Die Frauen und das Meer

Ioanna Karystiani erzählt in "Die Frauen von Andros" vom Schicksal der an Land zurückbleibenden Seefahrerfamilien

Von Anne K. BetzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne K. Betz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andros, eine winzige Insel in der Ägäis. Malerisch, aber bitterarm und nicht in der Lage, seine Bewohner zu ernähren. Alle Gedanken der kleine Gemeinde, die hier vom Festland und dem Puls der Zeit abgeschottet lebt, sind darum auf das Meer gerichtet: Es ist Nahrungsquelle und Arbeitsplatz, die grauen, alles verschlingenden Wogen, Wind und Wetter bestimmen über Auf und Ab, über Liebe und Vergessen, über Leben und Tod. Das Meer ist das Schicksal.

Seit vielen Generationen ist das Leben aller, die hier geboren werden, vorbestimmt: Die Jungen fahren zur See, bis sie sie holt oder sie zu alt werden, die Frauen heiraten einen von ihnen, ziehen die Kinder zusammen mit ihren Müttern und Schwestern auf, besuchen die allsonntäglichen Gedächtnisfeiern zu Ehren der Verstorbenen, der eigenen und denen der Gemeinde. Jeder kennt ohnehin jeden: Hochzeiten, Taufen und Begräbnisse finden in trauter Regelmäßigkeit statt, man klatscht bei der Handarbeit oder beim Bäcker. Und sind die Männer dann mal da, hat die Zeit Wände zwischen den Ehepartnern sowie Vätern und Kindern entstehen lassen, die zu durchbrechen nicht jedes Mal gelingt. Das Leben von Männern und Frauen verläuft nach getrennten Wegen. Tiefe Gefühle wie Liebe sind wie ein Blatt im Wind, oder besser, wie ein kleiner Nachen im monströsen Meer: Ohne festen Halt, ohne jegliche Selbstbestimmung und von verschwindend geringer Bedeutung.

Ioanna Karystiani beschreibt das Leben in dieser Welt, erzählt vom Schicksal einzelner Personen und ganzer Familien, von den Sehnsüchten der Jüngeren, die davon träumen, vom scheinbar vorgezeichneten Weg abzuweichen, und denen der Älteren, dass ihre Lieben nur etwas länger am Leben bleiben mögen. Denn in der Regel wird persönliches Glück hinter das Materielle und Gesellschaftliche zurückgestellt: So geschieht es auch in der zentralen Geschichte um die Kapitänsgattin Miná und ihre Töchter Órsa und Móska: Durch die eiserne Heiratspolitik ihrer Mutter muss Órsa einen ungeliebten Mann statt ihrer Liebe Spíros heiraten, nur um diesen später als Ehemann ihrer Schwester wiederzusehen.

Die stille Qual Órsas durchzieht das ganze Buch, ohne ausgesprochen zu werden, so wie die Kälte zwischen der dominanten Miná und ihren Töchtern. Die Unausweichlichkeit der Bindung an Familie und das Leben auf Andros zeigt sich auf jeder Seite, in jeder Begebenheit, in jedem Einzelschicksal: Die junge Witwe Katerína, die es seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr erträgt, das Meer zu sehen - und die den Namen jedes Ertrunkenen in weißes Leinen stickt. Die Lehrerin Naná, die Postkarten von den Hotels sammelt, in denen ihre Schülerinnen ihre Flitterwochen oder seltenen Urlaube verbringen. Nikós Vatokoúsis, Órsas Ehemann, der genau weiß, dass sie der Hauptgewinn seines Lebens ist und nicht umgekehrt. Plastisch dargestellt sind auch die seelischen Grausamkeiten der Frauen untereinander, die einander einfach nicht ausweichen können und gezwungen sind, jeden Moment und jede Entwicklung im Leben der anderen hautnah mitzubekommen: So zum Beispiel die Zimmerdecke in Órsas Schlafzimmer, durch deren dünne Dielenböden sie jeden Laut dessen hört, was im Schlafzimmer von Móska und Spíros geschieht.

"Die Frauen von Andros", obgleich Karystianis erster Roman, schaffte gleich den Sprung auf die griechische Bestsellerliste, wo er sich Monate hielt, und wurde 1998 mit dem griechischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet. Es ist ein sehr stimmungsvolles Werk, dessen Erzählstil an die Thematik angepasst ist: In ruhigen, weitschweifigen Sätzen werden Ereignisse, Gedanken und Reden der zahlreichen Figuren unterscheidungslos miteinander verwebt, die Aufmerksamkeit des Lesers wird hier und dorthin gelenkt und präsentiert ihm die überaus minutiös, aber dennoch gefühlsbetont dargestellte begrenzte Welt von Andros, das durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts treibt und von den großen Sturmwinden wie dem zweiten Weltkrieg gebeutelt wird, deren Zeit aber trotzdem stillzustehen scheint. Der immense Anspruch, der dahinter steckt, das Schicksal einer ganzen Insel über einen großen Zeitraum zu vermitteln, macht zusammen mit dem ungewohnten Stil die Lektüre alles andere als einfach. Personen tauchen auf, ohne eingeführt zu werden, und verschwinden ebenso unkommentiert, jemand spricht, ohne dass gesagt wird, wer, und es müssen gar mehrere Absätze gelesen werden, bis man eine Szene in einen der Handlungsstränge einzuordnen vermag. Allein die Masse an Personen (immerhin wird eine ganze Gemeinde beschrieben) mit für das deutsche Sprachgefühl fremdartigen und so schwer merk- und unterscheidbaren Namen ist eine Hürde, die es erst einmal zu nehmen gilt. All dies führt dazu, dass man zwischendurch gerne einfach aufgeben und das Buch für immer beiseite legen würde - zu schwer, zu viel! Dies wird noch dadurch verstärkt, dass das Leben der Frauen nicht immer spannend ist und man sich bisweilen fragt, wohin die Geschichte eigentlich führen soll. Aber es lohnt sich, das Buch zu Ende zu lesen: Vieles, was man sich von Anfang an gefragt hat oder nie verstanden hat, wird aufgelöst, die Tragweite einzelner Ereignisse erst dann verständlich und dadurch umso beeindruckender.

Titelbild

Ioanna Karystiani: Die Frauen von Andros. Roman.
Übersetzt aus dem Griechischen von Norbert Hauser.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
293 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3518412299

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