Unter den Linden war die Welt einst in Ordnung

Günter de Bruyns nostalgische Spurensuche auf Berlins Vorzeigemeile

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Feststellung, dass Architektur mehr als nur die zweckfunktionale Außengestaltung eines Innenraums innerhalb eines größeren Rahmens ist, kann für sich keinen Neuigkeitswert mehr beanspruchen. Mehr als nur die Widerspiegelung der Macht kondensiert sich in der städtebaulichen Topographie auch immer der Zeitgeist und die der funktionellen Bedeutung dieser Orte geschuldeten geschichtlichen Ereignisse. Die Rekonstruktion dieser wechselvollen Gemengelage zieht immer die Frage nach der identifikatorischen Funktion der Orte für die Bewohner der Stadt und - wie im Falle des Boulevards "Unter den Linden" - auch des Landes nach sich.

Günter de Bruyn hat sich in seinem neuesten Buch auf eine in allen Kapiteln nostalgisch durchsetzte Spurensuche auf die Straße "Unter den Linden" begeben. Haus für Haus, vom Schlossplatz bis zum Brandenburger Tor, entsteht ein historisches Panorama zwischen persönlichem Architekturessay und flanierender Geschichtsrevue vom Dreißigjährigen Krieg über die Blütezeit Preußen, den Einzug Napoleons und die Gründung des Deutschen Reichs und den Boom der Kaiserzeit bis zur Gegenwart. Die knappen Kapitel widmen sich jeweils Gebäude für Gebäude den einstmals gebauten, ihrem Zweck entfremdeten, zerstörten, wieder aufgebauten und schließlich neu entdeckten Architekturen und ihren Bewohnern und Nutzern. Erstmals angedacht im 17. Jahrhunderts als Jagdweg in den Tiergarten, dem folgenden Ausbau bis 1740, entstehen bis Mitte des 19. Jahrhunderts die z. T. noch heute stehenden und genutzten Bauten (Oper, Universität, Bibliothek, Neue Wache, Kronprinzenpalais), bevor im Übergang zum 20. Jahrhundert die Automobile die Fußgänger und Kutschen verdrängen und die Allee zentralen Durchgangsstraße mit entsprechendem Verkehrsaufkommen wird.

Es ist eine launige Betrachtung, die den Sinn für Alltagsdetails verbindet mit den jeweiligen politischen Ereignissen, aber auch die persönliche Stimme des Autors immer deutlich hervortreten lässt. Vor allem mit Kommentaren zu dem Architektur(un-)verständnis der Berliner hält sich de Bruyn nicht zurück. Und so finden sich neben der vor allem die wechselvolle politische Geschichte Berlins spiegelnde Bemerkung, dass der "Lustgarten" den jeweiligen politischen und ästhetischen Bedürfnissen der Machthaber angepasst wurde, ebenso Diagnosen eines besonders in Berlin ausgeprägten Mangels an Ehrfurcht vor dem historisch Überkommenen, deren Ursache de Bruyn am Beispiel der Neugestaltung des Schlossplatzes diskutierend nicht nur in der Vielzahl von Neuberlinern sieht, sondern auch als Zeichen von Kulturlosigkeit wertet. Diese durchgängig eingenommene historistische Haltung spricht jeder Architektur, die ihre Ursprünge jenseits des beginnenden 19. Jahrhunderts hat, ohne jede weitere Begründung Bedeutung, Schönheit und Berechtigung ab. Fernab der Frage, ob man diese Haltung nun teilen mag oder nicht, und auch jenseits der vermeintlichen Notwendigkeit einer nachvollziehbaren Begründung dieser ästhetisch-geschmäcklerischen Positionen, stört vor allem die sich durch den Essay ziehende Inkonsequenz in Häufigkeit und Argumentation. Denn aus seinen Betrachtungen erwächst weder implizit noch explizit ein Psychogramm der Berliner oder der Deutschen. Es bleibt bei einem vielfältigen und zugegebener Weise mit leichter Hand erzählten Bilderbogen aus Architektur, Geschichte, Kultur und Politik entlang einer Straße, dessen Tiefenschärfe und Prägnanz jedoch nie die scharfsinnige Diagnose und die sprachliche Akkuratesse der von de Bruyn im Text immer wieder beschworenen Geister der klassischen Berliner Flaneure à la Heinrich Heine, Theodor Fontane oder Franz Hessel erreicht.

Titelbild

Günter de Bruyn: Unter den Linden.
Siedler Verlag, Berlin 2002.
192 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3886807894

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