Der Buchdruck in der frühen Echtzeit

Michael Gieseckes transmediales Projekt "Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft"

Von Martha HauserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martha Hauser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein Sinn dieses Buches liegt darin, die Forderung nach einer Orientierung auf den Dialog als eine logische Konsequenz der Mediengeschichte der letzten Jahrhunderte zu begründen." Mit dem letzten Satz des Buches beschreibt Michael Giesecke die generelle Zielstellung, die er mit seinem transmedialen Projekt - bestehend aus dem Buch, der beiliegenden CD-Rom und der Web-Site www.mythen-der-buchkultur.de - verfolgt.

Den Ausgangspunkt für Gieseckes Überlegungen bildet die "Krise der postindustriellen Gesellschaft" am Übergang zur Informationsgesellschaft. Unter Berufung auf verschiedene Initiativen, u. a. der Europäischen Kommission, diagnostiziert Giesecke das Ende der Industriegesellschaft "und - insofern die typographische Buchkultur mit der Industrieproduktion und Warenwirtschaft entstanden und verknüpft ist - [das der] Buchkultur". Gerade in der 500-jährigen Dominanz letzterer sieht Giesecke die maßgeblichen Ursachen für die Missstände in unserer "kommunikative[n] Welt". Monomedialität und Prämierung des Sehsinns - McLuhan lässt grüßen - führten zur Standardisierung unserer Wahrnehmung, die in dieser Form den zukünftigen Anforderungen einer Informationsgesellschaft nicht mehr gewachsen sei. Ausgehend von dieser Diagnose entwickelt Giesecke praxisorientierte Visionen für die Kultur des 21. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht dabei die Stärkung multimedialer, synästhetischer und vor allem interaktiver Kommunikationsstrukturen, die helfen soll, unterdrückte Medien und Wahrnehmungsweisen zu rehabilitieren und eben das "Jahrhundert des Gesprächs" einzuläuten.

Das Buch besteht aus zehn Kapiteln, die sich in drei Themenblöcke zusammenfassen lassen: einen systematischen, einen historischen und einen "visionären". Die systematisch angelegten Kapitel 1, 5 und 7 entfalten die Grundzüge einer medienökologischen Kommunikationstheorie, deren Clou in der Entwicklung eines dreidimensionalen Theoriedesigns liegt, das sich auf alle Phänomene der kommunikativen Welt anwenden lässt. Für die Beobachtung von Kommunikation, Kultur und Kulturgeschichte sind drei Parameter entscheidend: der epistemologisch-informationstheoretische, der topologisch-netzwerktheoretische sowie der ontologisch-spiegelungstheoretische. Beschreibt man die kommunikative Welt mit dem epistemologischen Parameter, so offenbart sich "ein Ensemble von unterschiedlichen Typen von Informationssystemen, die Informationen der Umwelt aufnehmen, verarbeiten und wieder abgeben". Aus Sicht des topologischen Parameters erscheint die kommunikative Welt "als ein Netzwerk unterschiedlicher Typen von Kommunikatoren, die mal so, mal anders miteinander verknüpft sind". Auf dem ontologischen Parameter schließlich tritt "eine Vielzahl von Medien, die auf unterschiedlichen Ebenen emergieren" zutage. Giesecke versteht sein 3D-Modell als metatheoretischen Ansatz und grenzt sich damit von einseitigen Erklärungsversuchen der empirischen Kommunikations- und der hermeneutischen Medienwissenschaften ab. Ein vollständiges Bild von den komplexen Phänomenen der kommunikativen Welt liefert daher auch nur die Zusammenschau der sich wechselseitig determinierenden Parameter (vgl. http://www.mythen-der-buchkultur.de/Animationen/komm-blume/komm-blume.htm).

In den historischen Kapiteln 2 bis 4 argumentiert Giesecke, Kulturgeschichte vorrangig als Geschichte von Informations- und Kommunikationsmedien zu verstehen. Bei den Analysen der "Buchkultur als Informationsgesellschaft", der "Entstehung des neuzeitlichen Wissensbegriffs" und der "Grenzen der typographischen Wissensproduktion" bleibt Giesecke jedoch einseitig dem epistemologischen Parameter verhaftet. Diese noch stark an sein Standardwerk "Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit" (1991) erinnernden Kapitel kumulieren in einer radikalen Kritik an den "Mythen und ambivalente[n] Leistungen" der Buchkultur (vgl. http://www.mythen-der-buchkultur.de/Texte/09_Oekuloge/Zusammenfassung/Mythen_und_Mystifikationen.htm). Mit der Herausarbeitung von elf Mythen und Mystifikationen, für Giesecke unverzichtbare "Akte reflexiver Selbstsimplifikation", verfolgt der Autor das Ziel, tradierte Mythen der Buchkultur aufzudecken und in der Folge durch "zeitgemäße" zu ersetzen. "Es geht darum, den Wiederholungszwang zu durchbrechen und nicht wieder ein einzelnes Medium [...] zur Wunschmaschine zu erklären".

