Ausuferungen deutscher Streitkultur

Unzeitgemäße Betrachtungen zur Debatte um Ted Honderichs Buch "Nach dem Terror"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Öffentlicher Antisemitismus darf in Deutschland nicht stattfinden, diese Maxime gehört zu Recht zu den unumstößlichen Gesetzen der politischen Kultur in Deutschland nach Auschwitz. Wer dieses Tabu bricht, verliert Ansehen und Amt. Ohne Sanktionen bleibt es jedoch in der Regel dann, wenn antisemitische oder fremdenfeindliche Vorurteile in weniger spektakulärem Rahmen, vor kleinerer Öffentlichkeit oder im Umfeld von Vereinen, am Stammtisch, beim alltäglichen sozialen Kontakt, artikuliert werden. Die Mobilisierung traditioneller Feindbilder und Vorurteile hält den alltäglichen Antisemitismus am Leben. Die Tendenz, solches öffentlich zu machen, ist in den letzten Jahren steigend, obwohl gleichzeitig Antisemitismus als individuelle Einstellung, als politisches, kulturelles, soziales Grundmuster in Deutschland nach den Erkenntnissen der empirischen Sozialforschung eher rückläufig ist. In den letzten Jahren begegnet jedoch das Nachdenken über Antisemitismus immer häufiger als integraler Bestandteil des politischen Alltags und des öffentlichen Diskurses in Deutschland.

Mit dem politischen Akt der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und der Gegenwärtigkeit des Antisemitismus/Antizionismus coram publico inflationäre Ausmaße angenommen. Sämtliche Streitdiskurse, die es in Deutschland nach der Wiedervereinigung gab - die Mahnmal-Debatte, die Goldhagen-Debatten, die Debatte um die Wehrmachtsausstellung, die Walser-Bubis-Debatte, die Finkelstein-Debatte, die Kontroverse um Martin Walsers Buch "Tod eines Kritikers" und auch die Auseinandersetzung um Jürgen W. Möllemanns antiisraelische Züge tragende Wahlkampfkampagne - begannen nicht nur im Reich des (nicht immer gehobenen) Feuilletons und setzten sich zum großen Teil in diesem fort, sondern scheinen heute in ihrer Ausuferung nicht mehr auf diese Art der 'Öffentlichkeit' verzichten zu können. Natürlich hat dieser Umstand sein demokratisch Gutes, zeugt er doch von der Etablierung einer veränderten politischen Streitkultur; dass aber gerade dies auch eine durch die immanente Logik kulturindustrieller Vermittlung angetriebene "Banalisierung des Bösen" zeitigen kann, hat der Hannoveraner Soziologe Detlev Claussen ("Grenzen der Aufklärung", 1994) dargelegt. Dessen Ausführungen wurden von Moshe Zuckermann ("Zweierlei Holocaust", 1998) dahingehend ergänzt, dass es bei den unterschiedlichen Streitdiskursen "nicht nur um das (an sich schon gravierende) Problem der durch inflationären Gebrauch entstehenden 'Veralltäglichung' des Unsäglichen bzw. der Trivialisierung des Monströsen durch die Zerredungsroutine [geht], sondern um die bewußte Anlegung der Debatte, die geplante Anzettelung des potentiellen publizistischen Eklats". Abgesehen also davon, dass das ehemals als unsäglich Begriffene, mehr aber noch als undarstellbar Vorgeführte so gut wie vollkommen enttabuisiert wurde, scheint es, als sei mittlerweile das Sagen und die Darstellung selbst zur Ware, zum strategisch geplanten Vermarktungsobjekt geworden. Claussen spricht bekanntlich von einem inzwischen entstandenen "riesigen Artefakt namens 'Holocaust', "an dem niemand mehr vorbeikomme, der etwas zu dem wirklichen Ereignis, der Massenvernichtung der europäischen Juden und ihren Folgen zu sagen hat: "Auschwitz ist im letzten Jahrzehnt hinter dem massenmedialen Produkt 'Holocaust' verschwunden".

