Spaziergänge in ein zweites Gesicht

Der Schriftsteller Marco Lodoli entdeckt ein unbekanntes Rom

Von Ron WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ron Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Man kann jeden Stein des imperialen Rom bewundert haben, jedes im Dunkel unserer unendlich vielen Kirchen verborgene Bild, aber man kennt die Stadt nicht wirklich, wenn man nicht zumindest einen Tag in der Pergola der Bar Marani im San-Lorenzo-Viertel vertrödelt hat." (Marco Lodoli)

Rom ist eine Anlagerung von Kontinenten. Vatikan, Kolosseum, Piazza Spagna oder Forum Romanum beherrschen die Stadt - oder das Bild von ihr, was im Grunde nichts anderes bedeutet. Die Ewige Stadt ist ein Kulturstättenmonstrum, voller Reputationsareale, Tummelplätze und Orte, an denen Geschichte und Kunst zur schnell abzuholenden Diktion gerinnen.

Doch die Siegerplätze sind nicht nur zu geschäftsmäßig kreischenden, sondern oft zu künstlichen Plätzen geworden, an denen sich vielleicht nicht mehr als ein Bilderbuch-Rom erfahren lässt. Marco Lodoli, der als Schriftsteller in der mit Jahrtausenden aufgeladenen "urbs" lebt, hat seine Stadt auf der Suche nach Inseln zwischen den Großkontinenten durchstreift. Nach Stätten, die deutlich römisch sind und (dennoch) dem Wunsch "nach einem entscheidenden Riß, nach Einsamkeit und Vertikalität" entsprechen.

Es ist verblüffend und aufregend, wie viel Stadt Lodoli im von Reisenden durchkreuzten Rom zu entdecken vermag. Die auf den ersten, manchmal auch noch auf den zweiten Blick unscheinbaren Inseln, die im Abseits der Filetstücke und Touristenfallen liegen, finden durch seinen Blick zu stillem Glanz. Es ist die Geduld des von den strapaziert-strapazierenden Zentren geplagten Städtebewohners, die ihn nach Neuland, nach Inseln suchen lässt. Und fündig zu werden, indem man weniger auf die Schminke als auf den Charakter eines Ortes vertraut. Lodoli weiß: "Die Schönheit ist nicht immer spektakulär, manchmal ist sie traurig, leise, unsicher. Bisweilen beginnt sie in uns wie eine brennende Sehnsucht nach irgend etwas, wie eine konfuse Frage, die Teil der Realität geworden ist."

Lodoli kennt die Besonderheiten eines Ortes oder findet diese im geduldigen, sich auf eine der scheinbar unspektakulären Zwischenstellen der Stadt einlassenden Betrachten. Ein gewöhnlicher Ölbaum im Gefängnis einer kleinen Piazza kann, wenn man sich Zeit und den Gedanken Raum gibt, zu eine Singularität werden, zu einem dynamischen Gewebe der Assoziationen.

Wo selbst der Kot der Stare zum Gegenstand des saloppen Plauschs wird, fühlen wir uns in Rom angekommen. Nicht als Reisende, sondern als einheimische Gäste, die wissen, "daß jede Insel uns vom Meer erzählt."

Gern nimmt man, mit ihm "auf der Suche nach dem verlorenen Staunen", die einfühlsamen Handreichungen des Flaneurs entgegen und nutzt das Ausweichen auf die Inseln seiner Stadt zum Hineinlernen oder (poetischen) Reload.

Die informellen Strips, die Marco Lodoli für die römische "La Repubblica" schrieb, führen aus den hektisch pulsenden Festländern des Attraktions-Tourismus in den Charme eines auch Römern oft unbekannten Roms. Zu Stellen, an denen andere und wichtige Facetten des Charakters der Metropole zu erleben sind. Und die einem für Momente selbst gehören können.

Im Rücken der "maddening crowd" tut Lodoli in wunderbarer Leichtigkeit Perspektiven und Kleinodien auf, die dazu veranlassen, die eigenen Schritte aus den Baedeckervorgaben zu lösen und sich auf den Weg zu machen etwa zur häßlichsten Statue der Renaissance. Oder gänzlich unbedrängt einen jeden Samstag gelüfteten Rubens aufzusuchen. Oder "das am wenigsten bekannteste Werk" von Borromini. Um dann vielleicht als milder Voyeur zum Hundebrunnen Papst Gregor XIII. zu spazieren, aufmerksamer an jeder bescheidenen Votivtafel vorbei.

Lodoli schafft es, aus uns Verliebte zu machen. Verliebt mit einem Rom aus "Insel[n] der zweiten Gelegenheit", die uns Lodoli auf eine zärtlich unterrichtende Weise nahebringt, ohne sie je partout weihen zu wollen.

Der Atoll aus römischen Inseln, den uns der Autor aufkartografiert, schenkt jedem Fernrömer oder Reisenden ein größeres Maß an Individualität. Und mit jeder neuen Impression wird Rom ein gegenwärtigerer Ort.

Titelbild

Marco Lodoli: Inseln in Rom. Streifzüge durch die ewige Stadt. Mit Photographien von Peter-Andreas Hassiepen.
Übersetzt aus dem Italienischen von Gundl Nagl.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
152 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-10: 3446202919

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