Sophokles für die Bühne

Eine Neuübersetzung des "König Ödipus" von Reto Zingg

Von Beate CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beate Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie vielen Publikationen der Frühen Neuzeit Geleitgedichte vorangestellt waren, in denen etablierte Kollegen oder bekannte Honoratioren für den Autor Promotion betrieben, so beginnt auch diese Übersetzung mit einem Geleitwort. Es stammt von keinem Geringeren als von Joachim Latacz, einer Autorität auf dem Gebiet der griechischen Antike und des griechischen Dramas insbesondere. Er attestiert darin seinem Doktoranden Reto Zingg, dem Autor der vorliegenden Übersetzung, der bisher einige wissenschaftliche Lexikonartikel zur Antike sowie einen kleinen Roman vorgelegt hat, Mut. Mut braucht man in der Tat, um es zu wagen, der Fülle von Übersetzungen des Sophokleischen "König Ödipus", die in Auswahl vorstellt werden, eine weitere hinzuzufügen. Denn es stellt sich unweigerlich die Frage: Was soll diese Übersetzung Neues bringen?

Zunächst aber ist der Leser verwundert über die merkwürdige typographische Gestaltung des Büchleins. Bei einer Seitenbreite von knapp 15 cm ist nämlich der Text der Tragödie auf eine Breite von 6 cm formatiert, so dass weitaus mehr Platz freibleibt, als bedruckt ist. Da überdies der Durchschuss grundsätzlich sehr groß und bei Sprecherwechseln noch größer ist, finden beispielsweise auf S. 32 ganze 8 Verse Platz. Aufschluss über den Zweck dieser ungewöhnlichen Gestaltung bieten indessen implizit das erwähnte Geleitwort und das Nachwort des Autors: Diese Übersetzung stellt den Anspruch, im Gegensatz zu den bereits vorhandenen "eigenwilligen" (Friedrich Hölderlin, Hugo von Hofmannsthal), "philologischen" (Wolfgang Schadewaldt, Wilhelm Willige) oder "schulmeisterlichen" Übersetzungen (Johann Jacob Christian Donner, Georg Thudichum) einen verständlichen und auf heutigen Bühnen spielbaren Text zu bieten, und das Buch ist eben auch in seiner äußeren Gestaltung ein Bühnentext. Gleichzeitig jedoch hält Zingg an der Verssprache fest, d. h. im besonderen Falle am Jambus, der "Kunstsprache Goethes, Schillers, Kleists und (dank Schlegel-Tieck) auch des großen Mannes aus Stratford" und schreckt - so sein Mentor - vor dem Ungewohnten nicht zurück, vereinfacht das Verquere nicht und scheut auch Zumutungen nicht. Damit versucht er die Konzepte einer verständlichen, zielsprachenorientierten, und einer identischen, wenn nicht gar kongenialen Übersetzung zu verbinden, die letztlich unvereinbar sind. Dieser Versuch des Unmöglichen scheitert denn auch erwartungsgemäß. Die Messlatte, die sich Zingg viel zu hoch gelegt hat, kann er nicht überspringen.

Sicherlich lesen sich manche Passagen glatt und gefällig, und es ist erfreulich festzustellen, dass niemandem etwas 'dünkt' oder 'deucht'. Doch gleich im ersten Vers wird die Maxime der Verständlichkeit verletzt: "Ihr Kinder! Kadmos', des alten, jung Geschlecht!" (vgl. Schadewald: "Kinder, Kadmos', des alten, neu Geschlecht!"). Zwar werden für den Leser die Bezüge durch Apostroph und Interpunktion markiert, aber für einen Hörer können sie durch noch so guten Schauspielervortrag nicht deutlich gemacht werden. Verständlicher ist hier die "philologische" Übertragung Wilhelm Williges: "O Kinder, jung Geschlecht aus Kadmos altem Stamm." Ähnliches gilt z. B. für die Verse 6 f. Auch hier versucht Zingg die griechische Wortstellung nachzuahmen: "Dies nicht von Boten anzuhören, Kinder, fand ich recht, / von anderen". Die Botschaft dieser Worte dürfte sich dem Hörer erst durch die Fortsetzung "also bin in eigener Person ich da" enthüllen. An dieser Stelle bietet der "Schulmeister" Thudichum die höchste Verständlichkeit: "Ich wollt es nicht durch Botenwort, aus fremdem Mund / erfahren, Kinder, darum kam ich selbst hierher". Diese Liste schwer verständlicher Syntagmen ließe sich mühelos fortsetzen. Die zitierten Verse bezeugen überdies, dass Zingg sich im deutschen Jambus einige Lizenzen erlaubt, die sich bei seinen Vorgängern, soweit diese dem Versmaß der Vorlage folgen, nicht finden. Er lässt nämlich nicht nur die Auflösung der Senkung in zwei unbetonte Silben zu (Kádmos?, des álten), sondern die Zahl der Hebungen innerhalb eines Verses variiert bereits in den ersten sechs Versen zwischen vier (V. 4: Mit Zweigen, flehenden, bekränzt) und acht (V. 6, s. o.), während der jambische Trimeter der griechischen Tragödie eigentlich einem sechshebigen Jambus im Deutschen entspricht. Gleichwohl sieht er sich zu seltsamen Wortbildungen wie Ermittelungen (V. 566) gezwungen. Befremdlich wirken außerdem im Umfeld jambischer Kunstsprache und durchaus altertümlicher Formulierungen wie "mit grausem Schritt" (V. 418) moderne Fremd- und Modewörter wie: Engagement (V. 48), Respekt, respektieren (Vv. 155, 647, 886), Souveränität (V. 380), senil (V. 402), registrieren (V. 411), der Kompetenteste (V. 440), egal (V. 443), Attentatsversuch (V. 540), Disput (V. 681), Indizien (V. 710, 1058), despektierlich (V. 883), brillant (V. 984), informieren (V. 1009), Dynastie (V. 1095), Saisons (V. 1137), arrangieren (V. 1476), akzeptieren (V. 1494). Eher selten sind grammatische Inkonzinnitäten, die sich weder aus der griechischen Vorlage ergeben noch durch das Vermaß erzwungen sind: "Die irreführend singt, die Sphinx, die zwang uns, was vor den Füßen liegt, / zu schaun, zu lassen aber, was im dunkeln [sic!] lag." (130 f.). (Auch die Vermeidung identischer Versenden dürfte das unkorrekte Tempus "liegt" nicht begründen, da der Reim kurz darauf in den Vv. 142 f. zugelassen wird: "Doch steht nun, Kinder, eilends von den Stufen auf! / Hebt ebenso das flehende Gezweig hier auf!")

Hätte Zingg nicht selbst Ansprüche gestellt, die einander gegenseitig ausschließen, so hätte das Gesamturteil gelautet: Eine zwar nicht völlig neue oder gar revolutionäre Übersetzung, aber eine ganz solide Leistung.

Titelbild

Reto Zingg (Hg.): Sophokles, König Ödipus. Neuübersetzung in Jamben.
Mit einem Geleitwort von Joachim Latacz.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2002.
118 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3476453049

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