Auffällig gerade an den letzten beiden mit dem Stempel des 'Antisemitismus' belegten Fällen - Martin Walsers Skandalroman "Tod eines Kritikers" (2002; vgl. literaturkritik.de 6/2002) und Ted Honderichs Traktat über die Moral des Terrors ("Nach dem Terror", 2003) - ist zweierlei: zum einen der bewusste und wohl kalkulierte Einbau des Skandals in den jeweiligen Text und zum anderen die sofortige Stigmatisierung der beiden - zugegebenermaßen unsäglichen - Pamphlete als "antisemitisch". Während der Suhrkamp Verlag, der beide Bücher publizierte, im Falle Martin Walsers keinerlei Veranlassung sah, sich von dem Text zu distanzieren, wurde das Buch des britisch-kanadischen Philosophen Honderich umgehend zurückgezogen, nachdem Micha Brumlik, der Direktor des Fritz Bauer Instituts zur Erforschung des Holocaust, ihm in einem in der "Frankfurter Rundschau" publizierten "Offenen Brief" (5. August 2003) in offenkundiger Unkenntnis weiter Passagen des Buches Antisemitismus vor- und damit den Motor einer neuerlichen Feuilleton-Debatte angeworfen hatte.

Gelesen hat Brumlik zumindest den Satz, der ihn an dem Buch erzürnte und der sich auf den letzten Seiten des Traktats von Honderich befindet. Dort findet man, dass der britisch-kanadische Moralphilosoph "keinen ernsthaften Zweifel" daran habe, "daß die Palästinenser mit ihrem Terrorismus gegen die Israelis ein moralisches Recht ausgeübt haben. Sie hatten ein moralisches Recht, das dem moralischen Recht etwa der afrikanischen Menschen in Südafrika gegenüber ihren weißen Sklavenhaltern und dem Apartheidstaat in nichts nachsteht. Diejenigen Palästinenser, die zu unvermeidlichen Tötungen als Mittel gegriffen haben, waren im Recht, zu versuchen, ihr Volk zu befreien; und diejenigen, die sich selbst für die Sache ihres Volkes getötet haben, haben sich in der Tat selbst gerechtfertigt. Das scheint mi[r] eine schreckliche Wahrheit zu sein, eine Wahrheit, die nicht nur das überstrahlt, was wir im Hinblick auf jeglichen Terrorismus im Gedächtnis behalten müssen, sondern auch den Gedanken an Abscheulichkeit und Monstrosität." Hingegen gilt: "Ebenso sicher war und ist der Staatsterrorismus und Krieg Israels gegen die Palästinenser ein Unrecht, ein fortgesetztes moralisches Verbrechertum." Nach Honderich lautet der neue kategorische Imperativ nach 9/11: "Handle jederzeit so, dass es die Maxime deines Handelns ist, unvermeidliche Tötungen auszuführen, um auf das Unrecht des Westens hinzuweisen und dein Volk zu befreien." Das ist zweifelsohne intellektueller Unsinn und üble Flugblattrhetorik, aber ist es zugleich auch antisemitisch, oder lassen sich, wie Jürgen Habermas in seiner Replik auf die Einwände Brumliks ("FR", 6. August 2003) gestelzt formulierte, nur einige Sätze darin, "wenn man sie ohne hermeneutische Nachsicht aus dem Zusammenhang der Argumente löst, auch gegen die Intention eines Autors [...] für antisemitische Zwecke verwenden"?

Nach Brumlik liege hier gerade deshalb ein Skandal vor, weil das Suhrkamp-Haus einen Jüdischen Verlag unterhalte, Adorno, den Zionisten Gershom Scholem und den israelischen Schriftsteller Amos Oz verlege. Auch hier darf sich der überraschte Leser angesichts der mitunter heftigen Kommentare des ins Feld geführten Gershom Scholem zum israelisch-palästinensischen Konflikt ein wenig verwundert die Augen reiben. Nun: Micha Brumliks Wort hat seit Jahren erhebliches Gewicht in den deutschen Streitdiskursen über Auschwitz: Als linksintellektueller jüdischer Deutscher kämpft er seit zwanzig Jahren erfolgreich gegen den Antisemitismus und Antizionismus der deutschen Linken und ist gleichzeitig über jeden Verdacht erhaben, die Politik Israels gegenüber den Palästinensern schönzufärben. Sein "Offener Brief" wirkt gleichwohl an manchen Punkten einigermaßen befremdlich, etwa wenn er in dem Buch von Honderich "Auffassungen über den Staat Israel und dem Zionismus" wahrnimmt, "die alles, was der inzwischen zu Tode gekommene Jürgen Möllemann von sich gegeben hat, bei weitem übertreffen". Nachdem der Suhrkamp Verlag mit Walsers "Tod eines Kritikers" einen "antisemitischen Roman" veröffentlicht habe, publiziere er jetzt "einen politisch-philosophischen Traktat, der antisemitischen Antizionismus verbreitet, dabei die Ermordung jüdischer Zivilisten in Israel rechtfertigt und so - gemäß der strengen moralischen Logik des Autors Honderich - eben dies Tun auch zur Nachahmung empfiehlt". Entschuldigend vermerkt Brumlik am Ende, dass er "diesen formlosen Weg" gewählt habe, weil er "kurz vor seinem Urlaub" stehe. Möglicherweise ist Micha Brumlik ja bereit, nach seiner Reise der Öffentlichkeit seine Staunen erregende Formulierung vom "antisemitischen Antizionismus" zu erklären.