Mit den Visionen der Kapitel 8 bis 10 beabsichtigt der Autor, das Gespräch "als Ursituation der kulturellen Synthesis" zu stärken. Nur so ließen sich die Individualisierungstendenzen der Buchkultur in Richtung einer "Ausdehnung des ,Wir'" überwinden. Für die praktische Umsetzung seiner Ideen dienen Giesecke vorrangig zwei Konzepte: die "cultural vision" und die "dialogue vision". Erstere, verstanden als "Strategie für die Zukunft der Gesellschaft", propagiert ein "Ausbalancieren von Ungleichgewichten im Verhältnis Mensch/Gesellschaft-Natur-Technik". Von der "dialogue vision" verspricht sich Giesecke eine "Förderung des Dialogs [sowie] synästhetischer Informationsverarbeitung". Zusammengeführt werden diese Konzepte im sog. "Ökulog", einem Kunstbegriff, der "sich aus den Komponenten Ökologie, Kultur und Dialog zusammensetzt" (vgl. http://www.mythen-der-buchkultur.de/Animationen/November/dreibeinsani.htm). Doch Giesecke begnügt sich nicht allein mit der Darlegung seiner medienökologischen Visionen, vielmehr bemüht er sich, aktiv beratend in die Entwicklung einzugreifen.

Zwar können die Kapitel wie oben vorgeschlagen regruppiert werden - der Aufbau des Buches lässt indes die nötige Stringenz vermissen. Vor allem mangelt es an Verknüpfungen zwischen den drei Themenblöcken. So stellen beispielsweise einzig die "11 Mythen der Buchkultur" die Verbindung zwischen dem theoretischen Teil und den Visionen her. Giesecke scheint sich dieser Problematik bewusst zu sein, wenn er zugibt, dass die einzelnen Kapitel "trotz ihrer Überarbeitung für den Druck unterschiedliche Phasen der Theorieentwicklung" widerspiegeln. Dennoch fragt man sich als Leser, warum zwischen die theoretischen Ausführungen des ersten und des fünften Kapitels ein historischer Block geschoben wurde, der gewiss durch seinen Reichtum an geschichtlichen Fakten und Details beeindruckt, der jedoch das Verständnis der komplizierten Theorie stark erschwert. Verwirrung stiftet nicht nur der Aufbau des Buches, Gieseckes avanciertes Theoriekonzept kränkelt auch an seiner sprachlichen Umsetzung. Vor allem der Begriffsapparat der zentralen 3D-Theorie scheint nicht ausreichend reflektiert. Wie sonst ließen sich die auftretenden Inkonsistenzen speziell bei den Grundbegriffen "Information", "Kommunikation" und "Medium" erklären? Einmal eingeführte Begriffe werden zudem inkonsequent verwendet und nicht selten durch diffuse Synonyme ersetzt. Dadurch entsteht nicht nur der Eindruck des Abschweifens sondern auch der inhaltlicher Wiederholung. Ziele und Ausgangspunkte verlieren sich im Nirgendwo oder in Details, die Zusammenhänge eher verdunkeln als erhellen. Generell finden sich illustrierende Beispiele allein in den historischen Textpassagen; wenn Giesecke auf die abstrakte Theorie zu sprechen kommt, fehlen diese leider gänzlich. Trotz alledem präsentiert der Autor seine Theorie im Gestus einer Supertheorie, ein Anspruch, der nicht zuletzt an die Systemtheorie erinnert. Folgt man Giesecke uneingeschränkt, dann sind alle gesellschaftlichen, kulturellen aber auch naturwissenschaftlichen Fragen Probleme der kommunikativen Welt, und mit seinem begrifflichen Instrumentarium zu behandeln. Dies birgt einerseits die Gefahr des Reduktionismus, offenbart andererseits aber auch eine verdächtige Nähe zur Weltformel.

Jenseits aller Kritikpunkte muss man Giesecke zugute halten, dass er die Überwindung interaktionsarmer, linearer und monomedialer Darstellungsformen anstrebt. Es mag symptomatisch für die festgefahrenen Strukturen der Buchkultur sein, dass er dem Leser seine Medizin gegen die überholten Mythen in Buchform verabreichen muss. Seine Homepage allein, die als integraler Bestandteil des Projektes ein umfangreiches Datenarchiv zur Verfügung stellt, wäre hier sicher nicht besprochen worden. Und das, obwohl sie in Aktualität und Anschaulichkeit dem Buch vieles voraus hat; vor allem Animationen und zusätzliche Schaubilder dienen einem besseren Verständnis der komplexen Theorien. Leider hat auch sie ihre Tücken. So erfordert beispielsweise der modulare Aufbau der Website eine lange Einarbeitungszeit. Zudem bleiben interaktive Angebote weit unter den technischen Möglichkeiten; ein Makel, der nicht zuletzt im Hinblick auf Gieseckes Forderung nach mehr Dialogizität überrascht. Nichtsdestotrotz, der transmedialen Konzeption und v. a. dem Versuch, wissenschaftliche Inhalte in neue Darstellungsformen zu überführen, gebührt großer Respekt.

Die vorliegende Publikation darf man nicht als abgeschlossene Arbeit (miss-)verstehen, sondern vielmehr als ein Projekt, welches aus der Theorie in die Praxis gewendet werden muss. Nur so kann der Leser die Paradigmen der Buchkultur gewinnbringend hinterfragen, die vielfältigen Denkanstöße offen diskutieren und/oder individuell ergänzen. Fest steht: Giesecke betritt Neuland - und zollt dafür nicht wenig Tribut. Die visionären Ideen wie die transmediale Konzeption sind mutige Schritte in einer über 500 Jahre hinweg verkrusteten Wissenschaftslandschaft, die Umsetzung jedoch wird den Ansprüchen nicht immer gerecht.

Titelbild

Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie mit CD-ROM.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
457 Seiten, 17,50 EUR.
ISBN-10: 3518291432

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