Im "Heißen Herbst" von Ost nach West, zwischen WG und Volksbühne

Emine Sevgi Özdamars Buch "Seltsame Sterne starren zur Erde"

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Seltsame Sterne starren zur Erde,/Eisenfarbene mit Sehnsuchtsschweifen,/Mit brennenden Armen die Liebe suchen ..." Diese Gedichtzeilen Else Lasker Schülers begleiten eine junge türkische Schauspielerin im Berlin der Jahre 1976 und 1977. Sie pendelt zwischen dem Osten und Westen der Stadt, aber auch zwischen Dänemark, Deutschland und nicht zuletzt - via Telefon und in Gedanken - ihrer Heimat, der Türkei, und den dort lebenden Verwandten. Die zeitgenössischen Ereignisse und politischen Entwicklungen in der Türkei und der Bundesrepublik tauchen in Gesprächen, einmontierten Schlagzeilen und den nach dem Schleyer-Attentat zunehmenden Durchsuchungen der West-WG auf, ohne jedoch in einer spezifischen Weise handlungstragend zu werden.

Es sind vielmehr die persönlichen Erlebnisse, der Weddinger Nachbarpuff, die Liebe zu einem in Dänemark lebenden Briten, die Probleme und Freiheiten in der West-WG zwischen Sex, Liebe und gemeinsamem Baden, die Begegnungen im Transit, die Visa-Probleme im kleinen und großen Grenzverkehr und natürlich die konkrete Theaterarbeit an der Ostberliner Volksbühne, die im Mittelpunkt des Romans stehen und weniger die 'großen' gesellschaftlichen Ereignisse und eine sich daran anschließende extreme Politisierung.

In ihrem neuen Buch "Seltsame Sterne starren zur Erde. Wedding - Pankow 1976/77" erlaubt uns die Wahlberlinerin Emine Sevgi Özdamar einen Einblick in ihre Zeit als Praktikantin an der Volksbühne unter der Ägide von Benno Besson und Matthias Langhoff. Die autobiografischen Berührungspunkte liegen auf der Hand und werden durch den vielfältigen Montagecharakter verstärkt.

Dabei bildet das Theater einen eigenen Kosmos aus. Unterstützt wird diese 'Welt in der Welt' durch die Skizzen und Zeichnungen, die die Ich-Erzählerin während der Inszenierungen macht und nun als Dokument die tagebuchartigen Probenabläufe begleiten. Das Leben im Osten und am Theater während der Proben bestimmt vor allem den zweiten Teil, während der erste Teil sich mit den experimentellen und revolutionären Entwürfen der WG im West-Berlin der 70er Jahre beschäftigt. Natürlich spielt auch der Sonderstatus Berlins eine entscheidende Rolle für die unterschiedlichen Lebensideologien: "Die junge Generation, die nach Westberlin abgehauen ist, kann sich nicht mit dem Kalten Krieg identifizieren...Wir haben keine Karriereabsichten. Wir wollen experimentell leben." Während viele der Mitbewohner-Biografien einen esoterischen Einschlag bekommen, entscheidet sich die Protagonistin für das Theater. Dieses Engagement und ihr Erfolg werden dann im zweiten, als Tagebuch geführten Teil, erzählt. Ihre Liebe zum Theater führt sie nach Begegnungen mit Heiner Müller und Benno Besson, den Ereignissen und Entscheidungen im Zuge der Biermann-Ausbürgerung und einer jungen Liebe als Assistentin von Besson nach Paris, wo der Roman schließlich auch endet.

Die ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs geborene, heute in Deutschland arbeitende Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar ist ein Multitalent. Sie lebt als gebürtige Türkin nicht nur zwischen zwei Kulturen, sondern hat sich schon früh einen Namen als Lyrikerin, Prosaautorin und Dramatikerin gemacht. Bereits 1991 erhielt sie den "Ingeborg-Bachmann-Preis" und zehn Jahre später den "Künstlerinnen- Preis" des Landes Nordrhein Westfalen. Damit aber nicht genug, verfügt sie auch über einschlägige praktische Erfahrungen als Schauspielerin und Theaterregisseurin.

"Seltsame Sterne starren zur Erde" erzählt von einem Transit im mehrfachen Sinne. Von dem ganz Realen zwischen West- und Ostberlin, aber auch von der Wanderin zwischen der alten und einer neuen Heimat, zwischen den menschlichen und alltäglichen Problemen und der intellektuellen und einen eigenen Raum für sich beanspruchenden Arbeit im Theater. Und letztlich werden die zwei Jahre in Deutschland auch zu einem individuellen Entwicklungsprozess der Protagonistin, an deren Ende die Arbeit in Paris steht. Dies geschieht sowohl auf der erzählerischen Ebene, als auch im Bereich der Materialanordnung ganz unaufgeregt und - abgesehen von den technischen und bürokratischen Hürden und Schwierigkeiten bei der Überwindung nationaler und internationaler Grenzen - ganz selbstverständlich. Persönliche Begegnungen und Erlebnisse werden zu wichtigeren Anlässen der Veränderung als politische Ereignisse, ohne dass diese gänzlich irrelevant werden würden. Vielleicht liegt hier, in der Betonung des individuellen Engagement und persönlichen Einstellung, neben der eigentlichen autobiografischen Note, die subtile Stärke des Buches. Dann wäre dies auch eine Entzauberung des Generationenmythos "Berlin der 70er Jahre". Vielleicht ist es aber auch nur eine persönliche Relativierung. Aber auch diese neue Perspektivierung stünde manchen Nostalgikern gut zu Gesicht.

Titelbild

Emine Sevgi Özdamar: Seltsame Sterne starren zur Erde.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.
248 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3462032127

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