Immerhin hat dieser Neologismus auch den Leiter des Feuilletons der "Frankfurter Rundschau", Harry Nutt, dazu angeregt, das Feld des Antisemitismus neu zu kartieren. In seinem Kommentar zur Honderich-Debatte ("FR", 8. August 2003) verweist Nutt darauf, dass der "Antisemitismus unserer Tage ein komplexes semantisches Phänomen" sei. An die Stelle des seit 1945 nachhaltig gesellschaftlich geächteten "programmatischen Antisemitismus, der für Juden nach 1933 geradewegs in die Konzentrationslager führte" sei jedoch ein "beiläufiger Antisemitismus" getreten, "der mit Verdacht und Ressentiments arbeitet und sich bisweilen auch als politisches Engagement zu tarnen weiß". Wenn Protagonisten des "beiläufigen Antisemitismus" ertappt würden, so Nutt weiter, reagierten sie nicht selten "mit dem Furor der Empörung". Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Honderich dieser neuen Kategorie zugerechnet wird, hat er es doch gewagt, in einer an die Goethe-Universität Frankfurt gerichteten Entgegnung auf Brumliks Brief diesen als Vertreter eines "Neuen Zionismus" zu bezichtigen und die Hochschule dazu aufzufordern, Brumlik aus seinen akademischen Ämtern zu entfernen. Anzumerken ist, dass der Begriff des "Neuen Zionismus" dem Vokabular der Finkelstein-Debatte entstammt und dazu dient, Akteure zu stigmatisieren, die im Dienste einer weltweiten "Holocaust-Industrie" tätig seien. Während Nutt diese Passagen als "Diffamierung Brumliks" wertet und zu Recht zu der Überzeugung gelangt, dass sich Honderich "auf einem akademischen Amoklauf" befinde, findet Brumliks sorgloses Hantieren mit Stigmata keinerlei Erwähnung.

