Ein paar Nummern zu viel

Jens Christian Groendahls Roman "Lucca"

Von Robert HabeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Habeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An ihrem Namen kann man den Roman aufschließen. Sie heißt "Lucca" und mit ihr auch das Buch von Jens Christian Gröndahl, der in seiner Heimat Dänemark ein Bestsellerautor und literarischer Star ist. In seinem Roman, der 1998 erschien und nun auf deutsch bei Zsolnay vorliegt, verknüpft er zwei Lebensgeschichten miteinander. Die 32-jährige Lucca Montale wird nach einem schweren Autounfall in ein Krankenhaus südlich von Kopenhagen eingeliefert. Ihre Frakturen heilen, aber ihr Augenlicht hat sie für immer verloren. Dem verantwortlichen Arzt, Robert, beantwortet sie die Frage, wie es zu dem Unfall gekommen ist, mit einer 300 Seiten starken Erzählung. Sie beginnt Ende der Achtziger in Kopenhagen, Lucca ist eine Schauspielstudentin und gerade mit dem begehrtesten Mann der Theater-Szene zusammen, und endet mit dem Unfall auf der Autobahn, viele erotische Abenteuer später.

Lucca hat inzwischen ein Kind, wohnt in einem Haus auf dem Land, das sie selbst renoviert hat, hat ihre Karriere aufgegeben, um ihrer Familie ganz eine gute Mutter und Hausfrau zu sein. Dann kommt es, wie es zuvor schon öfter gekommen ist. Die Beziehung geht kaputt und mit ihr die letzte Illusion, die Lucca von einem in Gänze glücklichen Leben hatte. Denn darum geht es in Luccas gesamten geschilderten Vorleben - eine volle, glückliche, erfüllte Existenz wird gleichgesetzt mit einem geschlechtlich erfüllten Dasein. Das führt zu sehr sinnlichen, sehr schönen und melancholischen Beschreibungen, aber zu der reduzierten Gleichung, dass gutes Leben gleichbedeutend mit gutem Sex sei.

Die anderen 200 Seiten gehören Robert, dem geschiedenen Arzt, der seine Tochter nur am Wochenende sieht, sich in seine Verlassenheit eingräbt, Musik hört und sich ansonsten apathisch verhält. Hinter Roberts Geschichte und Leben lauern unzählige weitere Geschichten von unzähligen Trennungen und Ehebrüchen und Enttäuschungen. Geschieden sein ist der Modus vivendi der neunziger Jahre. Alle leben einsam und sehnen sich doch nach Gemeinsamkeit, die aber, gegründet auf Begehren, nie von Dauer sein kann.

Gröndahl führt in seinem Roman nun gerade vor, dass Begehren eine viel zu dünne und wankelmütige Motivation für ein gedeihliches Lebensglück ist, und insofern ist sein Buch hochgradig melodramatisch, aber dass seine Figuren keinen Ausweg aus ihrer Resignation finden, muss man auch dem Erzählentwurf des Autors ankreiden. Fast fünfhundert Seiten Zusammenkommen und Verlassenwerden umfassen einfach ein paar Nummern zu viel. Man liest ganz gern, sind doch alle Momente getragen von dem suggestiven Schwermutsgefühl, mit dem man sich selbst an seine Aventuren erinnert. Aber wie einem seine Jugendsünden im Nachhinein albern vorkommen, purzelt Lucca von einem Klischee ins nächste. Der Stiefvater, der ihr in der sinnlich-heißen Atmosphäre eines dänischen Sommerhauses an den Rock geht, die schwulen Italiener, die dem Reiz des dänischen Mädchens erliegen und sie in ihrem mondänen Haus wohnen lassen, der alte, geifernde Regisseur, der die junge Studentin betatscht - es ist wie mit ihrem Namen. Lucca entstammt der (natürlich gescheiterten) Beziehung eines Italieners und einer Dänin. Und aus Sehnsucht nach seiner Heimatstadt wurde die Tochter toskanisch benannt. Sehr schön, denkt man im ersten Moment, für diese Geschichte lohnt es sich, den Roman zu lesen. Aber dann hält man inne, denkt, muss es ausgerechnet des Nordeuropäers liebste Urlaubsstadt sein? Ist nicht schon der Akt der Namensgebung eine Nummer zu schwülstig? Würde dem Roman etwas fehlen, wenn das Mädchen "Sabine" hieße? Ein wenig weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen.

Titelbild

Jens Christian Groendahl: Lucca.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002.
477 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3552052003

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