Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich

Zweiundfünzig Prominente über Bücher, die ihr Leben prägten

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was würde fehlen, wenn es keine Bücher gäbe? Christa Wolf hat einst, um den subtilen Wirkungen von Literatur nachzuspüren, in ihrem Essay "Lesen und Schreiben" den Selbstversuch konsequent durchgespielt. Tabula rasa: "Beginne ich in mir abzutöten: das makellose, unschuldig leidende Schneewittchen und die böse Stiefmutter, die am Ende in den glühenden Pantoffeln tanzt [...] Ich kenne auch keine Sagen, habe mir nie gewünscht, an der Seite des hürnenen Siegfried dem Drachen gegenüberzutreten; niemals bin ich vor einem Rauschen im finsteren Wald erschrocken: Rübezahl! [...] Eulenspiegel kenne ich nicht, habe nicht gelacht über die Listen der Schwachen, mit denen sie die Mächtigen besiegen. [...] Weg mit dem ohnmächtig donnernden Zeus und der Weltesche Yggdrasil, weg mit Adam und Eva und dem Paradies. Nie ist eine Stadt mit Namen Troja um einer Frau willen bestürmt und eingenommen worden. Nie hat ein Doktor Faustus mit dem Teufel um seine Seele gerungen." Das Fazit nach nur wenigen Seiten ist eindeutig: "Nicht nur meine Vergangenheit ist mit einem Schlag geändert: meine Gegenwart ist dieselbe nicht mehr. Nun bleibt das Letzte zu tun: auch die Zukunft zu opfern. Ich werde niemals ein Buch lesen. Der Schrecken, der in diesem Satz steckt, berührt mich, den Nicht-Leser, nicht. Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich."

Freilich: Glaubt man Kulturpessimisten, die seit langem das Ende der Gutenberg-Galaxis verkünden, gibt es derartig unerschrockene Nicht-Leser im Zeitalter von MTV und Internet inzwischen en masse, und Bücher haben angeblich nur noch für eine verschwindend kleine Minderheit Bedeutung. Und doch: Ist eine literarische Tabula rasa wirklich möglich? Eine Kindheit ohne Schneewittchen denkbar? Oder werden sich nicht vielmehr Millionen von Menschen in Zukunft einmal verträumt an den Leserausch und zeitlose Stunden, die ihnen ein Zauberschüler mit Narbe auf der Stirn geschenkt hat, erinnern?

Der Bedeutung von Literatur fürs Leben spürt nun auf viel versprechende Weise ein Sammelband von Uwe Naumann, Programmleiter des Bereichs Sachbuch im Rowohlt Verlag, nach. Frei nach Alain de Bottons Titel "Wie Proust ihr Leben verändern kann" wurden 52 Prominente über Bücher, die ihr Leben prägten, befragt. Denn die Wirkung von Literatur, oft für die Gesellschaft bestritten und herabgespielt, ist beim Einzelnen, mal mehr, mal weniger offensichtlich: Bücher können einfach nur unvergesslich vergnügliche Stunden bereiten. Und sie können auch Wegweiser, Denkanstoß, Stolperstein und sogar Auslöser für wichtige Entscheidungen sein. So manche Überraschung verspricht Naumann denn auch im Vorwort den Lesern. "Oder hätten Sie zum Beispiel erwartet, dass der Sportjournalist Dieter Kürten die Bibel zum Buch seines Lebens erklärt, dass Petra Hammesfahr durch die Lektüre von Karl-May-Romanen geprägt wurde?"

Nein, das nicht. Und doch liegt hier auch ein Problem des Bandes. Die Idee ist zweifelsohne aussichtsreich, die Umsetzung allerdings leidet oft etwas an der Beliebigkeit der ausgewählten Autoren und dem unterschiedlichen Niveau der Beiträge. Über Ruth Klügers Vorliebe für Lyrik, Wilhelm Buschs Einfluss auf Robert Gernhardt oder Sigrid Löfflers Begeisterung für Shakespeare ist durchaus Interessantes zu erfahren. Aber wen um Himmels willen interessiert wirklich, was Reinhold Beckmann oder Jörg Kachelmann lesen?

Die Liste der 52 Prominenten scheint nach dem Prinzip der Heterogenität entworfen worden zu sein - was an sich auch reizvoll sein kann. Wenige Seiten auf Hans Joachim Schädlich folgt Smudo (Mitglied der Gruppe "Die Fantastischen Vier"), neben Walter Jens findet sich Leute-heute-Frau Nina Ruge. Dabei erscheint die Liste jedoch willkürlich und der Begriff "prominent" als möglichst weit gedehnt. Denn, ohne den Genannten zu nahe treten zu wollen, wem fallen unter dem Stichwort "Promi" auf Anhieb Namen wie Ulla Lachauer oder Gyula Trebitsch ein? So richtig mag man sich mit der Auswahl der Autoren einfach nicht anzufreunden, zumal der Verdacht nahe liegt, dass ein wesentliches Kriterium der "Prominenz" schlicht darin besteht, Rowohlt-Autor zu sein. Nicht nur Ulla Lachauer hat bereits ein Buch bei Rowohlt veröffentlicht, sondern auch Katharina Rutschky. Von Sportjournalist Dieter Kürten - immerhin durchaus mit größerem Bekanntheitsgrad - erscheinen im Sommer 2003 seine Erinnerungen "Drei unten, drei oben" bei Rowohlt, und auch Helmut Krausser hatte im Frühjahr einen neuen Roman im Programm.

