Der Brückenbauer

In seinen "Briefen von 1917-1984" ist der deutsch-jüdische Gelehrte Ernst Simon neu zu besichtigen

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem 1919 veröffentlichten Essay "Unser Kriegserlebnis" schildert Ernst Simon (1899-1988), wie die Erfahrung des Antisemitismus und der Judenzählung in der kaiserlichen Armee ihn von seinem ausgesprochen assimilierten Hintergrund zum Zionismus führte, wie "aus einem entjudeten Ästheten" ein Zionist wurde: "Der Traum von Gemeinsamkeit war dahin, mit einem furchtbaren Schlage tat sich vor uns zum anderen Male die tiefe, nie verschwundene Kluft auf, die nicht durch gemeinsame Sprache und Arbeit, nicht einmal durch gemeinsame Zivilisation und Gesittung überbrückt werden kann. Unsere Lebenskraft [...] drohte zu zerbrechen [...], wenn sich nun nicht der zweite große Lebenskreis geöffnet hätte, dem wir entstammten und zu dem wir zurückkehrten: wenn nicht das Judentum seine Arme ausgebreitet hätte, um uns zurückzuempfangen. Wir waren nun dazu reif, das Judentum als etwas Positives zu erleben, nun endlich den Sinn unserer Leiden kennenzulernen und dafür belohnt zu werden. [...] Wir hatten unsere Heimat wiedergefunden, wir waren wieder Juden geworden. Wir waren nun Zionisten, zunächst ohne es zu wollen und zu wissen." Durch die während des Studiums in Berlin und Heidelberg geknüpften Freundschaften mit jüdischen Studenten wurde Simons zionistisches Engagement um eine jüdisch-religiöse Komponente bereichert. Es war der nachmalige Psychoanalytiker Ernst Fromm, damals selbst noch orthodoxer Jude, der Simon zu dem Frankfurter Rabbiner Nobel brachte, was seinen Lebensweg entscheidend beeinflussen sollte. Unter der Anleitung Nobels trat Simon den Weg zu einer jüdisch-religiösen Lebensweise an. Nach dessen frühem Tod im Januar 1922 war es das Vorbild Franz Rosenzweigs, das ihm half, sich - zunächst gegen den religiösen Anarchismus Martin Bubers - schrittweise einen jüdischen Lebensstil zu erarbeiten. Ernst Simon wurde später ein enger Mitarbeiter Rosenzweigs und Bubers, die in den zwanziger Jahren den Mittelpunkt der religiösen Renaissance des deutschen Judentums bildeten.

Im Januar 1923 trat Simon der Redaktion der 1916 von Buber gegründeten Zeitschrift "Der Jude" bei, in der er selbst etliche Beiträge veröffentlichte. Diese Tätigkeit kam im Herbst 1924 vor allem aufgrund finanzieller Schwierigkeiten zum Erliegen, woraufhin Simon - zunächst gemeinsam mit seinem Freund Leo Löwenthal - die Redaktion des "Jüdischen Wochenblatts" in Frankfurt übernahm, das er selbst als eine "gesetzestreue, aber antiseparatistische Zeitung" schilderte, die "dem Zionismus gegenüber neutral" sei. 1925 machte Ernst Simon das Oberlehrer-Staatsexamen in Deutsch und Geschichte und trat in den Schuldienst, nicht zuletzt um die gemeinsame Existenz mit seiner Frau Tatjana Rapaport auf eine solidere finanzielle Grundlage zu stellen als nur auf gelegentliche Einkünfte durch Vortrags- und publizistische Tätigkeiten angewiesen zu sein. Sobald er jedoch das Assessor-Examen hinter sich gebracht hatte, machte er sich an die Vorbereitungen zur Auswanderung aus Deutschland. 1928, zehn Jahre nach seinem Beitritt zur zionistischen Bewegung, emigrierte Simon schließlich, nunmehr ein praktizierender, wenngleich nicht orthodoxer Jude, nach Palästina, wo er später einen Lehrstuhl für Erziehungsphilosophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem innehatte.

