Das totalitäre System Schule

Markus Orths erzählt von Angst, Jammer, Schein und Lüge im "Lehrerzimmer"

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Endlich, nach qualvollen Wochen des Wartens kommt der ersehnte Anruf vom Oberschulamt: Kranich ist drin, er bekommt eine Stelle als Studienassesor für Deutsch und Englisch! Doch die Freude währt nicht länger als bis zu seinem ersten Schultag, bis zum Einstellungsgespräch mit dem Direktor. Er wolle ihn in die Geheimnisse der Institution einweihen, erklärt der teuflische Direktor Höllinger, ohne die Wirklichkeit zu beschönigen. Der Neuling müsse wissen, dass das Schulsystem auf vier tragenden Säulen ruhe: auf Angst, Jammer, Schein und Lüge - und wie sich bald herausstellen wird, hätte er noch Hektik als fünften Grundsatz ergänzen können. Genau diese Prinzipien dekliniert Markus Orths in seiner schwarzen Satire auf die Katastrophen des deutschen Schulsystems drastisch durch. Nach knappen zwei Stunden Lektüre wird der Leser auch seiner letzten Illusionen über die Schule fürs Leben beraubt sein.

Vor allem werde gelogen, erfährt Kranich: "Die Lüge, sagte er gleich zu Beginn, das solle er verinnerlichen, sei das Elixier der Schule. Jeder hier an der Schule lüge. Er, der Direktor, zuallererst." Nur wenige Tage später wird Kranich gelernt haben, dass der Direktor nicht nur die Wahrheit gesagt hat, sondern dass alles noch viel schlimmer ist. Die Schule entpuppt sich als totalitäres System, das geradezu wie ein Überwachungsstaat organisiert ist. Dementsprechend gibt es Herrscher und Beherrschte, vom Direktor eingesetzte "Geheime Sicherheitsbeamten", Oberschulamtspolizisten und schließlich eine "Konspirative Gruppe" von 'Regimegegnern'. Diese leisten allerdings nur abends in der Kneipe einen geheimen, rein verbalen Widerstand - man will ja seinen Job nicht gefährden.

Wie also aus dem vermeintlichen Traumjob innerhalb weniger Tage ein Alptraumjob wird, erzählt Orths in einem furiosen Tempo, das sich bis zum überraschenden und absurden Finale durchgängig steigert. Auf dem Weg dorthin finden sich Bestechungen von Schulbuchverlagen, Diffamierungen und umfassende Verhöre des gesamten Kollegiums, zu dem Agenten des Oberschulamtes wie eine Sondereinheit des FBI oder des KGB hinzugezogen werden. Nur folgerichtig ist es da, dass von "Roten" und von "Weißen" die Rede ist.

Für subtile psychologische Porträts ist dabei natürlich kein Platz, vielmehr wird alles satirisch verzerrt. Literarisch ist das zwar nicht sonderlich virtuos, aber vielleicht gerade deshalb ungeheuer wirkungsvoll: Ein bisschen klingt das Räsonnement nach Thomas Bernhard-light, versetzt mit einer angstgesättigten Atmosphäre, die von Ferne an Kafka erinnert. Orths wesentliches Stilmittel ist dabei die Übertreibung. Werden die Strukturen der Schule zum Überwachungsstaat verzeichnet, so erscheinen die Lehrer als groteske, charakterlich vom System deformierte Figuren. Repräsentativ für ein Ensemble von verängstigten Versagern, denen die Wahrnehmung für die Grenzen zwischen beruflicher und privater Sphäre verloren gegangen sind, steht der armselige Kollege, der von seiner Frau rausgeschmissen wurde und nun jede Nacht im Medienkeller schlafen muss. Dabei hatte er doch alles für seine Ehe getan, hatte alles richtig gemacht: Methodenwechsel in das Liebesspiel eingebaut, auch die notwendigen Stillarbeitsphasen bedacht und schließlich alle Koseworte ergebnissichernd an eine Tafel im Schlafzimmer geschrieben.

Diejenigen, die in diesem Szenario des Schreckens kaum vorkommen, sind dem Titel "Lehrerzimmer" entsprechend ausgerechnet jene, die eigentlich im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen sollten: die Schüler. In den Blick geraten diese überhaupt nur, weil man Angst vor dem Schülerwissen hat, das nicht der eigenen "Lösungserwartung" entspricht. Aber Kreativität und Interesse der Schüler seien auch kein Ziel des Unterrichts, wie Direktor Höllinger dekretiert. Vielmehr gelte es, die Schüler "so in die Enge zu treiben, dass schließlich nur noch die einzig richtige Antwort übrig bleibe, die Lösung".

Orths, der selbst das Referendariat absolvierte und ein Jahr als Englischlehrer arbeitete, zeichnet ein Bild der Schule, das auf positive Züge ganz verzichtet und den allgemeinen Schrecken über die Ergebnisse von Pisa, das übrigens als "Große Studie" auch durch diesen Roman geistert, noch vertieft. Aus diesem schwarzen, abgrundtief negativen und dennoch äußerst komischen Szenario ragt keine einzige positive Gestalt heraus, niemand und nichts stiftet in diesem Roman Hoffnung auf eine Besserung der Zustände, auch nicht der Ich-Erzähler Kranich. Keine Woche hält dieser dem Druck des Direktors stand, schnell wird er zum Opportunisten und Mitläufer. Selbst wenn man den verzerrenden und übertreibenden Gestus der Satire herausrechnet, bleibt ein bestürzender Eindruck. Nimmt man diese Schilderung ernst, so kann man das etablierte Schulsystem nur noch zu Grabe tragen - und die Frage, ob der Autor irgendwann wieder in den Schuldienst zurückkehren wolle, erübrigt sich wohl von selbst.

Titelbild

Markus Orths: Lehrerzimmer. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
161 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 389561095X

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