Dass die über weite Strecken intellektuellen Plattheiten des Traktats "mit radikal-philosophischem Sound" (Nutt) undifferenziert als "Antisemitismus" gebrandmarkt werden, verdeutlicht die Schattenseiten der ebenso unsäglichen wie unsinnigen Debatten der vergangenen beiden Jahre (Walser, Möllemann, Honderich). Allzu schnell ist man bei der Hand, politisch inkorrekt anmutende Äußerungen gegen den Staat Israel mit dem Etikett des "Antisemitismus" zu belegen. Offenkundig wird man sich dabei nicht der Gefahr bewusst, dass ein inflationärer Gebrauch dieses Terminus eher gegenteilige Effekte zeitigt. Statt zur notwendigen Klärung der begrifflichen Dynamik beizutragen, was etwa seit Jahren vorbildlich vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung geleistet wird, desavouiert man diese Bemühungen durch öffentlich inszenierte und bewusst angezettelte Eklats, zerredet und trivialisiert man den Diskussionsgegenstand. Das konstatiert auch Harry Nutt, wenn er den "Fall Honderich" als "Lehrstück öffentlicher Debattenkultur" deutet, der "sich einreiht in die jüngsten Auseinandersetzungen um Äußerungen, Zeitungsartikel und Bücher, die sich zuletzt mit Namen wie Finkelstein, Möllemann, Karsli und Walser verbanden, wie unterschiedlich die jeweilige Sachlage auch immer sein mochte." Die Texturen solcher Debatten ähnelten einander, und wer eine initiiere, mache sich verdächtig, "den Schaum einer solchen Debatte genüsslich abschöpfen zu wollen". Mit erheblichem Bedauern muss man feststellen, dass diese Antisemitismus-Debatten den Eindruck provozieren, als handele es sich dabei um ein literarisches Spiel, das nach dem Muster kindlicher Abzählreime funktioniert. Schuld daran tragen alle bewussten und unbewussten Initiatoren dieser Debatte - von Honderich über den Suhrkamp Verlag und dessen blamierten Ratgeber Jürgen Habermas bis hin zu Micha Brumlik, dessen Suada völlig den Blick davor verstellt hat, dass Honderichs Traktat ein ebenso erbärmliches Machwerk ist wie etwa die Ausführungen Norman Finkelsteins zur "Holocaust-Industrie". Geradezu abenteuerlich mutet es aber an, wenn man, wie Nutt, konstatiert, dass der Text Honderichs erst deshalb "zu einem Antisemitismus-Fall" werde, "weil er einem Verlagshaus passierte, das sich auf Grund seiner geistigen Tradition ausdrücklich dem aufklärerischen Denken großer jüdischer Philosophen von Gershom Scholem über Walter Benjamin bis Theodor W. Adorno verpflichtet weiß". Darf man im Umkehrschluss annehmen, man hätte dem Text den Stempel "antisemitisch" verweigert, wenn er nicht bei Suhrkamp, sondern in einem anderen Verlag publiziert worden wäre? Zweifelsohne gehört Suhrkamp zu den Verlierern dieser Affäre, aber diese Annahme ist ungeheuerlich.

Noch einmal: Ted Honderichs "Nach dem Terror" ist genauso wenig antisemitisch wie Martin Walsers "Tod eines Kritikers". Es gibt in dem Buch keinerlei expliziten Judenhass, keines der klassischen, sattsam bekannten Ressentiments und Feindseligkeiten gegenüber dem Judentum ist zu finden, und nach meinem Dafürhalten liegen auch keine Anzeichen für die von Nutt ins Feld geführte Kategorie des "beiläufigen Antisemitismus" vor. Würde man Nutts Argumenten folgen und sie konsequent zu Ende denken, müssten jedes Jahr hunderte Bücher von diversen Verlagen zurückgezogen werden, das Publikum müsste, um nur ein Beispiel zu nennen, auf die im Erscheinen befindliche neue Thomas-Mann-Ausgabe im S. Fischer Verlag verzichten, da nicht wenige findige Germanisten zu der Überzeugung gelangt sind, Mann habe seinen Antisemitismus öffentlich verdrängt wie die Homosexualität, um im Verborgenen der privaten Sphäre desto mehr Lust daraus zu ziehen.

Allerdings, und darauf sei mit der gleichen Deutlichkeit hingewiesen, steckt Honderichs unsäglicher Traktat voller wütender Invektiven gegen Israel, die in der forschen und unverzeihlichen Rechtfertigung des Terrors gegen israelische Zivilisten kulminieren. Ich bleibe dabei: Das ist etwas anderes als Antisemitismus oder Antizionismus - aber intellektuell nicht weniger unredlich und blamabel. Dabei ist nicht der Nahost-Konflikt Honderichs Thema, sondern die Frage, ob Terrorismus prinzipiell moralisch zu begründen sei bzw. ob gar die Gewalttaten des 11. September 2001 moralisch erklärt werden könnten. Verklammert werden beide Bereiche durch die Frage, ob die Politik des Westens in Vergangenheit und Gegenwart gegenüber den arabisch-islamischen Ländern des Nahen Ostens im Allgemeinen und die Politik Israels und deren Unterstützung durch den Westen gegenüber den Palästinensern im Besonderen als Kontext für eine moralische Untersuchung zu 9/11 herangezogen werden könne. Honderich, so Habermas, wolle den Blick "auf den Entstehungskontext des Verbrechens vom 11.9. lenken". Das gelingt dem analytischen Philosophen allerdings nur bedingt. Nach Honderich waren die Gewalttaten des 11. September 2001 moralisch falsch, weil sie in keinem rationalen Verhältnis zu ihrer Motivation standen. Sie waren deshalb nicht falsch, weil sie terroristisch waren. Was aber im Umkehrschluss auch nicht bedeute, dass Terrorismus grundsätzlich zu rechtfertigen sei. Im konkreten Fall jedoch sei, so Honderichs Konklusion, das, was die israelische und amerikanische Regierung als palästinensischen Terrorismus deklariere, sehr wohl moralisch zu rechtfertigen.