Die nun vom dortigen Leo Baeck Institut herausgegebenen Briefe Ernst Simons stellen fraglos ein bedeutendes Zeitdokument des deutschen Juden dar, der sowohl mit der deutschen Kultur als auch mit der jüdischen Tradition eng verbunden war. Aus den hunderten von gesammelten Briefen wurde für die Publikation eine für die vielseitig begabte und sich für andere engagierende Persönlichkeit Simons charakteristische Auswahl getroffen, in der neben Simon viele andere bekannte deutsch-jüdische Gelehrte der Zeit, neben Buber, Rosenzweig und Fromm vor allem Hugo Bergmann, Siegfried Kracauer, Baruch Kurzweil, Gershom Scholem und Leo Strauss, ansichtig werden. Simon stammte aus einem weitgehend akkulturierten Elternhaus in Berlin. Als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg fand er zum Zionismus und beschäftigte sich fortan mit der kulturellen Überlieferung des jüdischen Volkes. Nach seiner Emigration wurde er Mitglied des 'Brit Schalom', einer Vereinigung, die sich um die Verständigung mit den arabischen Bewohnern des Landes bemühte. Nach der Shoa setzte sich Ernst Simon nicht nur intensiv für die Versöhnung zwischen Deutschland und Israel ein und übernahm von Buber den Auftrag, das christlich-jüdische Gespräch zu vertiefen, sondern engagierte sich auch - trotz massiver Anfeindungen - für die jüdisch-arabische Verständigung. Die hier erstmals in gedruckter Form vorliegenden Briefe zeigen Simons langen und unermüdlichen Versuch, Brücken zwischen den Menschen aufzubauen und für menschliche Werte und Würde zu kämpfen. Yehoschua Amir verweist in seinem Geleitwort zu Recht darauf, dass sich Simon mit seiner zum Teil bissigen Kritik weite Kreise, darunter auch Freunde und Weggenossen, zu Feinden machte, und diese Feindschaft wurde oft mit schonungsloser Schärfe ausgetragen.

Besonderer Erwähnung bedürfen die hier abgedruckten 15 erhaltenen Briefe an Else Lasker-Schüler (sie datieren von Januar 1940 bis Sommer 1943), die im April 1939 zu ihrem dritten Palästina-Besuch nach Jerusalem gekommen war. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhinderte ihre Rückkehr in die Schweiz, wohin sie 1933 aus Berlin vor der nationalsozialistischen Barbarei geflüchtet war. So verbrachte sie die letzten sechs Jahre ihres Lebens in Jerusalem, wo sie fest zum Straßenbild des überwiegend von deutschen Juden bewohnten Stadtteils Rechawia gehörte. Sie besuchte Gottesdienste in der liberalen Synagogengemeinde 'Emet weEmuna'. Da Simon zu besonderen Anlässen in 'Emet weEmuna' predigte, dürfte die persönliche Bekanntschaft zwischen den beiden von dort herrühren. Im Unterschied zu vielen anderen geistigen Menschen, zu denen die Dichterin in Jerusalem Kontakt suchte und fand, vermochte Ernst Simon, wie seine Briefe zeigen, hinter ihrer Exzentrik den empfindsamen und leidenden Menschen wahrzunehmen. Die Siebzigjährige verliebte sich in Simon und verfolgte ihn mit einer Leidenschaft und Zuneigung, deren er sich nur mit Mühe erwehren konnte. Sie ließ ihm Briefe zukommen, widmete ihm Gedichte, kam zu seinen Vorträgen, auch zu den hebräischen, die sie allerdings nicht verstehen konnte. An Simons Briefen lässt sich eindrücklich beobachten, wie er versuchte, sie behutsam an die Realität zu erinnern. Sachte erwähnt er immer wieder seine Frau, seine Kinder, denen die Dichterin kleine Geschenke zu machen pflegte, zog Parallelen zwischen der Dichterin und seiner Mutter, die auf ihrem Weg nach Palästina nur bis Triest gekommen war. Trotz aller Rücksichtnahme seinerseits kam es im Herbst 1942 zu einem heftigen Krach, von dem sich die Beziehung nicht mehr erholte. Er schrieb ihr noch einmal im Sommer 1943, nachdem ihr Gedichtband "Mein blaues Klavier" erschienen war, dann scheint er den Kontakt von sich aus abgebrochen zu haben. Sie dagegen schrieb ihm unentwegt; ihr letzter Brief datiert vom 12. oder 13. Januar 1945, zehn Tage vor ihrem Tod.

Diese ungleich zahlreicheren und interessanteren Briefe von Else Lasker-Schüler an Simon liegen noch unpubliziert in der National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem. Es ist ihnen zu wünschen, dass sie - ebenso wie die des regen Briefschreibers Simon - möglichst bald das Licht der Öffentlichkeit erblicken.

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Ernst A. Simon: Sechzig Jahre gegen den Strom. Briefe von 1917-1984.
Herausgegeben vom Leo-Baeck-Institut.
Mohr Siebeck, Tübingen 1998.
296 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3161470001

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