Schöner ist doch unsereiner

Kommentar zur Gesamtausgabe der Werke von Wilhelm Busch nebst Klärung der Frage: War dieser Autor ein Antisemit

Von Robert GernhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Gernhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor mir liegen drei Bände. Jeder wiegt schwer – 4,5 Kilogramm –, jeder ist groß – 26 mal 30 Zentimeter –, und jeder ist dick – so um die 950 Seiten. Alle drei zusammen enthalten ein Werk, das nicht gerade im Ruche der Schwergewichtigkeit steht, obwohl ihm mittlerweile fast durchweg Größe attestiert wird: die Bildergeschichten von Wilhelm Busch in einer „Historisch-kritischen Gesamtausgabe“. Elf Jahre lang hat Hans Ries unter Mitarbeit von Ingrid Haberland an diesem Trumm gearbeitet. „Wissenschaft und Busch-Freunde verfügen mit dieser Ausgabe nunmehr über das verbindliche Referenzwerk“, schreibt Herwig Guratzsch im Vorwort nicht ohne Stolz, war er es doch, dem es 1991 als Leiter des Wilhelm-Busch-Museums zu Hannover gelungen war, „diese Ausgabe zu initiieren“. Ein beeindruckendes Werk. Neben „sämtlichen Bildergeschichten und Zeitschriftenbeiträgen“ enthalten die Bände Fußnoten und einen opulenten Kommentar- und Apparatteil. Es gibt unendlich viel zu sehen, zu lesen und zu lernen. Auch zu kritisieren?

Das soll eine Stichprobe klären, deren Ansatzpunkt ich Salomon Korn, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Frankfurts, verdanke. Er hatte mich im Vorfeld einer Matinee unter Hinweis auf Wilhelm Buschs „Fromme Helene“ gefragt, wie ich es denn mit Buschs Antisemitismus halte: „Und der Jud mit krummer Ferse, / Krummer Nas und krummer Hos‘ / Schlängelt sich zur hohen Börse / Tiefverderbt und seelenlos.“ Aber das sei doch ein Rollengedicht, gab ich zu bedenken, und zitierte nun meinerseits den Anfang des „Ersten Capitels“: „Wie der Wind in Trauerweiden / Tönt des frommen Sängers Lied“ – da rede nicht Busch, sondern eine Karikatur eines Stadt- und Fortschrittsfeindes. Doch dann nahm die Matinee ihren Lauf, und die Frage blieb im Raum stehen.

Wimmelnde Ameisen

Seither hängt die Antwort in der Luft, was die naheliegende Frage aufwirft, ob die „Gesamtausgabe“ etwas dazu beitragen kann, den Fall zu klären: War Wilhelm Busch ein Antisemit? Dreimal tauchen in seinen Bildergeschichten Juden auf, und da es der Zufall so gefügt hat, dass sich diese Auftritte auf je ein „Frühwerk“, ein Werk der „Reifezeit“ und ein „Spätwerk“ verteilen, werde ich meine Sonde in jeden der drei Bände senken können und müssen.

Im Jahr 1860 erschien in den „Fliegenden Blättern“ ein Beitrag, der rasch berühmt wurde und bis auf den heutigen Tag meist Busch zugeschrieben wird, das „Naturgeschichtliche Alphabet“. Der 28-Jährige war jedoch lediglich der Illustrator, nicht der Verfasser jener Nonsensverse, die mit A beginnen – „Im Ameisen haufen wimmelt es, / Der Aff‘ ißt gern, Verschimmeltes“ –, um folgerichtig mit Z zu enden: „Die Zwiebel ist des Juden Speise, / Das Zebra trifft man stellenweise.“ Die Gesamtausgabe verwendet viel Scharfsinn darauf, den Verfasser dieser Zeilen ausfindig zu machen – es war der Kunststudent Friedrich Carl Adams aus Detmold –; zum Buchstaben Z stellt eine Fußnote lediglich fest: „Die beiden Schlusszeilen werden im Büchmann unter den geflügelten Worten geführt.“

Ohne Buschs bewusst naiv bis pseudodilettantisch gehaltene Bebilderung wäre das „Alphabet“ vermutlich vergessen, wobei sein kauender Jude in einer Reihe steht mit Karikaturen nichtjüdischer Zeitgenossen: der des tumben Bauern, des unfähigen Jägers und des ruchlosen Metzgers. Die Ausgabe war in diesem Fall gut beraten, den Prozess wegen Antisemitismus gar nicht erst zu eröffnen.

Der zweite Fall findet sich in der bereits erwähnten „Frommen Helene“, 1872 erschienen und nach „Max und Moritz“ Wilhelm Buschs erfolgreichste Bildergeschichte. „Lenchen kommt auf’s Land“ ist das erste Kapitel überschrieben, und ein „frommer Sänger“ malt zunächst die Stadt schwarz in schwarz, bevor er das Gegenbild beschwört: „Komm auf’s Land, wo sanfte Schafe / Und die frommen Lämmer sind“. Die Stadt dagegen ist voller Wölfe. Da tut die „sittenlose Presse“ schon in früher Stund „sündliche Exzesse“ kund, da putzt man den „irdschen Leib“, um leichtfertigen Vergnügungen nachzugehen: Hier locken Offenbach-Operetten, da Konzerte, bei denen vor allem die „Wogebusen“ der Besucherinnen fesseln. Schweigen will der Sänger, doch von Strophe zu Strophe wird er lauter: „Schweigen will ich von Lokalen, / Wo der Böse nächtlich praßt, / Wo im Kreis der Liberalen / Man den heilgen Vater haßt.“ Und in dieser verworfenen Gesellschaft von Nichtstuern – „Auf dem Walle, auf der Gasse / Wimmelt man zum Zeitvertreib“ – geht wenigstens einer Geschäften nach: der Jude, „tiefverderbt und seelenlos“.

Diesmal nehmen die Fußnoten der Gesamtausgabe den zu erwartenden Antisemitismus-Vorwurf auf und zitieren einen Kronzeugen, Golo Mann, der den Erzähler für, einen „Frömmling“ hält. Das Fazit: „Der Antisemit ist eine von Buschs Spottfiguren […]. Er ist nicht Busch selber.“ Aus eigener leidvoller Erfahrung weiß ich, dass Rollengedichte, zumal ironisch getönte, stets Gefahr laufen, in falsche Kehlen zu geraten: Um so eindringlicher möchte ich in diesem Fall mit Golo Mann auf Freispruch von Antisemitismus plädieren.

Aber gilt das auch für den dritten Casus in Buschs Werk? 1882, zwanzig Jahre nach dem „Naturgeschichtlichen Alphabet“, zehn Jahre nach der „Frommen Helene“, taucht erneut ein Jude in einer von Buschs Bildergeschichten auf, und diesmal steuert der nicht nur eine Zeichnung bei, wie im „Alphabet“, oder lediglich Worte, wie in der „Frommen Helene“ – er lässt den Juden in Wort und Bild agieren. „Plisch und Plum“ heißt das Bilderepos, in welchem die Knaben Paul und Peter die jungen Hunde Plisch und Plum vor dem Ertränktwerden durch den bösen Kaspar Schlich retten, was für den Hausstand ihrer Eltern Papa und Mama Fittig erst einmal üble Folgen hat: Geschirr geht zu Bruch, Beete und Wäschestücke werden verwüstet. Richtig ins Geld aber geht es im fünften Kapitel, das mit den Worten anhebt: „Kurz die Hose lang, / Krumm die Nase und der Stock, / Augen schwarz und Seele grau, / Hut nach hinten, Miene schlau“ hier folgt die Zeichnung dieses Protagonisten, unter welcher das Fazit gezogen wird: „Das ist Schmulchen Schievelbeiner. / (Schöner ist doch unsereiner!)“ Diesem Juden nun zerreißen Plisch und Plum auf offener Straße und ohne erkennbaren Anlass die Hosen, worauf er Herrn Fittig zur Kasse bittet und der sich ins Unabänderliche schickt: „Er muss zahlen. Und von je / That ihm das doch gar so weh.“ Ein Fall, der nicht mit dem Alibi „Rollengedicht“ aus der Welt geschafft werden kann. Hans Ries nimmt ihn entsprechend ernst. Umfangreiche Fußnoten und fünf lange Spalten widmet er dem Stichwort „Schievelbeiner und die Frage einer antisemitischen Gesinnung Buschs.“ Zwei Sachverhalte werden.detailliert daraufhin untersucht, ob sie auf Antisemitismus schließen lassen: die Zeichnungen und die begleitenden Worte. An beiden scheinen Zeitgenossen keinen Anstoß genommen zu haben. Buschs Verleger Basserrmann teilt seinem Verwandten Paul Neff zu „Plisch und Plum“ mit: „Es kommen einige Figuren darin vor wie der Jude, ein Engländer, eine aetherische Dame, die vortrefflich gelungen sind.“

Eine unschuldige Reihung, die nach dem Judenmord der Nazizeit nicht mehr möglich ist. Joseph Kraus tritt denn auch als Ankläger auf, er fühlt sich bei der Zeichnung an „antisemitische Hetzblätter“ erinnert. Georg Gustav Wieszner nimmt den Zeichner in Schutz: „Buschs Juden sind Kollektivgestalten, wie seine Schneider; Lehrer, Maler, seine Bürger als Spießer erscheinen.“ Hans Ries vermittelt, indem er daran erinnert, dass auch Karikaturen ihre Geschichte haben: Der Jude sei in den „Fliegenden Blättern“ eine häufig auftretende, weitgehend tendenzfreie Witzfigur mit leicht erkennbaren, stereotypen Merkmalen gewesen, analog zum „beschränkten bayrischen Bauern oder dem preußischen Touristen“. Er folgert:

„Die Vorstellung, die Juden könnten oder sollten aus dieser allgemeinmenschlichen Revue ausgeblendet werden, ist ihrerseits, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen, rassistischer Natur und aus der Sehweise des 19. Jahrhunderts heraus nicht denkbar.“ Auch Thomas Theodor Heine, selber Jude, habe für den „Simplicissimus“ vergleichbar stereotype Judenkarikaturen gezeichnet, wenn er Kritik an Bankiers oder Börsianern üben wollte. Dass nach dem „Stürmer“ und dem Holocaust keine stereotypen Judenkarikaturen mehr gezeichnet werden könnten, bedeute nicht, dass sie bereits vor dem „Stürmer“ hätten unterbleiben sollen – so weit, so einleuchtend.

Doch mit Buschs Worten tut sich auch Ries schwer. Zu „Augen schwarz und Seele grau“ bemerkt er in einer Fußnote, dass die „zeugmatische Kombination hier als diffamierende Aussage angelegt“ sei, die aber nur auf den ersten Blick den Juden meine. Denn der eingeklammerte Zusatz „Schöner ist doch unreiner“ mache sich mit „offenkundiger Ironie“ über jene, lustig, die sich dem Juden überlegen dünkten. Zustimmend zitiert er Dieter P. Lotze, der unterstellt, dass wir es hier wie bei der „Frommen Helene“ „mit der Verspottung des zeitgenössischen antisemitischen Zerrbildes zu tun“ haben.

Oh wie kalt ist sein Gemüth

Eine Analogie, die mir nicht einleuchtet. Der vom frommen Sänger beschworene namenlose und gesichtslose Jude ist nicht mit dem gezeichneten und benannten Schmulchen Schievelbeiner zu vergleichen. Busch hat was gegen diesen schlauen Zeitgenossen, wenn auch nicht zu übersehen ist, dass er gegen andere seiner Protagonisten noch viel mehr hat: „Oh wie kalt ist sein Gemüth!“ Damit ist der Möchtegernhundchenertränker Kaspar Schlich gemeint, den zum guten Schluss der Neid dahinrafft, als er mit ansehen muss, wie ein Engländer die beiden gelehrigen Tiere für hundert Mark abkauft. Ein Antischlich ist war Busch ohne Frage. Ein nicht ganz so ausgeprägter Antischievelbeinerismus ist ebenfalls nicht zu übersehen.

Lässt der auf Antisemitismus schließen? Doch was kennzeichnet den? Ries legt die Latte sehr hoch: „Zu einem Antisemitismus, der den Begriff erfüllt, gehört konsequente Judengegnerschaft, ja ein Judenhass, eine Gesinnung mithin, die auf Herabwürdigung, Diffamierung, Entrechtung, Verfolgung, die bis zum Pogrom zielt. Davon kann bei Busch nicht im Mindesten die Rede sein.“ Letzterem stimmt Golo Mann zu, zugleich aber senkt er die Latte. Ein „arger Antisemit“ sei Busch nicht gewesen: „Natürlich war er es ein klein bisschen, wie zu seiner Zeit alle Deutschen und alle Franzosen auch.“ Zu guter Letzt aber führt Golo Mann noch einmal eine schlichte Tatsache ins Feld: „In seinen Erfolgswerken kommen die Juden nicht überdurchschnittlich oft vor, sondern unterdurchschnittlich selten.“ Genau gesagt: Dreimal in zwanzig Jahren ungezählter komischer Bilder, witziger Bilderbögen und bissiger Bildergeschichten, in welchen Busch unzählige seiner Figuren, die von ihm so bezeichneten „Papierhanseln“, in unsägliche Katastrophen getrieben hat – ein richtiger Antisemit hätte reichlich Juden darunter gemischt. Und das wären mit Sicherheit keine Opfer wie Schievelbeiner gewesen, sondern Täter. Also wie nun: War er einer, der Busch? War er es ein bisschen? Gar nicht? Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.

Titelbild

Wilhelm Busch: Da grunzte das Schwein, die Englein sangen.
Herausgegeben von Robert Gernhardt.
Eichborn Verlag, Frankfurt 2000.
350 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3821841850

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Titelbild

Wilhelm Busch: Die Bildergeschichten. Historisch-kritische Gesamtausgabe in drei Bänden.
Herausgegeben von Herwig Guratzsch und Hans Joachim Neyer, bearbeitet von Hans Ries unter Mitarbeit von Ingrid Haberland.
Schlütersche Verlag u. Druckerei, Hannover 2002.
2812 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 387706650X

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