Über langwierige und langatmige Ableitungsketten, die den Skandal der wachsenden globalen Armut begrifflich zu umkreisen suchen, wird der Text auf die Frage zugespitzt, wann Terror gegen politische und gesellschaftliche Ungerechtigkeit als legitim zu bewerten sei. Dabei bedient sich Honderich exakt desselben Deutungsrasters, das er vorher so vehement abgelehnt hat, als er die neue monopolare Weltordnung auf die amerikanische Spielart des Manichäismus (Wer nicht für uns ist, ist gegen uns) zulaufen sieht: Ohne in irgendeiner Form zu differenzieren, ist für Honderich der Westen Täter, die Dritte Welt Opfer. Völlig ausgeblendet wird die Frage, warum aus jungen saudi-arabischen Intellektuellen skrupellose Killer werden und wie das Phänomen des 'islamischen Terrorismus' in seinem Argumentationsrahmen zu erklären ist. Folgerichtig zieht Honderich daher die Bilanz: "Es ist die Wahrheit, wenn nicht sogar die einzige Wahrheit, daß wir unermesslich mehr getan haben als die Mörder vom 11. September und zwar über einen weitaus größeren Zeitraum hinweg." Der 11. September wird in dieser theologisch verbrämten Optik zur Strafe für die westlichen Unterlassungssünden. Völlig zu Recht sieht Stefan Reinecke in seinem Beitrag für die "taz" vom 8. August 2003 hierin den "Kern dieses Pamphlets". Es gehe nicht "um Politik, nicht um die Analyse, wie Reichtum und Armut zusammenhängen, sondern um eine mit rhetorischen Knalleffekten angereicherte Bußpredigt. [...] Es ist die Bankrotterklärung eines wohl protestantischen Blicks, in dem sich der 11.9. in die Koordinaten von Schuld und Sühne verschiebt."

Auf diesem Argumentationsniveau wird auch Israel zum Zeichen für die Schuld des Westens. "Im Sechstagekrieg von 1967", schreibt Honderich, "bemächtigte sich der jüdische Staat ganz Palästinas". Übertroffen wird diese Vereinseitigung nur noch durch die zynische Behauptung, "die Juden" schienen "als Hauptopfer von Rassismus in der Geschichte" von ihren Peinigern gelernt zu haben. Dadurch, dass der Moralphilosoph diese These auf seiner Website (www.ucl.ac.uk/~uctytho/terrforhum.html) noch weiter zugespitzt und mit Blick auf das nationalsozialistische Deutschland die Palästinenser als "die Juden der Juden" bezeichnet hat, wird es menschenverachtend. Geradezu grotesk ist auch die Behauptung, "so wie die Dinge liegen", sei "der Zionismus zu Recht von den Vereinten Nationen als rassistisch verurteilt" worden. Honderichs Anliegen ist es, den Nahost-Konflikt und den 11.9. als Menetekel zu lesen, die dem kapitalistischen Westen seinen unkorrigierbaren moralischen Defekt schonungslos vor Augen führen. Israel fungiert dabei als Metapher für die Gewalt, die der Westen dem Rest der Welt antut.

