreienden Betrugs; im 19. Jahrhundert trat sie leiser auf, in Gestalt der Heuchelei." Ein derartiges Resümee bedarf der historischen Episteme, es bedarf auch der Literatur.

Titelbild

Marguerite Yourcenar: Gedenkbilder. Eine Familiengeschichte.
Übersetzt aus dem Französischen von Rolf Soellner, Hedda Soellner.
dtv Verlag, München 2003.
312 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3423130822

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