Wer sich jedoch den Kopf nicht zu viel über die zugrunde liegenden Auswahlkriterien zerbricht, entdeckt bei der Lektüre durchaus die eine oder andere interessante Lese-Lebens-Geschichte. Die Ansätze der Beiträge sind abwechslungsreich: mancher berichtet von seiner - fast vergessenen - kindlichen literarischen Initiation, andere nutzen die Gelegenheit, ihr Lieblingsbuch vorzustellen. Natürlich werden Klassiker zitiert: Thomas Mann, Goethe (wenn auch eher unter anderen), Marcel Proust, Georg Büchner, Robert Musil. Aber auch der große Brockhaus kommt zu Ehren sowie Kinderbücher - und immer wieder Märchen. Klaus Bednarz und Ulla Hahn berichten beispielsweise von dem Eindruck, den Grimms Märchen in Kinderköpfen hinterlassen. "Auf Märchen konnte man sich verlassen wie auf die Grammatik. Dort gab es Falsch und Richtig, hier gab es Gut und Böse." Und das Gute siegt. So dachte jedenfalls die kleine Ulla - bis Hans Christian Andersens Märchen "Die kleine Meerjungfrau" ihre kindlichen Kategorien ins Wanken brachte.

Bücher können auch Leben verändern, ihnen eine neue Richtung geben. Margot Käßmann, Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover, wurde erst durch Martin Luther Kings Texte dazu gebracht, Theologie zu studieren. Der Schriftsteller Max von der Grün berichtet eindringlich von seinem Deutschlehrer, der im Dritten Reich Kopf und Kragen riskierte, als er seinem Schüler Max ein "verbotenes Buch" zusteckte. Stefan Zweigs "Sternstunden der Menschheit" wurde zu seiner eigenen Sternstunde: "Ich habe bestimmt nicht alles verstanden, aber eins begriff ich sofort, dass nämlich zwischen Karl May und diesem Autor Zweig ein Ozean lag und nicht ein Bach. Ich habe das Büchlein mehrmals hintereinander gelesen und war, wie man so sagt, hingerissen. Eine neue Welt tat sich vor mir auf [...] Stefan Zweig hat mich zur Literatur gebracht."

Aber auch die jugendliche Karl-May-Lektüre kann ungeahnte Folgen haben. Wie im Fall der heute erfolgreichen Krimi-Autorin Petra Hammesfahr. Als Zwölfjährige literarisch nur durch die Heile-Welt-Geschichten aus dem Bücherregal der Tante vorgebildet, fällt ihr "Winnetou" in die Hand. Dem Mädchen, das bislang nur wusste, "dass die Amerikaner mit Nylonstrümpfen, Schokolade und Zigaretten das deutsche Volk vor dem Hungertod bewahrten, nachdem sie es zuvor aus der Tyrannei befreit hatten", stellen sich plötzlich kritische Fragen zum Schicksal der Indianer, die "immer wieder aufs Neue belogen, betrogen, in Reservate gepfercht und wieder daraus vertrieben (wurden), niedergemetzelt, wenn sie aufbegehrten oder auch nicht". "Winnetou" weckt ihren Gerechtigkeitssinn und Widerspruchsgeist. Die vormals geliebten "Herz-Schmerz-Geschichten" erscheinen jetzt nur noch verlogen. "Ich wollte die Wahrheit."

Sicherlich: Nicht immer greifen Bücher so stark ins Leben ein. Manchmal bleibt "nur" eine brillante Formulierung im Gedächtnis hängen, beeindruckt das "Norddeutsche und die Farben" (Gabi Bauer über Siegfried Lenz "Deutschstunde"). Selten wird wohl der Autor eines Buches, das faszinierte, gleich geheiratet (wie im Fall von Elisabeth Mann Borgese). Bei guten Büchern aber findet sich immer etwas, das ein "Ich" ganz leise und unmerklich zu einem neuen "Ich" macht.

Uwe Naumanns Sammelband spürt so nicht nur der Wirkung von Literatur nach. Er verführt, im glücklichsten Fall, auch selbst zum (Wieder-)Lesen.

Titelbild

Uwe Naumann (Hg.): Verführung zum Lesen. Zweiundfünfzig Prominente über Bücher, die ihr Leben prägten.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
240 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3498046829

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