Wie wenig Honderich tatsächlich vom israelisch-palästinensischen Konflikt versteht, verdeutlicht der "ZEIT"-Artikel der Schriftstellerin und Vorsitzenden der Siegfried und Ulla Unseld Stiftung, die die Mehrheitsanteile an den Verlagen Suhrkamp und Insel hält, Ulla Berkéwicz vom 28. August 2003, nach deren Ausführungen der Text Honderichs von "Feindseligkeiten" geprägt ist: "Feindselig zu sein, bedeutet, nicht nur Lust, sondern Seligkeit mit dem Feindbild zu verbinden. Islamischer Fundamentalismus ist Feindseligkeit bis zum Anschlag." Problematisch jedoch scheint mir ihre Ableitung zu sein, warum das Buch "antisemitisch" sei: "Antiisraelismus und neuer Antizionismus scheinen etwas von dem Gefühl zu bescheren, das dem Wort Feindseligkeit immanent ist. Nach dem Ende der kommunistischen Utopie setzte die Suche nach einer Ersatzreligion ein. Das Vakuum, das entstanden ist, seit Gott aus dem westlichen Denken verbannt wurde, muss immer von neuem gefüllt werden. Heute ist der Islamismus die einzige weltweite Kraft, die den Suchenden eine umfassende ideologische Begründung anbietet. Er fasziniert durch die Massen, die er bewegt. Er stellt der Romantik eines Guerillakampfes um Heimat und Gemeinschaft die 'Künstlichkeit' des Staates Israel gegenüber. Israel steht für die globalisierte jüdische Kapitalmacht und das palästinensische Volk für die Befreiung von dieser Macht." Diese Passage verdeutlicht das Dilemma jedweder Wertung des Buches als "antisemitisch". Undifferenziert begegnen in kurzer Abfolge die Termini "Antisemitismus", "Antiisraelismus", "Antizionismus", was den Eindruck nahe legt, sie seien beliebig austauschbar. Daraus würde folgen, jede israelkritische Behauptung sei per se auch antisemitisch. Doch auch hierfür hat Ulla Berkéwicz einen Ausweg parat, der bedenklich nahe an die "Kollektivschuldthese" früherer Prägung heranreicht und jedem um die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit Bemühten die Zornesröte ins Gesicht treibt: "Niemand will, soll, darf mehr Antisemit sein. Also wird man Antizionist. Und nicht mehr nur am rechten Rand wird über den rassistischen Staat und dessen Terrorismus im Stil des Moralphilosophen schwadroniert, und nicht nur am rechten Rand findet Kollektivverurteilung statt, und nicht mehr nur am rechten Rand gehört es zum guten Ton, den Terror gegen Israel zu rechtfertigen. Älteren, denen, die sich noch immer als Opfer der Opfer fühlen, die ihren Opfern noch immer nicht vergeben können, an ihnen schuldig geworden zu sein, stellt sich erneut die 'Judenfrage', und Jüngeren, denen, die die Schuld im Rücken leichter tragen, stellt sich die 'Israel-Frage'". Schlechte Zeiten also für all jene, die den israelisch-palästinensischen Konflikt von zwei Seiten betrachten und auf monokausale Erklärungen verzichten.

Was bleibt von diesem unsäglichen Streitdiskurs? Nur Verlierer: der Suhrkamp Verlag, der den intellektuellen Unsinn, den der britisch-kanadische Moralphilosoph Ted Honderich in seinem Text "Nach dem Terror" entfaltet hat, trotz einer schon in den USA geführten Debatte über das Buch nicht erkannt hat; Jürgen Habermas, der dem Verlag das Buch empfohlen hat und in der hilflosen Verteidigung seiner Empfehlung nichtssagende Platituden von sich gab; Micha Brumlik, der zu Recht auf die Bedenklichkeiten des Buches aufmerksam gemacht hat, dabei aber sowohl mit der Form seiner Einlassung coram publico und der unscharfen und völlig überzogenen Wertung des Textes als "antisemitisch" den Eindruck erweckt hat, als handele es sich hierbei - wie schon bei Walsers "Tod eines Kritikers" - um die geplante Anzettelung eines potentiellen publizistischen Eklats; alle Teilnehmer am Diskurs über den Nahost-Konflikt, deren fundierte, auch radikale, aber keineswegs menschenverachtende Kritik an Israel zukünftig der Gefahr unterliegt, umgehend mit dem Stempel "antisemitisch" versehen und damit mundtot gemacht zu werden; und - in aller Bescheidenheit - auch der Rezensent, der sich stundenlang mit einem kaum erträglichen Pamphlet quälen musste, das niemals hätte publiziert werden dürfen, und darüber einen Text abzufassen hatte, der angesichts des zu beobachtenden circulus vitiosus unkontrollierter Stigmatisierungen selbst unter das Verdikt fallen könnte, "antisemitischem" Denken Vorschub zu leisten.

Titelbild

Martin Walser: Tod eines Kritikers.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
219 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518413783

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ted Honderich: Nach dem Terror. Ein Traktat.
Übersetzt aus dem Englischen von Eva Gilmer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
243 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3518124374

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch